Vergessene Orte in Erinnerung rufen – Teil 1

Artikel von Josh Baylor
27. November 2016

In der Missionswissenschaft wird oft darüber diskutiert, wie viel dafür investiert werden soll, das Evangelium an Orte zu bringen, an denen es bereits verkündet worden ist. Sollten wir uns nicht lieber Völkern zuwenden, die das Evangelium noch nie gehört haben?

Vielleicht hilft uns ein Bild, das Problem besser zu verstehen. Die Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo sind schon eine Weile her. Die Rodelbahn ist dort inzwischen mit Ästen und Wurzeln überwuchert und mit Graffiti beschmiert. Das Tauchbecken ist leer und marode, die Sitze im Stadion sind kaputt. Orte, die einst mit Würde, Jubel und Feierlichkeiten erfüllt waren, sind nun leer und verwüstet. Sportplätze, an denen die großartigsten Athleten der Welt gegeneinander antraten, sind jetzt moderne Ruinen. Es brennt keine Flamme mehr. Es sind Olympische Dörfer ohne Menschen. Was war, ist vergessen.

Denken wir nicht auch an vergessene Orte, wenn wir über den Missionsbefehl und das „Hingehen in alle Welt“ reden?

Es gab schon mal eine Zeit, in der Jesus in Europa als der Sieger proklamiert wurde. Damals hat man seinen Namen gefeiert, wurde das Leben vieler Menschen durch ihn verändert. Vielleicht nicht überall, aber das Evangelium wurde verkündet und etliche Menschen vertrauten auf Jesus. Traurigerweise haben heute viele Kirchen in den ehemals christlichen Gegenden das Evangelium vergessen. Vaughan Roberts, ein anglikanischer Pfarrer aus Oxford (England), hat Europa einmal als „Schnittblumen-Gesellschaft“ bezeichnet. Zwar ragen viele Kirchen aus dem Boden und gibt es kirchliche Kalender und Feiertage. Aber die Kirchen sehen nur schön aus, sie haben keine Verwurzelung in Jesus. Es brennen keine Fackeln mehr, es sind stolze Bauwerke, aber die Menschen fehlen. Was war, ist vergessen.

Oft meinen wir deshalb, dass wir uns anderen Regionen zuwenden sollen. Ungefähr so: Europa hatte bereits die Chance, das Evangelium anzunehmen. Jetzt schütteln wir den Staub von den Füßen und wenden uns anderen Gegenden zu, um dort die Frohe Botschaft zu verkündigen. Wir neigen zu einer heimlichen Verachtung der Menschen in Europa, weil wir denken, sie haben den Reichtum Christi verschwendet. Wir wenden uns von Orten, an denen das Evangelium schon einmal verkündigt wurde, ab, um uns strategisch bisher unerreichten Orten zuzuwenden.

Ich glaube, dass so ein Verhalten mit einer missionsgeschichtlichen Amnesie vergleichbar ist. Wir haben vergessen, wie kompliziert die Dinge historisch gelaufen sind. Erfreulicherweise ist Gott treu und vergisst nicht.

Ich möchte mit den folgenden Punkten zeigen, dass Gott ein missionarisches Herz hat und verschiedene Menschen an allen möglichen Orten erreichen will. Sowohl dort, wo Menschen das Evangelium schon einmal gehört haben als auch dort, wo es noch nie verkündet wurde.

Gottes Erlösungswerk, die Zurückgebliebenen und die Rückbesinnung auf Jesus

Wenn wir den biblischen Leitfaden der Geschichte verfolgen, sehen wir, dass Gott immer wieder Bünde mit den Menschen geschlossen hat; vom Garten Eden im Buch Genesis an bis zum Neuen Jerusalem in der Offenbarung. Kurz, nachdem Adam und Eva sich vollständig von Gott abgewandt und in Sünde gefallen sind, macht Gott das größte Versprechen aller Zeiten. In dem sogenannten Protoevangelium (1Mose 3,15) kündigt er jemanden an, der kommen und der Schlange den Kopf zertreten wird. Das ist die Verheißung eines Erlösers, der die Menschen wieder mit Gott in Ordnung bringen wird. Noah, ein treuer Mann, hat gut zugehört, als Gott die Sintflut ankündigte. Er rettete die Lebewesen in seiner großen Arche und sah den ersten Regenbogen, der Gottes Treue bezeugte. Trotzdem vergaß er, wie treu Gott gewesen ist. Ebenso hat Abraham, der doch so viel mit Gott erlebt hat, vieles nicht verstanden. Ähnlich war das auch bei Mose. Aber Gott ist den unzuverlässigen Menschen immer wieder nachgegangen und hat sie an sein Werk erinnert. Wieder und wieder sprach Gott über seine Bünde und bekräftigte sie. Letztlich sandte er Jesus, seinen Sohn, als die letztgültige Erfüllung aller dieser vorhergehenden Bünde. Die Menschen waren untreu, Gott aber war treu.

Viele von uns haben bestimmt schon mal davon gehört, dass die Bibel Gottes Volk als die „Übriggebliebenen“ bezeichnet. Von Noah und seiner Arche an bis zum alten Simeon, der im Tempel den kleinen Jesus in seinen Armen hielt, hat Gott immer Übriggebliebene erhalten. Es sind einige wenige Leute zurückgeblieben, in denen sich eine Art Hoffnung auf die Erneuerung und Wiederherstellung des Volkes kristallisierte. Wir können diese Abfolge sehr gut in den Büchern der Richter und Könige erkennen. Gottes Volk rebelliert. Dann aber erinnert sich das Volk, bereut und kehrt um. Hin und wieder gab es eine richtige Familienwiedervereinigung samt substantieller Erneuerung. Gelegentlich gab es so eine Abfolge in einem relativ kurzen Zeitrahmen, in anderen Fällen dauert es lange. Immer wieder rettet Gott Sein Volk. Er vergisst es niemals.

Auch in der Kirchengeschichte können wir von Jerusalem an bis heute eine Bilanz ziehen. Wir mögen davon halten, was wir wollen, aber müssen zugeben, dass Jesus, sein Name und sein Ansehen, immer wieder eine große Rolle gespielt hat, obwohl wir auch hier eine Geschichte des Versagens vor uns haben. Die Kirche hat immer wieder versagt, aber Gott war treu. Die zwei Sakramente der Kirche, die Taufe und Abendmahl, erinnern die Gemeinde an Gottes Treue. Jedes Mal, wenn wir jemanden aufgrund des Glaubens taufen, nehmen wir an der Verkündigung der Guten Nachricht teil, die die Gemeindeglieder sehen und hören. Das ist eine sinnliche Erinnerung durch das Wasser. Wenn die Gemeinde Abendmahl feiert, verkündigt sie, dass Jesus am Kreuz starb und seinen Leib und sein Blut hingab, um Sünder zu retten. Das ist eine sinnliche Erinnerung durch den Wein. Beide Feiern zeigen, dass bei allen Auf’s und Ab’s Gott Menschen vom Tod zum Leben beruft, sie in eine lokale Gemeinde einfügt und bis zur Wiederkunft Jesu für sie sorgen wird. Missionare, Märtyrer und Bewegungen werden entfacht, lodern und sterben. Die Gemeinde wächst trotz alledem. Gott erhält sie. Er vergisst niemals.

Das Überdenken unserer Reichweite

Wir wollen Jesus konsequent nachfolgen und seine Botschaft bis ans Ende der Erde tragen. Wir möchten, dass alle Menschen die Gute Nachricht hören. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder alles überall tut. Gott gebraucht bestimmte Personen auf spezifische Weise für verschiedene Zwecke. Beispielsweise kann Gott eine einzelne Person oder Gemeinde dazu berufen und ausrüsten, eine unerreichte Volksgruppe durch einen besonderen Eintrittspunkt oder in einem bestimmten Zeitrahmen zu erreichen. Aber so eine Unterscheidung zwischen „Unerreichten“ und „Erreichten“ ist normalerweise für die „Missionswissenschaft“ nicht zwingend und vielleicht sogar schädlich.

Ja, wir lieben Schubladen und vielleicht auch die Schubkästen für unerreichte Völker und vergessene Orte. Für strategische Planungen und konsequente Missionsstrategien können sie da durchaus hilfreich sein. Manchmal sind unsere Schubladen aber auch nur Sprungbretter für unsere eigenen menschlichen Visionen, welche – wenn wir in die Weltgeschichte zurückschauen – für die Erfüllung von Gottes Plan keine so große Rolle spielen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir keine Strategien brauchen. Es bedeutet vielmehr, dass wir unsere Strategien dem großen Heilsplan Gottes unterordnen. Gottes Wille muss der Rahmen für unsere Visionen sein. Wie? Indem wir uns von seinem Plan packen lassen und uns mit unseren unterschiedlichen Gaben zur Verfügung stellen und von seinem Geist leiten lassen. Wir brauchen für unsere Strategien Gottes Blickwinkel.

Die Welt so zu sehen, wie Gott sie sieht, heißt natürlich auch, dass wir uns den Unerreichten zuwenden. Wir gehen zum Beispiel auf die Flüchtlinge zu, helfen ihnen praktisch und verkündigen ihnen das Evangelium.  Schon vor der Flüchtlingskrise gab es in Europa das große Potential, den Rest der Welt zu erreichen. Gott hat Menschen auf dem Festland eine Last für andere Kontinente auferlegt. Afrika ist nicht der einzige dunkle Ort. Die ganze Welt ist dunkel und braucht das Licht Jesu. Sogar Europa. Es kann durchaus sein, dass wir Europa besser erreichen, indem wir die unerreichten Flüchtlinge, die hierher kommen, erreichen. Möglicherweise werden die namhaftesten und effektivsten Missionare, die Amerika im 21. Jahrhundert erreichen, Flüchtlinge, Immigranten und Familien aus Europa sein. Das Evangelium ist so mächtig, dass es sowohl die Unerreichten als auch diejenigen, die die Gute Nachricht schon mal abgelehnt haben, erreichen kann. Uns wurde ja nicht befohlen, nur zu unerreichten Völkern zu gehen. Gott sendet uns zu allen Völkern zu jedem Teil der Welt (Mt 28,18–20). Die Gemeinde traf sich zuerst in Jerusalem und breitete sich dann schrittweise allerorts aus (Apostelgeschichte 1,8). In diesen Bahnen können wir weiterdenken und dabei auch andere hilfreiche Kriterien in den Blick nehmen.

Wie wäre es, wenn wir auch Kriterien wie Bevölkerungsdichte oder die Qualität der Treue und der erbrachten Frucht in den Blick nehmen? Das klingt zwar simpel, kann aber recht kühn sein.

Freunde aus meiner Heimat, aber auch Leute in der Stadt, in der ich lebe, zerbrechen sich ihren Kopf darüber, was wir hier eigentlich tun. Wir sind doch in Zentraleuropa, im Geburtsort der Reformation vor 500 Jahren. Brauchen wir mehr Kirchen? Die Regierung in Deutschland kümmert sich um die Grundbedürfnisse der Menschen, indem sie hohe Steuern erhebt. Den Menschen geht es eigentlich gut. An den öffentlichen Schulen wird sogar oberflächlich Religion gelehrt. Die Kinder wachsen mit der Lehre über Christentum und der Bibel auf, zusammen mit anderen Religionen und lebensnahen Ethiken. Schulfeiern finden gelegentlich sogar in den nahegelegenen katholischen oder landeskirchlichen Kirchen statt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Menschen verstehen, worum es im christlichen Glauben geht. Als eine katholische Referentin meinen Sohn, der in der fünften Klasse ist, zu den Wundern Jesu unterrichtete, fragte sie, wie Jesus wohl die Wunder vollbringen konnte. Die Leute starrten die Lehrerin mit großen Augen an. Mein Sohn sagte schließlich: „Jesus konnte Wunder tun, weil Jesus Gott ist!“ Die Lehrerin lachte und mit Spott in ihrer Stimme sagte sie: „Das ist doch lächerlich. Er war ein Zauberer!“. Die anderen Schüler schlossen sich der Meinung der Lehrerin an. Es gibt keinen Grund, Mitleid mit meinem Sohn zu haben. Die Situation war für ihn sicher nicht einfach. Aber er konnte mit vier einfachen Worten seiner Klasse erklären, dass Jesus Gott ist. Ja, selbst im Land Luthers gibt es viele Menschen, die das Evangelium hören und verstehen müssen. Auch hier wollen und müssen wir Jesu Namen über die ganze Erde unter allen Völkern erhöhen (Jesaja 26,8). Bis wann? Bis sie ihre Knie beugen und jede Zunge bekennt, dass Jesus der Herr und Erretter ist. Solange Menschen in dieser Welt ohne das Evangelium sterben und geboren werden, hören wir nicht auf.


Patterson

Josh Baylor ist als Gemeindegründer von der Sojourn Community Church (Louisville, KY) für das International Mission Board (SBC) in das Rhein-Ruhr-Gebiet ausgesandt wurden. Er ist seit 15 Jahren glücklich mit Meghan verheiratet. Sie wohnen in Düsseldorf mit ihren zwei Söhnen und Töchtern. Der Artikel erschien zuerst unter: www.theupstreamcollective.org. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.