Martin Luther: Reformer der pastoralen Seelsorge

Artikel von Bob Kellemen
26. Oktober 2017

Angetrieben von einem tiefen pastoralen Anliegen nagelte Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Am selben Tag sandte Luther einen Brief an Kardinal Albrecht, Erzbischof von Mainz, in dem er seine pastorale Motivation für den Dienst der Reformation erklärte. Luther begann den Brief, indem er seine Sorge um seine Herde ausdrückte – viele von ihnen reisten zu dem Dominikaner Johann Tetzel in dem Versuch, Freiheit von Schuld zu erkaufen. Er schrieb: „Ich beweine die große Verwirrung unter den Leuten, die von diesen Predigern ausgeht, und die sie überall unter dem einfachen Volk verbreiten. Anscheinend glauben die armen Seelen, dass wenn sie Ablassbriefe gekauft haben, dann können sie sich ihrer Errettung gewiss sein.“1

Der Reformator sprach den Kardinal direkt an. „O großer Gott! Die Seelen, die deiner Hand anvertraut sind, ehrenwerter Vater, werden so zu Tode gebracht. Für all diese Seelen hast du die größte und allezeit zunehmende Verantwortung. Deshalb kann ich über dieses Thema nicht länger still bleiben.“2

Bild: 9Marks

Es wird deutlich, dass Luther als Pastor und Hirte Luther als Reformator inspirierte.

Luthers pastorale Motivation für die Reformation

Der Historiker John T. McNeil bemerkte richtig: „Die deutsche Reformation nahm in Fragen der Seelsorge ihren Anfang“.3 R.C. Sproul stimmt dem zu: „Es ist richtig, dass die 95 Thesen an die Kirchentür zu Wittenberg in Latein geschlagen wurden, um eine theologische Diskussion unter den Fakultätsmitgliedern der Universität anzuregen. Aber warum wollte Luther eine solche Diskussion überhaupt anregen? Einfach gesagt, es war ein pastorales Anliegen“.4 Der Historiker Theodore G. Tappert führt weiter aus:

Martin Luther wird normalerweise als weltbewegende Figur gesehen, die sich dem Papst und dem Reich widersetzte, um eine Reformation der Lehre, Anbetung, Organisation und des Lebens der Kirche einzuleiten und die einen nachhaltigen Einfluss auf die westliche Zivilisation hatte. Es wird manchmal vergessen, dass er auch – und eigentlich vor allem – ein Pastor und Seelenhirte war. Es ist deshalb gut, dass wir uns daran erinnern, dass die Reformation in Deutschland begann, als Luther sich um seine eigenen Kirchenmitglieder sorgte, die glaubten, dass sie ihrer Errettung sicher sein konnten, wenn sie einen Ablassbrief gekauft hatten.5

Luther fühlte tief mit den Ängsten seiner Gemeinde mit, weil er, nicht lange bevor er seine Thesen anschlug, selbst mit den Dämonen des Zweifels über Gottes Gnade und Vergebung gerungen hatte. In seinen eigenen Worten: „Obwohl ich als Mönch tadellos lebte, fühlte ich, dass ich ein Sünder vor Gott mit einem außerordentlich beunruhigtem Gewissen war. Ich konnte nicht glauben, dass irgendetwas, das ich dachte oder tat oder betete, Gott gefallen konnte“.6 Der Gedanke, einem heiligen Gott von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, bewirkte in Luther ein lebenslanges Grauen und die permanente Befürchtung, dass er nie Frieden mit Gott finden würde (was oft als seine Anfechtung bezeichnet wird). Luthers qualvolle persönliche Suche nach einem gnädigen Gott verband sich mit einer pastoralen Fürsorge für seine verwirrte Herde. Sein Biograph Heiko Oberman drückte es folgendermaßen aus:

Es ist wesentlich, zu erkennen, dass Luther ein Reformator wurde, der weites Gehör und Verständnis fand, indem er die abstrakte Frage eines gerechten Gottes in eine existentielle Suche verwandelte, die den ganzen Menschen einschließlich seiner Gedanken und Handlungen, Leib und Seele, Liebe und Leid betraf…. Die Unruhe in Luthers Seele, die er als höllische Qual beschrieb, hatte weitreichende Konsequenzen. Der Reformator ging seinen eigenen gefahrvollen Weg, nicht nur als biblischer Theologe, sondern auch als psychologisch erfahrener Pfarrer.7

Luthers persönliche Suche nach der Gnade Gottes regte nicht nur seine religiöse Erfahrung an, sondern motivierte auch seine Reformationsagenda und seine pastorale Seelsorge.

Luther der Pastor und der persönliche Dienst des Wortes

Während wir Luther oft als Theologen sehen, der zum Reformator wurde, sah er sich selber als Pastor, der nicht nur von der Kanzel den Dienst des Wortes durch die Predigt verrichtete, sondern auch persönlichen Dienst des Wortes betrieb – durch Seelsorge. Luther glaubte, dass jeder Pastor ein Seelsorgespender sein sollte.

In seinen Vorlesungen über den Galaterbrief identifizierte er die Berufung des Pastors: „Wenn ich ein Diener des Wortes bin, dann predige ich, tröste die Zerschlagenen und spende die Sakramente“.8 Luther spaltete nie Predigen und Seelsorge voneinander ab; beide waren evangeliumsbasierte, wortbasierte Dienste.

Luther drückte dieselbe Botschaft in einem Brief an Lazarus Spengler vom 15. August 1528 aus. Nachdem er über das Spenden der Sakramente sprach, skizzierte Luther die Berufung und Rolle eines Dieners Gottes: „Sie haben die Pflicht zu predigen, zu trösten, Absolution zu erteilen, den Armen zu helfen und die Kranken zu besuchen, sooft diese Dienste benötigt und verlangt werden“.9

Luther der Pastor und die Genugsamkeit der Schrift

Für Luther entspricht die Genugsamkeit der Schrift der Genugsamkeit der Erzählung über Christi Sieg im Evangelium. Er schaute auf die Schrift und Seelsorge durch die Linse des Kreuzes. In seiner Freiheit eines Christenmenschen – Luthers konzentriertester Schrift über die Anwendung des Evangeliums auf das tägliche Leben – gibt Luther eine Zusammenfassung, wie man das Evangelium anwenden kann:

Fragst du aber: Was ist denn das Wort Gottes, das eine so große Gnade gibt? Und wie soll ich es gebrauchen?, dann lautet die Antwort: Es ist nichts anderes als die Predigt von Christus, die geschehen ist, wie sie das Evangelium enthält. Die soll so sein und geschieht auch so, dass du deinen Gott zu dir reden hörst, dass all dein Leben und deine Taten nichts vor Gott sind, sondern dass du mit all dem, was in dir ist, ewiglich zugrunde gehen musst. Wenn du das recht glaubst, wozu du verpflichtet bist, dann wirst du an dir selbst verzweifeln und du wirst bekennen, dass das Wort Hoseas wahr ist: O Israel, in dir ist nichts als dein Verderben, allein in mir aber steht deine Hilfe. Damit du aber aus dir und von dir, das ist aus deinem Verderben herauskommen kannst, dazu stellt er seinen lieben Sohn Jesus Christus vor dich hin und lässt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: Du sollst dich in denselben mit festem Glauben ergeben und frisch auf ihn vertrauen. So sollen dir um dieses Glaubens willen alle deine Sünden vergeben und all dein Verderben überwunden sein, und du sollst gerecht, wahrhaftig, befriedet, recht sein; und alle Gebote sollen erfüllt und du sollst von allen Dingen frei sein. Wie Paulus` Röm. 1 sagt: Ein gerechtfertigter Christ lebt nur von seinem Glauben. Und Röm. 10: Christus ist das Ende und die Vollendung aller Gebote, für die, die an ihn glauben.10

Wie wächst ein Christ in der Gnade? Indem wir das Wort – die Erzählung über Christi Sieg – auf unser Leben anwenden. Nochmal Luther: „Darum soll das von Rechts wegen aller Christen einziges Werk und Übung sein, dass sie das Wort und Christus recht in sich bilden, solchen Glauben stetig üben und stärken. Denn kein anderes Werk kann einen Christen machen“.11

Nach Luthers Werken über die Psalmen, den Römer- und Galaterbrief, und nachdem er seine 95 Thesen angeschlagen hatte, war der Kern seiner theologischen Entwicklung abgeschlossen. Ein anderer Lutherbiograf, James M. Kittelson, fasste es so zusammen:

Was übrigblieb war, den Einfluss auf das tägliche, christliche Leben auszubuchstabieren. In diesem Zusammenhang war die erste und oberste Aufgabe, die Gewissen der Treuen zu trösten. Sein eigenes Gewissen war durch die religiöse Welt, in der er aufgewachsen war, gequält worden, und nun wollte er andere vor dieser Marter warnen. Er begann auf einem Pfad der Reform als Tetzels Ablasshandel seine Lehre als Professor konterkarierte und sein Anliegen als Pastor bedrohte. Nun stießen ihn die gleichen Anliegen zurück ins Gefecht, obgleich von Ferne. Indem er die praktischen Konsequenzen seiner Theologie erklärte, übernahm er Verantwortung für alles, was er früher gesagt und getan hatte.12

In seinen öffentlichen Schriften und seinen privaten Briefen, wo er geistlichen Rat gab, „reduzierte Luther wiederum alles im Leben eines Christen auf die Versprechen Gottes, die ein Vertrauen auf seine Gunst hervorrufen“.13 Dieses Versprechen wurde sichtbar in dem Christus des Kreuzes, der für immer die Frage beantwortet: „Hat Gott ein gutes Herz?“ Das ganze Leben Luthers, sein Dienst und seine Briefe, in denen er geistlichen Rat gab, wollten auf das Leben von treuen Christen die Wahrheiten der Rechtfertigung und Versöhnung durch Glauben allein und durch Gnade allein anwenden.

Im Jahr 1955, vor unseren modernen Debatten darüber, ob Seelsorger göttliche Offenbarung und menschlichen Verstand integrieren sollten, brachte Tappert Luther: Letters of Spiritual Counsel heraus. Tappert besteht darauf, dass „eine Untersuchung der gesammelten Werke Luthers deutlich macht, dass Seelsorge nicht nur Anwendung externer Techniken war. Sie war integraler Bestandteil seiner Theologie“.14 Er erklärt, dass zur Zeit Luthers die Menschen verschiedene Wege verfolgten, um Weisheit für das tägliche Leben zu bekommen. Luther lehnte die Annahme der mittelalterlichen Scholastik ab, dass Weisheit für ein Leben in der zerbrochenen Welt durch Verstand oder Logik gefunden werden kann. Er distanzierte sich auch von der Theorie der mittelalterlichen Mystiker, dass Gott und sein Wille durch Selbstverleugnung und Ekstase gefunden werden können.

Was ist aber dann die genugsame Quelle geistlicher Fürsorge? Tappert beantwortet diese Frage: „In Luthers Augen ist geistlicher Rat daher immer vor allem um den Glauben besorgt – ihn zu nähren, zu stärken, zu gründen und zu praktizieren – und weil ‚Glaube durch die Predigt kommt‘, nimmt das Wort Gottes (oder das Evangelium) den zentralen Platz darin ein“.

Einfach gesagt, Luther gründete seine Theologie der Seelsorge auf die Genugsamkeit von Christi Evangelium der Gnade. Das Ziel von Luthers Seelsorge „ist nicht, Menschen dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun – zu fasten, auf Wallfahrten zu gehen, ein Mönch zu werden, ‚gute Werke‘ zu tun, selbst das Sakrament zu empfangen – sondern es geht vielmehr darum, dass Menschen Glauben haben und die Liebe ausüben, die aus Glauben kommt“. Tappert erfasst es prägnant: „Der Dienst an notleidenden Seelen ist ein Dienst des Evangeliums“.15

Die Erzählung vom Sieg des Evangeliums ist genug für ein Leben in unserer gebrochenen Welt

Nichts davon war rein theoretisch für Luther. Er lebte und atmete die Schrift in seinem Leben. Dies war Luthers Zeugnis: „Kein anderes Studium gefiel mir wie das Studium der Heiligen Schrift. Ich las sie eifrig und prägte sie mir ein. Oft nahm eine gewichtige Stelle meine Gedanken den ganzen Tag über ein.“16 Und anderswo: „Für einige Jahre nun habe ich die Bibel zweimal pro Jahr durchgelesen. Wenn du dir die Bibel als einen mächtigen Baum vorstellst und jedes Wort als einen kleinen Ast, dann habe ich an jedem dieser Äste gerüttelt, weil ich wissen wollte, was es war und was es bedeutete“.17

Was für Luthers Leben zutraf, traf auch auf seinen Seelsorgedienst zu. In einem Brief an Henning Teppen empfiehlt Luther die Heilige Schrift als den einzig wahren Trost in der Bekümmerung. Indem er Teppens „große Kenntnis der Schrift“ lobt, verweist er ihn auf Paulus: „Du hast den Apostel, der dir einen Garten oder ein Paradies zeigt, das so voller Trost ist, wenn er sagt: ‚Denn alles, was zuvor geschrieben worden ist, wurde zu unserer Belehrung zuvor geschrieben, damit wir durch das Ausharren und den Trost der Schriften Hoffnung fassen.‘ Hier weist er der Heiligen Schrift die Funktion des Tröstens zu. Wer dürfte wagen, von anderswo her Trost zu suchen oder zu erbitten?“.18

Gibt es irgendwo eine klarere Aussage über die Genugsamkeit der Schrift für die Seelsorge?

Luther sah die Schrift auch als ausreichend an, um gegen Versuchung anzukämpfen: „Nichts hilft mächtiger gegen den Teufel, die Welt, das Fleisch und alle Gedanken, als sich mit dem Wort Gottes zu beschäftigen, darüber zu sprechen und nachzusinnen“. Er fährt fort: „Bedenke, wie der erste Psalm denjenigen glücklich preist, der ‚nachsinnt über sein Gesetz Tag und Nacht‘. Ohne Zweifel wirst du keinen stärkeren Weihrauch gegen den Teufel anzünden können, als dich mit Gottes Geboten und Worten zu beschäftigen, über sie zu sprechen, sie zu singen oder darüber nachzusinnen“.

Die gleiche Schrift ist auch genug für geistliche Zweifel und Selbstseelsorge. Luther schreibt: „Lasst uns deshalb lernen, in großen und fürchterlichen Schrecken, wenn unser Gewissen nichts als Sünde fühlt und überzeugt ist, dass Gott zornig auf uns ist, und dass Christus sein Angesicht von uns abgewandt hat, nicht dem Eindruck und Gefühl unseres eigenen Herzens zu folgen, sondern uns an das Wort Gottes zu halten“. Das gleiche Wort ist nützlich, um Seelsorge mit anderen zu machen: „Deshalb arbeiten wir durch das Wort Gottes, auf dass wir die Gefesselten in Freiheit versetzen und sie zu einer reinen Lehre des Glaubens bringen und sie dort halten“.19

Fazit

Die Kirche hatte schon immer das Anliegen, verletzten und verhärteten Menschen zu helfen. Luther hat pastorale Seelsorge nicht erfunden; er reformierte sie. Er wendete das Evangelium auf die täglichen Verletzungen und geistlichen Kämpfe seine Herde an, und reformierte auf diese Weise sowohl die Theologie als auch die pastorale Seelsorge – alles unter dem Kreuz.


Bob Kellemen ist Gründer und Leiter von RPM Ministries, wodurch er über biblische Seelsorge und das christliche Leben spricht, schreibt und konsultiert. Dr. Kellemen diente auch als Gründungsleiter der Biblical Counseling Coalition. Er ist Autor von vierzehn Büchern, einschließlich des Buches Counseling Under the Cross. Dieser Artikel erschien zuerst bei 9Marks Ministries. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
 

1 Luther, Luther’s Works, Vol. 48, „Letters I“, 46.

2 Ibid.

3 McNeil, A HIstory of the Cure of Souls, 163.

4 Sproul, The Legacy of Luther, 280.

5 Tappert, Luther: Letters of Spiritual Counsel, 13.

6 Luther, Luther’s Works, Vol. 34, „Career of the Reformer IV“, 336.

7 Oberman, Luther, 151, 179.

8 Luther, Commentary on Galatians, 21.

9 Luther, Luther’s Works, Vol. 49, „Letters II“, 207.

10 Luther, The Freedom of the Christian, in Krey, Luther’s Spirituality, 72.

11 Ibid., 73.

12 Kittleson, Luther the Reformer, 168-169.

13 Ibid., 149.

14 Tappert, Luther: Letters of Spiritual Counsel, 14.

15 Ibid., 15.

16 Ibid., 18.

17 Luther, LW, Vol. 54, „Table Talks“, 165.

18 Luther, LW, Vol. 49, „Letters II“, 161.

19 Luther, Commentary on Galatians, 333, 126.