Ist die Reformation vorbei?

Artikel von Kevin DeYoung
30. Oktober 2015
Kevin DeYoung

Wenn Sie einen protestantischen Christen fragen würden, was die größte Gefahr der Gegenwart für das orthodoxe Christentum ist, würde dieser vielleicht Nominalismus, die sexuelle Revolution und den Liberalismus  nennen. Aber würde dieselbe Frage vor hundert Jahren gestellt werden, wäre ganz sicher auch die Römisch-Katholische Kirche erwähnt worden. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Protestanten und Katholiken zwar keine Feinde, gehörten jedoch gegensätzlichen Lagern an.

Heute sehen wir nicht mehr viel von diesem Gegensatz. Und es ist durchaus positiv, dass das Eis zwischen Katholiken und Protestanten an einigen Stellen geschmolzen ist. So kämpfen sie gemeinsam gegen Abtreibung, verteidigen das traditionelle Familienbild und sprechen sich gegen moralischen Relativismus und säkularen Humanismus aus. Und in einer Zeit, in der die biblischen Lehren an Beachtung verlieren, scheint es manchmal, dass evangelikale Protestanten theologisch mehr mit einem Katholizismus gemeinsam haben,  die noch Züge historischer Orthodoxie tragen, als mit den liberalen Mitgliedern ihrer Denomination. Ich habe auch persönlich von römisch-katholischen Autoren wie G.K. Chesterton, Richard J. Neuhaus und Robert George profitiert. Ich habe auch Respekt davor, dass sich die Römisch-Katholische Kirche immer wieder zu unpopulären moralischen Maßstäben und Werten bekennt.

Trotzdem: Die theologische Kluft zwischen Protestanten und Katholiken ist immer noch sehr groß und an einigen Stellen sehr tief. Wenn uns die Lehren der Bibel wichtig sind, um die die Reformatoren gekämpft haben, dann können wir nicht davon ausgehen, dass die Reformation vorüber ist. Wir können dann nicht so tun, als seien alle theologischen Hügel  flach und dogmatische Täler zu Ebenen geworden.

Ich möchte auf ein paar Punkte aufmerksam machen, die Protestanten und Katholiken immer noch trennen. Natürlich gibt es Katholiken, die nicht glauben (oder wissen), was die römisch-katholische Theologie lehrt. Ich behaupte auch nicht, alles zu wissen, was der Katholizismus in allen Aspekten lehrt. Aber indem wir uns für einen Moment offiziellen Kirchendokumenten zuwenden, können wir ein besseres Bild davon bekommen, was Katholiken eigentlich glauben. Wir werden dann sehen, dass Protestanten, die sich zum sola scriptura bekennen, vieles von dem, was Katholiken glauben und bekennen, nicht annehmen können.

Die Kirche

Seit dem 2. Vatikanischen Konzil hat der Katholizismus seine Stellung gegenüber den Protestanten gelockert und nennt sie „entfremdete Brüder“. Trotzdem muss ein Mensch, um ein anerkannter Teil der Kirche zu werden, in die Römische Kirche mit ihrem System der Sakramente, Ordnungen und unter der Autorität des Papstes eintreten. „Völlig eingegliedert in die Gemeinschaft der Kirche sind diejenigen, die […] in die sichtbare Struktur der Kirche Christi aufgenommen wurden, der hier durch das oberste Pontifikat und die Bischöfe regiert.“ Weiter wird daran festgehalten, dass der Papst unfehlbar ist, wenn er ex cathedra (vom Stuhl) spricht, wenn es also um offizielle Lehrverkündigung geht. Die Römisch-Katholische Kirche vertritt auch die Auffassung, es gebe sieben Sakramente, während der Protestantismus nur die Taufe und das Abendmahl als Sakramente lehrt.

Heilige Schrift

Der Katholizismus lehrt einen größeren biblischen Kanon. Zusätzlich zu den 66 Büchern der protestantischen Bibel enthält die katholische Bibel die Apokryphen, zu denen z.B. die Bücher Tobit, Judith, das 1. und 2. Makkabäerbuch, Sirach und Baruch gehören. Auch betont die römisch-katholische Lehre die Tradition viel stärker als dies die Protestanten tun. Zugegeben: Viele Protestanten missachten die Tradition und die Möglichkeit, die Weisheit vergangener Tage zu würdigen. Aber der Katholizismus respektiert die Vergangenheit nicht nur, sondern sakralisiert diese. Im Katechismus der Römisch-Katholischen Kirche heißt es: „Die Heilige Schrift und die Tradition müssen mit derselben Hingabe und Ehrfurcht akzeptiert und geehrt werden.“ Darüber hinaus hat das Magistrat die Befugnis, autoritative Interpretationen festzulegen. „Die Aufgabe, eine authentische Interpretation des Wortes Gottes zu liefern, in schriftlicher Form oder in Form der Tradition, ist allein den lebendigen und lehrenden Ämtern der Kirche vorbehalten […], den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Nachfolger des Petrus, dem Bischof von Rom.“

Das Abendmahl

Zentral für den römisch-katholischen Glauben ist die Messe. Hier ist wiederum die Feier der Eucharistie von zentraler Bedeutung. Katholiken glauben, dass Brot und Wein wirklich in Leib und Blut Christi verwandelt bzw. transsubstantiiert werden. Die Elemente werden als Opfer der Kirche und als Opfer des Werkes Christi am Kreuz dargebracht. Hier geht es nicht nur um das Gedächtnis des Opfers Christi, sondern um dasselbe sühnende Werk: „Das Opfer Christi und das Opfer der Eucharistie sind ein Werk […]. Das Opfer der Eucharistie schafft wahrhaft Versöhnung.“

Taufe

Katholiken lehren, dass die Rechtfertigung durch die Taufe verliehen wird. Das Wasser der Taufe wäscht demzufolge die Erbsünde weg und verbindet uns mit Christus. Taufe ist hier nicht einfach ein Zeichen und Siegel der Gnade, sondern verleiht tatsächlich selbst die rettende Gnade.

Maria

Maria ist im Katholizismus nicht nur die Mutter Christi, sondern auch die Mutter der Kirche. Ferner soll sie keine Erbsünde gehabt haben (sündlose Empfängnis) und am Ende ihres Lebens in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen und von Gott zur Königen aller Dinge erklärt worden sein. Der Lehre des Katholizismus zufolge tritt sie betend für die Kirche ein, bringt uns damit „Gaben der ewigen Erlösung“ und ist „unsere Mutter in der Ordnung der Gnade.“ Maria ist demnach mehr als die gläubige Mutter Jesu: „Die gesegnete Jungfrau wird in der Kirche angerufen als Fürsprecherin, Helferin, Wohltäterin und Mittlerin.“

Fegefeuer

Diejenigen, die in Gnade Gottes sterben, aber immer noch unzureichend gereinigt sind, können sich dem Katholizismus zufolge des ewigen Lebens sicher sein, müssen aber zunächst eine Reinigung durch das Fegefeuer durchlaufen. Aufgrund des sog. „Zwischenzustands“ hat die Römisch-Katholische Kirche die Lehre vom Gebet für die Toten eingeführt. „Die Kirche empfiehlt, für die Toten Almosen und Ablass zu geben und Werke der Buße zu tun.“ Bezüglich der Erlösung von Menschen, die das Evangelium nicht gehört haben, lesen wir im Katechismus: „Diejenigen, die durch keinen eigenen Fehler das Evangelium Christi und die Kirche nicht kennen, aber Gott trotzdem mit eifrigem Herzen suchen und, bewegt durch die Gnade, den Willen Gottes tun, den sie in ihrem Gewissen erkannt haben, werden auch ewige Erlösung empfangen.“

Verdienst

Es ist nicht wirklich fair, zu behaupten, Katholiken würden lehren, man könne sich das Heil verdienen. Das ist vielleicht das, was viele Katholiken glauben, aber die offizielle Lehrmeinung Roms klingt doch etwas nuancierter, wenn auch beunruhigend. Der Römisch-Katholische Katechismus fasst zusammen: „Weil die Initiative in der Ordnung der Gnade von Gott ausgeht, kann sich niemand am Anfang seiner Bekehrung die Gnade der Vergebung und Rechtfertigung verdienen. Bewegt durch den Hl. Geist und Barmherzigkeit, können wir dann die Gnade für uns und andere verdienen, die für unsere Heiligung, für das Wachstum in Gnade und Barmherzigkeit und für das Erreichen des ewigen Lebens notwendig ist.“

Rechtfertigung

Die römisch-katholische Lehre lehnt das protestantische Verständnis der zugerechneten Gerechtigkeit ab. Die Frage, die im Raum steht, ist Folgende: Ist die Gerechtigkeit, durch die uns vergeben wird und durch die wir gerecht vor Gott stehen, eine Gerechtigkeit, die in uns ist oder eine, die uns angerechnet wird? Katholiken würden Ersteres, Protestanten Letzteres behaupten. Der Unterschied liegt darin, ob es sich um eine eingegossene oder eine zugerechnete Gerechtigkeit handelt. Eine eingegossene Gerechtigkeit kann man damit vergleichen, 100 Euro bereits in Bar in Besitz zu haben. Bei der zugerechneten Gerechtigkeit sieht das Bild anders aus: Die 100 Euro werden unserem Konto gutgeschrieben. Der katholischen Lehre zufolge geht es bei der Rechtfertigung um mehr als dass uns Gott aufgrund des Werkes Christi für gerecht erklärt. Rechtfertigung ist hier auch die Erneuerung des inneren Menschen und die Versöhnung mit Gott. Natürlich sind das auch gute Aspekte, aber der Katholizismus behauptet, diese seien in und durch Rechtfertigung zu erreichen und nicht durch Glauben. Das Konzil von Trient, das im 16. Jahrhundert im Zuge der Gegenreformation stattfand, hält fest: „Wer sagt, die Menschen würden entweder allein durch die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi oder allein durch die Vergebung der Sünden ohne die Gnade und Liebe gerechtfertigt, die in ihren Herzen durch den Heiligen Geist ausgegossen wird und ihnen wohnt; oder auch, die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei nur die Gunst Gottes: Der sei mit dem Anathema belegt.“

Sollten sich Katholiken und Protestanten anständig und respektvoll behandeln? Natürlich. Wir werden sicherlich häufig gleiche Meinungen hinsichtlich moralischer und sozialer Themen vertreten. Wir werden auch ohne Zweifel wiedergeborene Christen in Römisch-Katholischen Kirchen finden. Aber trotz allem gilt es, festzuhalten, dass es wichtige dogmatische Aspekte gibt, die Protestanten und Katholiken trennen. Wir würden niemandem einen Gefallen tun, wenn wir die Unterschiede verschweigen würden.

Heilige uns durch Wahrheit, o Herr! Dein Wort ist die Wahrheit (Joh 17, 17).


Kevin DeYoung, Is the Reformation over?
© TheGospelCoalition
Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. 

Kevin DeYoung ist Hauptpastor der Christ Covenant Church in Matthews, North Carolina (USA), Vorstandsmitglied bei The Gospel Coalition und Assistenzprofessor für Systematische Theologie am Reformed Theological Seminary (Charlotte, USA). Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter Gott beim Wort nehmen und Leg einfach los. Kevin und seine Frau Trisha haben neun Kinder.