Warnung vor räuberischen Wölfen
Paulus warnte die Ältesten der Gemeinde in Ephesus über die entscheidende Notwendigkeit, wachsam zu sein: „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat, um die Gemeinde Gottes zu hüten, die er durch sein eigenes Blut erworben hat! Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen; und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft. Darum wacht…“ (Apg 20,28–31). Diese apostolische Warnung galt nicht nur der Gemeinde in Ephesus; es ist eine Warnung, die notwendig ist für die Kirche zu jeder Zeit.
Die Warnung des Paulus wurde von viele Kirchen und Pastoren sehr ernst genommen in der Auseinandersetzung zwischen den Fundamentalisten und den Liberalen in den 1920ern. Als die Fundamentalisten sahen, wie ihre Kirchen und Bibelschulen den historischen Glauben verließen, erachteten sie die Liberalen als verschlagen, betrügerisch und sogar dämonisch. Dr. J. Gresham Machen zog in der unschätzbaren und überdauernden Kritik der liberalen Theologie, die in den 1920ern geschrieben wurde, Christentum und Liberalismus, den Schluss, dass das Christentum eine Religion für sich ist und die liberale Theologie eine gänzlich andere Religion darstellt.
Obwohl Dr. Machens Analyse präzise und angemessen vorgebracht wurde, haben viele in den Kirchen seiner Zeit sie nicht angenommen. Warum war das so und was können wir für unsere Zeit darüber lernen, wachsam zu sein, das biblische Christentum zu verteidigen und zu fördern?
Das Denken der liberalen Theologen
Zunächst sollten wir versuchen zu verstehen, wie die Liberalen sich selbst sahen und wie sie ihre Überzeugungen anderen mitteilten. Die Liberalen bestanden darauf, dass sie evangelikale Christen waren. Sie glaubten, dass sie an den wesentlichen Inhalten des christlichen Glaubens festhielten. Sie gaben vor, dass sie an den grundlegenden christlichen Glaubenslehren festhielten und nur ein paar Theorien ablehnten, wie die Fundamentalisten diese Lehren ausführten. Zum Beispiel glaubten sie, dass Jesus Gott mit ihnen war, aber nicht in der Jungfrauengeburt. Die Liberalen glaubten aufrichtig, dass sie allein das Christentum in der modernen Welt retten könnten, indem sie es relevanter machen würden. Als solches waren sie aktive Missionare für ihre Sache.
Dr. Machen hatte Recht, wenn er von den Liberalen sagte: „Durch ihren mehrdeutigen Gebrauch traditioneller Begriffe, durch das Darstellen von Meinungsverschiedenheiten als bloße Unterschiede in der Interpretation der Bibel, wurde Menschen Zugang zur Kirche verschafft, die den Fundamenten des Glaubens feindlich gegenüberstehen.“ Aber die Liberalen wiesen solche Vorwürfe von sich, und indem sie mehrdeutige Sprache verwendeten, überzeugten sie viele, dass sie nicht so schlimm wären, wie ihre Kritiker behaupteten.
Die Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und den Fundamentlisten drehte sich nicht nur um Wahrheit, sondern für Dr. Machen ging es auch um Ethik. Die Liberalen waren nicht offen und ehrlich, indem sie ihre Überzeugungen deutlich äußerten. Er schrieb, dass „Ehrlichkeit durch liberale Gruppierungen in vielen heutigen Kirchen größtenteils aufgegeben worden ist“. Sie hatten bei ihren Amtseinführungen versprochen, Lehren zu verteidigen, an die sie selbst nicht glaubten.
Das Denken der konservativen Theologen
Dr. Machen glaubte, dass die Mehrheit der Gemeindemitglieder seiner Zeit grundsätzlich konservativ wäre. Sie wünschten sich keine großen Veränderungen in der Lehre oder dem Leben ihrer Kirchen. Sie waren etwas besorgt über die Richtung, in der die Liberalen die Kirche führen wollten. Aber sie waren eher optimistisch über die Zukunft und erachteten Kritik an den Liberalen als oft zu negativ und zu übertrieben.
Die Führung des konservativen Flügels der Kirche war nicht immer geeinigt. Während ausgesprochen Konservative wie Dr. Machen alarmiert und kritisch gegenüber den Liberalen waren, argumentierten andere, moderatere Konservative, dass zu viel Negativität und Uneinigkeit die Mission der Kirche unterminieren würde. Konservative Gemeindemitglieder wussten oft nicht, wem sie glauben oder folgen sollten.
Die Meinungsverschiedenheiten unter den konservativen Führern und der Optimismus vieler Konservativer disponierten sie dazu, vor einem Kampf zurückzuschrecken. Schon im Jahr 1915 erkannte Dr. Machen die potentielle Gefahr in dieser Situation: „Der Großteil der Kirchen hier ist immer noch konservativ – aber konservativ auf eine unwissende, nicht polemische, leichtfertige Art und Weise, was sie zu Fleisch für die Wölfe macht. Ich gebrauche strenge Worte auf strenge Weise, aber meine Sprache sollte als biblisch verstanden werden.“ Wie Paulus die Ältesten aus Ephesus davor gewarnt hatte, dass Wölfe die Schafe der Gemeinde angreifen würden, so sorgte sich Dr. Machen, dass die Schafe der Gemeinden seiner Zeit angreifbar waren für liberale Wölfe.
Das bekenntnistreue Denken
Obwohl Dr. Machen oft als der größte intellektuelle Führer der fundamentalistischen Bewegung gesehen wurde, war er nicht vollkommen zufrieden mit dieser Bewegung. Er glaubte nicht, dass es ausreichte, nur fünf fundamentale Glaubensüberzeugungen zu verteidigen. Er glaubte, dass der Fundamentalismus zu individualistisch, zu reduktionistisch und zu gleichgültig gegenüber der Kirchengeschichte war. Für Machen war das wahre Christentum eine historische Gemeinschaft mit einer umfassenden und kohärenten Theologie. Das wahre Christentum, wie Dr. Machen es aus der reformierten Tradition kannte, kam zu einem lehrmäßigen Ausdruck in einem umfassenden Glaubensbekenntnis, so wie das Westminster Bekenntnis.
Dr. Machen glaubte, dass ein Glaubensbekenntnis das Denken der Kirche ausdrückte und den Gemeindemitgliedern aufzeigte, was die Kirche als große und notwendige Lehren der Bibel bekannte. Das Glaubensbekenntnis sollte als Gegenmittel für lehrmäßige Unwissenheit in der Gemeinde dienen, indem die Gemeinde treu ihr Bekenntnis den Mitgliedern vermittelt und lehrt. Das Glaubensbekenntnis sollte der Kirche zeigen, für welche Lehren sie kämpfen muss. Es sollte die Gemeinde als Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit stärken.
Heute stehen die evangelikalen Gemeinden vor Herausforderungen, die genauso ernst sind wie die aus den 1920ern. Manche Evangelikale lehnen die Unfehlbarkeit der Bibel ab. Manche lehnen die historische Lehre von Gott ab für das, was sie „offenen Theismus“ nennen. Manche lehnen die biblische Lehre der Rechtfertigung ab, die in der Reformation wiederentdeckt wurde, für eine Form von Moralismus.
Die evangelikalen Gemeinden von heute sind jedoch viel weniger besorgt über die ernsthaften theologischen Irrtümer, die sie trennen, als die Gemeinden in den 1920er Jahren. Sie sind weniger wachsam als damals. Die Kirche als Ganzes hat die Lektion der Bekenntnistreue nicht gelernt. Lehrmäßiges Wissen, biblisches Verständnis und diszipliniertes christliches Leben scheinen im Vergleich zu den 1920ern eher zurückgegangen zu sein.
Der Aufruf von Paulus zur Wachsamkeit ist heute mehr als jemals sonst vonnöten. Pastoren, Älteste und Gemeindemitglieder müssen in der Wahrheit erneuert werden, durch ein umfassendes und tiefgehendes Wissen der Lehren, die in den großen Glaubensbekenntnissen der Kirchen enthalten sind. Dann werden wir wissen, wo und wann wir kämpfen müssen, und auch für welche Wahrheiten. Wie Paulus an Timotheus schrieb: „Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre; bleibe beständig dabei! Denn wenn du dies tust, wirst du sowohl dich selbst retten als auch die, welche auf dich hören“ (1Tim 4,16).