Das therapeutische Evangelium

Artikel von David Powlison
28. März 2018 — 19 Min Lesedauer

In dem vielleicht bekanntesten Kapitel in der gesamten westlichen Literatur wird der Reiz eines „therapeutischen Evangeliums“ geschildert. In dem Kapitel mit der Überschrift „Der Großinquisitor“ stellt sich Fjodor Dostojewski die Wiederkunft Jesu im 16. Jahrhundert in Spanien vor (Brüder Karamasov, II.5.v). Doch Jesus ist nicht willkommen bei der kirchlichen Autorität. Der Kardinal von Sevilla, das Haupt der Inquisition, lässt Jesus verhaften, einsperren und verurteilt ihn zum Tode. Warum? Die Kirche hat ihren Kurs geändert. Sie haben sich entschieden, instinktive menschliche Begierden zu nähren, statt Menschen zur Umkehr zu rufen. Sie haben sich entschieden, die Botschaft entsprechend gefühlter Bedürfnisse zu verbiegen, statt die hohe, heilige und schwierige Freiheit des Glaubens zu fördern, der durch die Liebe tätig ist. Jesu Bespiel und Botschaft werden für schwache Seelen als zu hart empfunden und die Kirche hat sich entschieden, es für Menschen einfacher zu gestalten.

Der Großinquisitor repräsentiert die Stimme der fehlgeleiteten Kirche, die Jesus in seiner Gefängniszelle verhört. Dieser steht auf der Seite des Versuchers und dessen Fragen, die er vor Jahrhunderten Jesus vorgehalten hat. Er sagt, dass die Kirche irdisches Brot geben werde, statt des himmlischen Brotes. Sie werde religiösen Zauber und Wunder anbieten, statt den Glauben an das Wort Gottes. Sie werde zeitliche Macht und Autorität ausüben, statt dem Ruf zur Freiheit zu dienen. „Wir haben deine Arbeit korrigiert“, sagt der Inquisitor zu Jesus.

Das Evangelium des Inquisitors ist ein therapeutisches Evangelium. Es ist so gestrickt, dass es Menschen das gibt, was sie wollen und nicht das verändert, was sie wollen. Es konzentriert sich ausschließlich auf das Wohl des Menschen und sein zeitliches Glück. Es verwirft die Ehre Gottes in Christus. Es gibt den schmalen und schwierigen Weg auf, der tiefes menschliches Wohlergehen und ewige Freude bringt. Dieses therapeutische Evangelium akzeptiert menschliche Schwachheit und deckt sie zu, versucht die offensichtlichsten Symptome der Not zu verbessern. Es gibt Menschen ein gutes Gefühl. Es nimmt die menschliche Natur so an, wie sie ist, da es zu schwierig wäre, diese zu verändern. Es will nicht, dass der König des Himmels herabkommt. Es versucht nicht Menschen so zu verändern, dass sie Gott lieben, mit der Wahrheit im Blick, wer Jesus ist und was er tut.

Das gegenwärtige therapeutische Evangelium

Die offensichtlichsten, instinktiv gefühlten Bedürfnisse der westlichen Mittelschicht des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich von den gefühlten Bedürfnissen, die Dostojewski aufgegriffen hat. Wir halten das Nahrungsangebot und die politische Stabilität für selbstverständlich. Wir finden unseren Ersatz für Wunder in dem Technologiewunder. Die Bedürfnisse der Mittelschicht sind weniger existentiell. Sie drücken ein luxuriöseres und veredeltes Gefühl des Eigeninteresses aus:  

  • Ich will mich geliebt fühlen dafür, wer ich bin; Mitleid bekommen dafür, was ich durchmachen musste; aufs innigste verstanden fühlen, bedingungslos angenommen sein.
  • Ich will das Gefühl erleben, persönlich wichtig und bedeutend zu sein; in meiner Karriere erfolgreich zu sein; zu wissen, dass mein Leben einen Unterschied macht und Auswirkungen hat.
  • Ich will Selbstbewusstsein erlangen; erklären, dass es mir gut geht; ich meine Meinungen und Wünsche durchsetzen kann.
  • Ich will unterhalten werden; Freude fühlen in dem endlosen Strom von Darbietungen, die meine Augen entzücken und meine Ohren jucken.
  • Ich will das Gefühl des Abenteuers, der Spannung, der Aktion und Leidenschaft haben, sodass ich mein Leben als aufregend und bewegend erlebe.

Die moderne Version des therapeutischen Evangeliums der Mittelklasse nimmt ihre Anhaltspunkte aus der Familie von Wünschen. Wir sagen vielleicht, dass die Zielgruppe aus psychologisch gefühlten Bedürfnissen besteht, nicht aber körperlich empfundenen Bedürfnissen, die typischerweise in schwierigen sozialen Umständen auftreten (Das zeitgenössische Wohlstandsevangelium und seine Besessenheit von „Wundern“ drückt etwas aus, was eher wie die alte Version des therapeutischen Evangeliums des Großinquisitors aussieht).

In diesem neuen Evangelium rufen die großen Übel, die beseitigt werden sollen, nicht zu irgendeiner fundamentalen Richtungsänderung des menschlichen Herzens auf. Stattdessen liegt das Problem in meinem Gefühl von anderen abgelehnt zu sein; in meiner zerstörerischen Erfahrung der Vergeblichkeit des Lebens; in meinem nervösen Gefühl der Selbstverurteilung und Mangel an Selbstvertrauen; in der unmittelbaren Bedrohung durch Langeweile falls meine Musik nicht mehr weiter läuft; in meinem kleinlichen Klagen über eine lange Autofahrt.

Dies sind die bedeutenden empfundenen Bedürfnisse, für die das Evangelium verbogen wird, um ihnen zu dienen. Jesus und die Gemeinde existieren, um das Gefühl zu vermitteln, geliebt, bedeutend, bestätigt, unterhalten und erfüllt zu sein. Dies Evangelium lindert schmerzliche Symptome. Es gibt dir ein gutes Gefühl. Die Logik hinter diesem therapeutischen Evangelium ist eine „Jesus-für-mich“-Haltung, der meinen persönlichen Bedürfnissen und psychischen Schmerzen abhilft.

Die therapeutische Perspektive ist keine schlechte Sache, wenn es seinen richtigen Platz bekommt. Per Definition hält eine medizinisch-therapeutische Perspektive physisches Leiden und Zusammenbrüche im Blick.

Bei einem wörtlichen medizinischen Eingriff behandelt eine Therapie eine Krankheit, ein Trauma oder einen Mangel. Man wird niemanden zur Buße rufen wegen Darmkrebs, einem gebrochenen Bein oder Vitaminmangel. Man sucht nach Heilung. So weit, so gut.

Doch in dem gegenwärtigen therapeutischen Evangelium wird der medizinische Weg, auf die Welt zu blicken, metaphorisch ausgeweitet auf die psychischen Wünsche. Diese werden wie medizinische Probleme definiert. Man fühlt sich schlecht; die Therapie lässt dich besser fühlen. 

Die Definition einer Krankheit umgeht das sündige menschliche Herz. Man ist nicht länger verantwortlich für seine tiefsten Probleme, sondern nur ein Leidender und ein Opfer unerfüllter Bedürfnisse. Das Angebot einer Kur übergeht den Retter, der Sünde trägt. Umkehr von Unglauben, Eigensinnigkeit und Bosheit sind nicht länger von Belang. Sünder werden nicht zur Kehrtwendung und einem neuen Leben aufgerufen, das wirklich Leben ist. Solch ein Evangelium massiert die Selbstliebe. In der inneren Logik führt nichts zu Gottes Liebe und Nächstenliebe außer Selbstliebe. Dieses therapeutische Evangelium mag häufig das Wort „Jesus“ erwähnen, doch er hat sich zu einem Erfüller meiner Bedürfnisse verwandelt, statt dem Retter von meinen Sünden. Es korrigiert Jesu Werk. Das therapeutische Evangelium zerstört das Evangelium.

Das endgültige Evangelium

Das wahre Evangelium ist die frohe Botschaft, dass das Wort Mensch wurde, der Sünde tragende Retter, der auferstandene Herr der Herren: „Ich bin der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Offb 1,18).

Dieser Christus stellt die Welt auf den Kopf. Der Heilige Geist verändert unseren Sinn für gefühlte Bedürfnisse, als eine wesentliche Auswirkung seiner innewohnenden Gegenwart und Kraft. Da die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit ist, erleben wir eine unterschiedliche Reihe von Bedürfnissen, wenn Gott in unseren Blickwinkel kommt und wir begreifen, dass wir in seinem Blick stehen oder fallen. Meine instinktiven Begierden werden ersetzt (manchmal schnell, meistens aber allmählich) durch das wachsende Bewusstsein der wahren Bedürfnisse, bei denen es um Leben und Tod geht:

  • Ich brauche mehr als alles andere Barmherzigkeit: „Herr, hab Erbarmen mit mir“; „Um deines Namens willen, vergib mir meine Übertretung, denn sie ist sehr groß“.
  • Ich will Weisheit lernen und willentlich Selbstbezogenheit verlernen: „Nichts, was du dir wünschst, ist vergleichbar mit ihr“.
  • Ich muss lernen, Gott und meinen Nächsten zu lieben: „Das Ziel aller Unterweisung ist Liebe, die aus reinem Herzen, einem guten Gewissen und aus einem innigen Glauben kommt“.
  • Ich sehne mich danach, dass Gottes Name geehrt wird, sein Reich kommt und sein Wille auf Erden getan wird.
  • Ich will, dass Christi Herrlichkeit, Liebe und Güte auf der Erde gesehen wird, die Erde so sichtbar füllt, wie Wasser den Ozean füllt.
  • Ich muss von Gott in meinen Instinkten, Entscheidungen und meiner Lebensführung verändert werden.
  • Ich will, dass er mich von meiner besessenen Selbstgerechtigkeit befreit, meinen Wunsch, mich selbst zu erhöhen, tötet, damit ich das Bedürfnis für die Gnade Christi spüre und lerne, andere sanftmütig zu behandeln.
  • Ich brauche Gottes mächtige und persönliche Hilfe, um die Dinge zu wollen und zu tun, die bis ins ewige Leben andauern, statt mein Leben mit Nichtigkeiten zu verschwenden.
  • Ich will lernen, wie ich Schwierigkeiten und Leiden in Hoffnung erdulden kann, während mein Glaube gereinigt, vertieft und veredelt wird.
  • Ich will lernen anzubeten, mich zu freuen, zu vertrauen, zu danken, zu rufen, Zuflucht zu finden und zu hoffen.
  • Ich will die Auferstehung zum ewigen Leben: „Wir seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes“.
  • Ich brauche Gott selbst: „Zeig mir deine Herrlichkeit“; „Maranatha, komm, Herr Jesus.“

Mach es so, Vater des Erbarmens. Mache es so, Erlöser von allem, das dunkel und zerbrochen ist. Gebet bringt Wünsche zum Ausdruck. Gebet bringt deinen gefühlten Sinn für Bedürfnisse zum Ausdruck. Herr, erbarme dich über uns. Ein Lied bringt Freude und Dankbarkeit über einen erfüllten Wunsch zum Ausdruck. Ein Lied bringt deinen gefühlten Sinn darüber, wer Gott ist und all das, was er gibt, zum Ausdruck. Erstaunliche Gnade – wie süß dieser Klang. Doch es gibt keine Gebete und Lieder in der Bibel, die Anstöße von heutigen therapeutisch gefühlten Bedürfnissen übernommen haben. Stell dir vor, dort stünde: „Unser Vater im Himmel, hilf mir zu fühlen, dass ich in Ordnung bin, so wie ich bin. Bewahre mich an diesem Tag davor, irgendetwas zu tun, das ich langweilig finde. Halleluja, ich bin unverzichtbar und was ich tue hat wirklich eine Auswirkung auf andere, sodass sich mein Leben gut anfühlt.“ Erbarme dich unser! Stattdessen hören wir in unseren Bibeln tausende Not- und Freudenrufe, die uns auf unser eigentliches Bedürfnis und unseren wahren Erlöser ausrichten.

Gute Gaben, schlechte Götter

In der richtigen Art und Weise verstanden, sorgfältig interpretiert, stellen die gefühlten Bedürfnisse gute Gaben dar. Doch sie sind schlechte Götter. Das Wichtigste zuerst. Trachtet zuerst nach dem Reich des Vaters und seiner Gerechtigkeit und alle anderen guten Gaben werden euch hinzugefügt werden.

Das ist einfach zu sehen im Fall der drei speziellen Geschenke, die vom therapeutischen Evangelium des Großinquisitors angeboten werden. Es ist eine gute Sache, eine verlässliche Quelle für Essen zu haben, „Brot für morgen“ (Mt 6,11). Überall suchen alle Menschen nach Essen, Wasser und Kleidung (Mt 6,32). Unser Vater weiß, was wir brauchen. Doch trachtet zuerst nach dem Reich Gottes. Ihr lebt nicht von Brot allein, sondern von jedem Wort aus Gottes Mund. Wenn ihr eure körperlichen Bedürfnisse anbetet, werdet ihr sterben. Doch wenn ihr Gott anbetet, den Geber aller guten Gaben, werdet ihr dankbar sein für das, was er gibt; ihr werdet auch dann Hoffnung haben, wenn ihr Mangel erleidet; und ihr werdet auf jeden Fall am ewigen Festmahl teilnehmen.

Einen Sinn für Wunder und Geheimnis ist eine gute Sache. Aber derselbe Vorbehalt, derselbe Rahmen gilt. Gott ist nicht der Zauberer von Oz, der Wundererfahrung schenkt. Jesus sagte „Nein“ dazu, dass aus ihm selbst in der Tempelmasse ein Spektakel gemacht werden sollte. Seine tägliche Treue gegenüber Gott ist ein Wunder. Das Wichtigste zuerst. So lernst du die Herrlichkeit auf kleine und große Weise wertzuschätzen. Am Ende wirst du alles als ein Wunder verstehen, sowohl was ist (Offb 4) als auch was passiert ist (Offb 5). Du wirst den unbegreiflichen Gott, Schöpfer und Erlöser, kennen, dessen Name „Wunderbar“ ist.

In gleicher Weise ist politische Ordnung eine gute Gabe. Wir sollen für unsere Obrigkeit beten, damit sie gut regieren, dass wir in Frieden leben können (1Tim 2,2). Doch wenn man für eine gerechte Gesellschaft lebt, wird man immer enttäuscht werden. Wiederum, trachtet zuerst nach dem Reich Gottes. Du wirst auf eine gerechte Sozialordnung hinarbeiten und sie genießen in dem Grad, zu dem sie realisierbar sein wird – zugleich wirst du einen Grund haben, sogar Ungerechtigkeit auszuhalten. Am Ende wirst du unsagbare Freude an dem Tag erleben, an dem alle Knie sich vor dem wahren König beugen werden.

Natürlich gibt Gott gute Gaben. Doch er gibt auch die beste Gabe, die unaussprechliche Gabe aller Gaben. Der Großinquisitor verbrannte Jesus am Pfahl, um die Gabe und den Geber auszulöschen. Er entschied sich, den Menschen Gutes zu geben, aber verwarf die wichtigsten Dinge.

Die Dinge, die das therapeutische Evangelium von heute anbietet, sind etwas kniffliger zu verstehen. Der Duft von Selbstinteresse und –sucht klebt eng an der Wunschliste von „Ich will...“ Doch sogar diese sorgfältig neu geformten und neu verstandenen Gaben weisen in die Richtung der guten Gabe. Das Gesamtpaket von „gefühlten Bedürfnissen“ ist systematisch verstellt, aber die Teile können richtig verstanden werden. Jedes „andere Evangelium“ (Gal 1,6) präsentiert sich plausibel dadurch, dass Legoteile der Realität in einer Struktur zusammengesetzt werden, die der offenbarten Wahrheit widersprechen. Satans Versuchung von Adam und Eva war nur plausibel, weil sie viele Elemente der Realität aufnahm, in Richtung der Wahrheit wies, sogar als sie immer weiter weg von der Wahrheit geführt hat: „Sieh, ein schöner und begehrenswerter Baum. Gott hat gesagt, dass der Test sowohl Gut und Böse offenbaren wird, mit der Möglichkeit eines Lebens ohne Tod. So wie Gott weise ist, kann auch derjenige der sich für die Frucht entscheidet wie Gott in seiner Weisheit werden. Komm nun und iss.“ So knapp dran, aber doch so weit entfernt. Fast richtig, doch das genaue Gegenteil!

Denk über die fünf Faktoren nach, die wir im therapeutischen Evangelium ausgemacht haben:

1. „Bedürfnis nach Liebe?”

Es ist ganz sicher gut, wenn man weiß, dass man gekannt und geliebt wird. Gott, der unsere Gedanken und die Absichten unseres Herzens durchsucht, schenkt uns auch seine unerschütterliche Liebe. Doch all das ist völlig anders im Vergleich zu dem instinktiven Verlangen, so akzeptiert zu werden, wie man ist.  Christi Liebe erreicht uns zielgerichtet und persönlich, trotz dem, wer wir sind. Du wirst akzeptiert auf der Grundlage dessen, wer Christus ist, was er getan hat, tut und tun wird. Gott akzeptiert dich wirklich und wenn Gott für dich ist, wer kann gegen dich sein? Doch dadurch heißt er nicht gut, was du bist. Vielmehr ist er entschlossen, dich in eine ganz andere Art von Person zu verändern. Im echten Evangelium fühlst du dich innig gekannt und geliebt, aber dein unerbittliches Bedürfnis nach Liebe wurde gestürzt.

2. „Bedürfnis nach Bedeutung?“  

Es ist sicherlich gut, wenn das Ergebnis deiner Arbeit für immer sichtbar ist: Gold, Silber und kostbare Steine – nicht Holz, Heu und Stroh. Es ist gut, wenn man etwas mit seinem Leben macht, was wirklich zählt und seine Taten einem bis in die Ewigkeit folgen. Vergänglichkeit, Sinnlosigkeit und äußerste Bedeutungslosigkeit sind der Fluch unseres Arbeitslebens. Doch das wahre Evangelium kehrt die Ordnung der Dinge um, so wie sie vom therapeutischen Evangelium angenommen werden. Das Verlangen nach Einfluss und Bedeutung – eine der typischen „jugendlichen Lüste“, die in uns brodelt ­– ist götzendienerisch, wenn es im menschlichen Herzen die Position des Geschäftsführers innehat. Gott begegnet nicht deinem Verlangen nach Bedeutung; er begegnet deinem Bedürfnis nach Barmherzigkeit und Befreiung von der Besessenheit persönlicher Bedeutung. Wenn du dich abkehrst von Sklaverei hin zu Gott, dann zählen deine Werke wirklich. Das Evangelium Jesu und die Frucht des Glaubens sind nicht zugeschnitten für: „Begegne deinen Bedürfnissen.“ Er befreit von der Herrschaft der gefühlten Bedürfnisse, verändert dich, sodass du Gott fürchtest und seine Gebote einhältst (Pred 12,13). In göttlicher Ironie ist Gnade das einzige, was aus deinem Tun etwas machen kann, was bleibenden Wert hat.

3. „Bedürfnis nach einem Selbstwertgefühl, –bewusstsein und –behauptung?“

Ein sicheres Gefühl unserer Identität ist eine gute Sache. Der Epheserbrief ist übersät von einigen Dutzend „Identitätsaussagen“, da der Geist uns dadurch zu einem Leben des mutigen Glaubens und der Liebe anspornt. Ihr seid Gottes – Heilige, Auserwählte, adoptierte Söhne, geliebte Kinder, Bürger, Diener, Soldaten; Teil von Gottes Arbeit, seine Braut und Wohnstätte – all dieses in Christus. Kein Aspekt deiner Identität ist selbstbezüglich und nährt dein „Selbstwertgefühl“. Deine Meinung über dich selbst ist weniger wichtig als Gottes Meinung über dich und eine angemessene Selbstbewertung muss abgeleitet werden von Gottes Bewertung. Wahre Identität muss von Gott her abgeleitet sein. Wahres Bewusstsein seiner selbst ist verbunden mit einer Hochachtung für Christus. Eine starke Zuversicht in Christus kommt daher, dass man keine Zuversicht in und über sich selbst hat. Gott tauscht an keiner Stelle mangelndes Selbstvertrauen und den Drang, Menschen zu gefallen, durch Selbstbewusstsein aus. In Wirklichkeit markiert es dich als töricht, wenn du deine Meinungen und Wünsche durchsetzen willst. Nur wenn du befreit wirst von der Herrschaft deiner eigenen Meinung und Wünsche, bist du frei, sie richtig zu bewerten und dann angemessen auszudrücken.

4. „Bedürfnis nach Vergnügen?“

Genau genommen verheißt das Evangelium endlose Freude, das Trinken vom Strom der Wonne (Ps 36). Das beschreibt Gottes Gegenwart. Doch wie wir in allen Fällen gesehen haben, ist das die Umkehrung unserer instinktiven Wünsche, nicht ihre direkte Befriedigung. Der Weg der Freude ist der Weg des Leidens, des Ausharrens, von kleinen Gehorsamsschritten; die Bereitschaft, sich mit dem menschlichen Elend zu identifizieren und unsere überzeugendsten Wünsche und Instinkte über Bord zu werfen. Ich muss nicht unterhalten werden. Doch ich muss unbedingt lernen, wie ich mit meinem ganzen Herzen anbeten kann.

5. „Bedürfnis nach Spannung und Abenteuer?“

Teil von Christi Reich zu sein bedeutet, in der großartigsten Abenteuergeschichte mitzuspielen, die je erzählt wurde. Doch das Paradoxe der Rettung ist, dass sie die ganze Welt auf den Kopf stellt. Das wirkliche Abenteuer ist der Weg der Schwachheit, des Kämpfens, des Ausharrens, der Geduld und der Güte. Die Straße der Weisheit ist glanzlos. Andere Leute mögen bessere Urlaube und spannendere Ehen haben als du. Der Weg Jesu ist voller Steine und nicht voller Nervenkitzel. Jesus brauchte viel mehr Ausharren als Spannung. Sein Reich mag nicht dein Verlangen nach Heldentaten und Nervenkitzel stillen, doch „zuverlässige Freuden und bleibende Reichtümer kennen nur die Kinder Zions“.

Wir sagen „Ja und Amen“ zu allen guten Gaben. Doch das Wichtigste zuerst. Das therapeutische Evangelium von heute in seinen verschiedenen Ausprägungen nimmt unsere Geschenke für bare Münze. Es greift nach den tollen Sachen. Es verhindert die Anbetung des Gebers, dessen größtes Geschenk Barmherzigkeit uns gegenüber ist, für das, was wir durch Instinkte, Entscheidungen, Sozialisation und Gewohnheiten wollen. Er fordert uns zur radikalen Umkehr auf. Bob Dylan beschrieb die therapeutische Alternative in dem bemerkenswerten Satz: „You think He’s just an errand boy to satisfy your wandering desires” (dt. Du denkst er ist nur ein Laufbursche, um deine umherirrende Wünsche zu befriedigen“).

Das Wichtigste zuerst. Versteh das Evangelium der Menschwerdung, der Kreuzigung, der Auferstehung und der Verherrlichung. Lebe das Evangelium der Umkehr, des Glaubens und der Veränderung in das Bild des Sohnes. Verkündige das Evangelium vom kommenden Tag, an dem ewiges Leben und ewiger Tod offenbart werden.

Welches Evangelium?

Welches Evangelium wirst du ausleben? Welches Evangelium wirst du predigen? Welche Bedürfnisse wirst du in anderen wecken und ansprechen? Welcher Christus wird der Christus deiner Leute sein? Wird es der weiche Christus sein, der die gefühlten Bedürfnisse massiert? Oder der Christus, der die Welt auf den Kopf gestellt hat und alles neu macht?

Der Großinquisitor war sehr weichherzig mit den gefühlten Bedürfnissen – sehr verständnisvoll mit den Dingen, die alle Leute überall mit ihren Herzen anstreben, sehr einfühlsam mit der Schwierigkeit, jemanden zu verändern. Doch am Ende hat er bewiesen, dass er ein Monster ist. Man sagt in dem Dienst der Barmherzigkeit: „Wenn man nicht den körperlichen Bedürfnissen der Menschen begegnet, ist das herzlos. Doch wenn du den Menschen nicht den gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Christus gibst, ist es hoffnungslos“. Jesus speiste Leute mit Brot und Jesus gab seinen gebrochenen Leib als Brot des ewigen Lebens. Es ist letztlich erbarmungslos, Menschen in ihrer Sünde zu lassen, gefangen in ihren instinktiven Wünschen, in Hoffnungslosigkeit und unter dem Fluch. Das therapeutische Evangelium klingt anfangs weichherzig. Es ist so einfühlsam mit den Druckstellen des Schmerzes und der Enttäuschung. Doch am Ende ist es erbarmungslos und ohne Christus. Es fördert nicht wahre Selbsterkenntnis. Es schreibt das Drehbuch der Welt nicht neu. Es schafft keine Gebete und Lieder.

Wir sollten nicht weniger einfühlsam sein, doch noch vielmehr scharfsinnig. Jesus stellt menschliche Bedürfnisse auf den Kopf und führt zum Gebet. Er ist der unbeschreibliche Geber der Gaben und führt zu Lobliedern. Er gibt alle guten Gaben, jetzt und auf ewig. Jedes Knie soll sich beugen und alles was Odem hat soll ihn, den Herrn, loben.