Ein Film, der so gut ist, dass er dich ruiniert

Würdest du ihn dir ansehen?

Artikel von Tony Reinke
12. März 2018 — 9 Min Lesedauer

Das ist eine Frage, die der verstorbene David Foster Wallace seinen Lesern in seinem Roman Unendlicher Spaß (engl. „Infinite Jest“) stellt, dessen Shakespeare-Buchtitel in der enzyklopädischen Geschichte zugleich der Name eines Films ist.

In der Geschichte fesselt der Film Unendlicher Spaß die Herzen und Augen der Zuschauer so sehr, dass nichts anderes mithalten kann – der McGuffin des Romans, der die Handlung bestimmt und um den alle Themen kreisen. „Ein großer Teil des Buches handelt von einem Regisseur, der die Idee eines Filmes hat, der so unterhaltsam ist, dass jeder, der ihn schaut, nie mehr etwas anderes tun möchte“, sagte Wallace in einem Interview. „Dann bleibt die interessante Frage: Wenn es so etwas gäbe, würde man Gebrauch davon machen oder nicht?“

„Wenn ein Film verhängnisvoll gut wäre und tödlich unterhaltsam, würdest du ihn dir ansehen?“
 

Im Roman gibt sogar die U.S. Regierung ihr Bestes, den süchtig machenden Film und seine Konsequenzen zu erforschen. Den Körper an einen Stuhl festgeschnallt, Elektroden an der Schläfe, schaut ein Mensch wie eine Laborratte einen Film, so erzählt die Eröffnungsszene, „bevor die mentalen und geistigen Fähigkeiten abrupt abnehmen, können sogar nahezu lebensgefährliche Spannungen durch die Elektroden die Aufmerksamkeit nicht von der Unterhaltung ablenken.“

Nachdem die „Opfer“ den Film gesehen haben und nichts anderes wollen, als ihn wiederholt zu sehen, werden sie in Psychiatrien eingeliefert. „Der Lebenssinn der Personen reduziert sich auf einen kleinen Fokus, sodass keine andere Beschäftigung oder andere Beziehung ihre Aufmerksamkeit halten kann. Sie besitzen etwa die mentale und geistige Fähigkeit einer Motte.“

Wenn ein Film verhängnisvoll gut wäre und tödlich unterhaltsam, würdest du ihn dir ansehen?

Tod durch Süßes

In einem Interview, das Wallace 1996 mit Judith Strasser im Wisconsin Public Radio führte, hat er persönliche Ängste über unsere Unterhaltungsgesellschaft geäußert. Das Buch ist „eine Art übertreibende Parodie der Beziehung von Menschen zu Unterhaltungsmedien heute“, sagte er, „aber ich glaube nicht, dass der Unterschied allzu groß ist.“

Er schlug Alarm.

In dem Roman ist die Beziehung zwischen Amerika und Kanada angespannt, sodass bestimmte kanadische Gruppen versuchen, den Film in Amerika auszustrahlen als eine Art filmische List – ein Versuch, damit Amerika „sich selbst an dem Süßen zu Tode verschluckt.“

Wallace hat es geschafft, in einem einizigen verführerischen Film eine Metapher zu entwickeln für Amerikas gesamte Unterhaltungsindustrie – so verführerisch, dass die große Herausforderung für die U.S. Regierung ist, herauszufinden, wie man die Leute warnen kann, den Film nicht zu sehen, ohne dass alle sofort losstürmen, um ihn zu sehen.

„Ich denke, dass ein großer Teil dieses Chaos im Buch von der Tatsache herrührt, dass die Regierung nicht wirklich viel tun kann. Es ist unsere Entscheidung wie wir mit Spaß, Unterhaltung und Sport umgehen und es ist sehr persönlich, so privat, dass es so ist als seien sie zwischen uns und unseren Herzen“, sagt er. „Tatsächlich wirkt die Ausweglosigkeit der Regierung wie eine Komödie, da sie händeringend versucht herauszufinden, was sie tun soll. Diese Entscheidungen müssen im Inneren des einzelnen Individuums getroffen werden; Entscheidungen darüber, wofür wir uns hergeben und wofür nicht.“

Der Roman ist eine zugespitzte Frage an Amerikas Bürger: Werden sie „die nötigen Mittel aufbringen, sich davor zu schützen, sich zu Tode unterhalten zu lassen?“

Sind Bildschirme besser als das echte Leben?

Der Roman war ein Blick in die Zukunft – nur ein paar Jahre, nicht ganz so weit. Wir leben nun in dieser Zukunft und Wallace wollte, dass die Alarmglocken heutzutage am lautesten läuten. „Das Buch soll am Anfang etwas surreal und ausgefallen und dann auf eine unheimliche Art und Weise gar nicht mehr so unwahrscheinlich erscheinen“, sagte er vor 22 Jahren.

„Pornographie wird durch die Möglichkeiten der virtuellen Realität immer echter. Wir müssen darüber nachdenken, welche Ressourcen wir in uns selbst und in unserer Gesellschaft kultivieren müssen, um uns dieser Technologie nicht auszuliefern, wenn man bedenkt, wie viele Menschen ihr Leben allein durch die Abhängigkeit von Peepshow-Videotheken ruiniert haben. Ich meine, vielleicht hört sich das albern an, aber Zeug wird immer besser und ich kann nicht erkennen, dass wir unserer Kultur, uns selbst oder unseren Kindern beibringen, wozu wir Ja sagen werden und wozu Nein.“

„Durch den Genuss von Unterhaltungs-angeboten schwächen wir den Appetit auf die solide Nahrung unserer täglichen Andacht.“
 

Ohne gegen Unterhaltungsmedien zu sein, läutet Wallace die Warnglocke. „Ich denke, dass wir als Kultur aufgehört haben oder ängstlich sind, uns selbst zu lehren, dass Vergnügungen gefährlich sind und einige Arten von Vergnügen besser sind als andere, und dass Teil davon, was es heißt Mensch zu sein, bedeutet, zu entscheiden, wie viel man an etwas aktiv teilnimmt.“

„Wir müssen unsere Beziehung zu Spaß, Vergnügen und Unterhaltung neu bewerten, da sie so gut werden und so viel Druck ausüben werden, dass wir eine Haltung ihnen gegenüber formen müssen, die uns leben lässt.“

Er hatte recht. Die Medien werden immer besser und anschaulicher. Die Computeranimationen (CGI Effekte) werden immer bewegter. Filme immer beeindruckender. Fernsehdramen immer unwiderstehlicher. Schauspieler immer überzeugender. „Wir müssen zu einem Verständnis kommen darüber, wie viel wir erlauben, da es wahrscheinlich viel mehr Spaß machen wird als das wirkliche Leben.“ Er sprach von Fernsehen, Filmen, Videospielen und Massenmedien, doch sogar die sozialen Netzwerke und das Internet, während es demokratisierende Stimmen sind, machen unsere Bildschirme nicht weniger attraktiv, und Wallace wusste das.

Bildschirme werden mehr Spaß machen als das wirkliche Leben. „Und umso besser die Bilder werden, desto verlockender wird es, mit Bildern statt mit anderen Leuten zu interagieren, und ich denke, desto leerer wird es in uns werden. Das ist nur eine Vermutung und nur meine eigene Meinung.“

Mäßigung der Medien

All dies war mehr als nur eine Theorie von Wallace, der seinen Fernseher weggeschmissen hat. „Ich habe keinen Fernseher, denn wenn ich einen Fernseher hätte, würde ich die ganze Zeit fernsehen.“ Das ist die einfache Selbsteinschätzung, die notwendig ist im Video-Zeitalter.

„Ich habe keinen eigenen Fernseher, doch das ist nicht die Schuld des Fernsehers. Es ist meine Schuld“, betont er. „Nach einer Stunde genieße ich es nicht mehr, fernzusehen, da ich mich schuldig fühle darüber, wie unproduktiv ich bin. Das Schuldgefühl bereitet mir Angst, was ich wiederum durch Ablenkung beruhigen will, sodass ich noch mehr fernsehe. Es wird nur noch niederdrückender. Meine Beziehung zum Fernseher deprimiert mich.“

Wir müssen nicht unbedingt alle unsere Fernseher in den Mülleimer werfen, aber wir sollten unseren Umgang mit Medien reflektieren. Dann muss eine Mäßigung der Medien beginnen. Nicht indem man fragt: „Beweise mir, dass meine Serie sündig ist“ oder „Gib mir eine klare Begrenzung für eine Mediendiät“ oder „Beweise mir, dass Videospiele verkehrt sind.“ Es beginnt mit einer bewussten Selbstreflexion, in der wir danach streben, uns höheren Freuden hinzugeben, indem wir Nein zu geringeren Genüssen sagen.

Unendlich viele gute Angebote 

Das Problem mit Videospielen ist nicht, dass Spiele schlecht sind, sondern, dass sie unendlich gut sind. Die Lizenzrechte von Spielen decken immer mehr ab, während die Spiele immer mehr dem wirklichen Leben gleichen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem alle Macher der digitalen visuellen Vergnügungskultur einen atemberaubenden Grad von Macht und Einfluss erreicht haben. Sie waren noch nie besser. Und sie werden immer noch besser.

Das Problem mit Fernsehen ist nicht, dass Fernsehen schlecht ist, sondern dass Fernsehen endlos gut ist, weil es uns genau das gibt, was wir wollen, wann auch immer wir es wollen. Unsere Angebot-und-Nachfrage-Plattform wächst mit Optionen, Neuerscheinungen und Klassikern vergangener Generationen. Während uns alles aus der Fernsehgeschichte angeboten wird, werden Neuerscheinungen immer komplexer und facettenreicher, grafisch beeindruckender und verlangen immer mehr von den Zuschauern, dass sie eintauchen und sich darauf konzentrieren.

Das heißt, dass wir, die Zuschauer, mit immer mehr glitzernden Ködern gelockt werden, uns passiv treiben zu lassen in einem realitätsfernen Traum, weg von unserem langweiligen Leben, indem „uns zugeflüstert wird, dass irgendwo das Leben schneller, dichter, interessanter, mehr ... ja, lebendiger ist als unser Leben momentan.“

Das tägliche Leben wird niemals mit dem televisuellen Zauber von Electronic Arts, Nintendo, Hollywood und HBO mithalten können.

Vorangehen

Ich meine nicht, dass wir keine Zeit mehr für die Stille Zeit haben, wenn wir der Unterhaltung nachgeben. Ich will damit sagen, dass wir durch den Genuss von Unterhaltungsangeboten den Appetit auf die solide Nahrung unserer täglichen Andacht schwächen. Das ist die viel größere Gefahr. Wir sollten nicht nur geradeso überleben mit der geistlichen Energie einer Motte, sondern in dem Bewusstsein der Gegenwart des Geistes aufblühen.

„Wir müssen nicht unbedingt alle unsere Fernseher in den Mülleimer werfen, aber wir sollten unseren Umgang mit Medien reflektieren.“
 

Wenn Wallace noch immer am Leben wäre, würde er uns mit Sicherheit immer noch dazu aufrufen, solchen Gedankenexperimenten auf den Grund zu gehen, um unsere Unterhaltungsernährung in Frage zu stellen. Doch Christen werden von der Schrift aufgefordert, das Gespräch weiterzuführen. Dies sind sehr persönliche Entscheidungen zwischen uns, unserem Herzen und unserem Gott, alle um unserer Seele und unserer eigenen Kinder willen; schützende Überzeugungen, die es uns ermöglichen werden, wirklich zu leben und unsere Herzen hinzugeben – nicht an einen flimmernden Bildschirm, der unsere Liebe nicht erwidern kann – sondern den geistlichen Freuden eines Retters, der unsere Liebe erwidern kann, weil er uns zuerst geliebt hat (1Joh 4,19).