Die „Widersprüchlichkeit“ der Bibel erklären

Artikel von Timothy Keller
19. Februar 2018 — 6 Min Lesedauer

Ich finde es frustrierend, wenn ich von Journalisten und Experten höre oder lese, dass Christen widersprüchlich sind, weil „sie sich von den Regeln der Bibel diejenigen herauspicken, die sie befolgen wollen“. Meistens höre ich: „Christen ignorieren einen Großteil des Alten Testaments – kein rohes Fleisch, Schweinefleisch oder Schalentiere zu essen, jemanden umzubringen, der den Sabbat bricht, keine Kleider aus zwei verschiedenen Stoffen zu tragen und so weiter. Dann lehnen sie aber Homosexualität ab. Picken sie sich nicht nur heraus, was sie von der Bibel glauben wollen?“

Ich erwarte nicht, dass jeder versteht, dass es in der ganzen Bibel um Jesus geht und um Gottes Plan, sein Volk zu erlösen, aber ich habe eine vorsichtige Hoffnung, dass die Menschen eines Tages erstmal ihren gesunden Menschenverstand einschalten (oder sich an einen theologischen Ratgeber wenden), bevor sie diesen Vorwurf der Widersprüchlichkeit machen.

Erstens, nicht nur das Alte Testament verbietet die Homosexualität. Das Neue Testament hat auch viel darüber zu sagen. Zum Beispiel, als Jesus in seiner Diskussion über Ehescheidung in Matthäus 19,3–12 davon spricht, dass die ursprüngliche Absicht Gottes war, dass ein Mann und eine Frau zu einem Fleisch vereinigt werden, und wenn das nicht geschehen kann (Vers 12), dass die Menschen sich dann der Ehe und Sex enthalten sollen.

Aber lasst uns nochmal über das größere Thema der Widersprüchlichkeit nachdenken in Bezug auf die Dinge, die im Alten Testament erwähnt, aber vom neutestamentlichen Volk Gottes nicht mehr praktiziert werden. Die meisten Christen wissen nicht, was sie antworten sollen, wenn sie mit diesem Vorwurf konfrontiert werden. Hier ist ein Einführungskurs über die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament.

„Aber selbst im Alten Testament wiesen die Verfasser darauf hin, dass die Opfer und die Regeln für die Anbetung im Tempel auf etwas Größeres zeigten.“
 

Das Alte Testament widmet der Beschreibung der verschiedenen Opfer, die in der Stiftshütte (und später im Tempel) dargebracht wurden, um die Sünden zu sühnen, damit die Anbeter sich dem heiligen Gott nähern konnten, viel Raum. Es gab auch komplexe Regeln für rituelle Reinheit. Man konnte sich Gott in der Anbetung nur nähern, wenn man bestimmte Speisen aß und andere nicht, bestimmte Kleidung trug und bestimmte Objekte nicht berührte, usw. Das kommunizierte immer wieder auf anschauliche Weise, dass die Menschen geistlich unrein sind und ohne eine Reinigung nicht in Gottes Gegenwart kommen können.

Aber selbst im Alten Testament wiesen die Verfasser darauf hin, dass die Opfer und die Regeln für die Anbetung im Tempel auf etwas Größeres zeigten (siehe 1Sam 15,2122; Ps 50,12–15; 51,18; Hos 6,6). Als Christus erschien, erklärte er alle Speisen für rein (Mk 7,19) und ignorierte die alttestamentlichen Reinheitsgebote auf unterschiedliche Weisen, beispielsweise, indem er Aussätzige und Tote berührte.

Der Grund dafür ist klar. Als er am Kreuz starb, riss der Vorhang im Tempel entzwei, wodurch aufgezeigt wurde, dass es keine Notwendigkeit mehr für das ganze Opfersystem samt seinen Reinheitsgeboten gab. Jesus ist das ultimative Opfer für Sünde und er macht uns nun rein.

Der gesamte Hebräerbrief erklärt, dass die alttestamentlichen Reinheitsgebote nicht so sehr abgeschafft, als in Christus erfüllt wurden. Immer wenn wir „in Jesu Namen“ beten, „haben wir Freimütigkeit zum Eingang in das Heiligtum kraft des Blutes Jesu“ (Hebr 10,19). Es würde demnach der Lehre der ganzen Bibel widersprechen, wenn wir immer noch die Reinheitsgebote befolgen würden.

Das Gesetz ist immer noch bindend

Das Neue Testament gibt uns weitere Hinweise, wie wir das Alte Testament lesen sollten. Paulus macht an Stellen wie Römer 13,8ff. deutlich, dass die Apostel das Moralgesetz des Alten Testaments als immer noch bindend erachteten. Kurzgefasst, das Kommen Christi hat verändert, wie wir anbeten, aber nicht wie wir leben. Das Moralgesetz zeigt den Charakter von Gott selbst auf – seine Integrität, Liebe und Treue. Und deshalb ist alles, was das Alte Testament darüber sagt, wie wir unseren Nächsten lieben, für die Armen sorgen, freigiebig mit unserem Besitz und unseren Beziehungen umgehen und unseren Familie treu sein sollen, immer noch in Kraft. Das Neue Testament verbietet immer noch Mord oder Ehebruch, und die ganze Sexualethik des Alten Testaments wird im Neuen Testament aufs Neue dargelegt (Mt 5,27–30; 1Kor 6,9–20; 1Tim 1,8–11). Wenn das Neue Testament ein Gebot erneut bekräftigt, dann ist es für uns heute immer noch gültig.

„Das Moralgesetz zeigt den Charakter von Gott selbst auf – seine Integrität, Liebe und Treue.“
 

Das Neue Testament erklärt auch eine weitere Veränderung zwischen den Testamenten. Sünden sind immer noch Sünden – aber die Strafen verändern sich. Im Alten Testament wurden Sünden wie Ehebruch oder Inzest durch zivile Sanktionen wie Hinrichtung bestraft. Das kommt daher, dass zu jener Zeit das Volk Gottes eine Nation bzw. einen Staat begründete, sodass alle Sünden zivile Strafen nach sich zogen.

Aber im Neuen Testament ist das Volk Gottes eine Gemeinschaft von Ortsgemeinden in der ganzen Welt, die unter ganz verschiedenen Regierungen leben. Die Kirche ist nicht eine zivile Regierung und mit Sünden wird durch Ermahnung und im schlimmsten Fall Ausschluss umgegangen. So ist Paulus mit einem Fall von Unzucht in der Korinthergemeinde umgegangen (1Kor 5,1ff. und 2Kor 2,7–11). Wieso diese Veränderung? Unter Christus ist das Evangelium nicht auf eine einzelne Nation beschränkt – es ist freigesetzt worden, um alle Kulturen und alle Völker zu erreichen.

„Unter Christus ist das Evangelium nicht auf eine einzelne Nation beschränkt – es ist freigesetzt worden, um alle Kulturen und alle Völker zu erreichen.“
 

Wenn du erst das Hauptanliegen der Bibel zulässt – dass es um den überschwänglichen Wert Christi und seiner Erlösung geht – dann ergeben die verschiedenen anderen Teile der Bibel Sinn. Wegen Christus ist das Zeremonialgesetz aufgelöst. Wegen Christus ist die Kirche nicht länger ein Staat, der zivile Strafen verhängt. Es ergibt Sinn. Aber, wenn man die Vorstellung von Christus als Sohn Gottes und Retter ablehnt, dann ist die Bibel natürlich im besten Fall ein Mischmasch, der ein bisschen Inspiration und Weisheit enthält, aber das meiste davon müsste als töricht und falsch abgelehnt werden.

Was heißt das für uns? Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Wenn Christus Gott ist, dann ergibt diese Art und Weise, die Bibel zu lesen, Sinn. Die andere Möglichkeit ist, die grundlegende These des Christentums abzulehnen – man glaubt nicht, dass Jesus der auferstandene Sohn Gottes ist – und dann ist die Bibel kein gewisser Wegweiser für irgendwas. Aber man kann nicht aufrichtig sagen, dass Christen mit ihren Glaubenssätzen im Widerspruch stehen, wenn sie moralische Aussagen des Alten Testaments befolgen, aber andere Aussagen nicht praktizieren.

Ein Weg, auf den Vorwurf der Widersprüchlichkeit zu reagieren, ist, dass man eine Gegenfrage stellt: „Verlangst du von mir, den Kern meines christlichen Glaubens zu leugnen?“ Wenn du gefragt wirst: „Warum sagst du das?“, könntest du antworten: „Wenn ich glaube, dass Jesus der auferstandene Sohn Gottes ist, kann ich die ‚Reinheitsgebote‘ nicht befolgen und ich kann keine Tiere opfern. All das würde die Kraft von Jesu Tod am Kreuz leugnen. Und deshalb müssen diejenigen, die wirklich an Christus glauben, manche alttestamentlichen Texte befolgen und andere nicht.“