Warum sollten Christen heute Jonathan Edwards lesen?

Artikel von Jeremy M. Kimble
19. Februar 2018 — 6 Min Lesedauer

Jedes Semester, wenn ich Studenten in Theologie unterrichte, lasse ich sie ein oder zwei Texte von Jonathan Edwards lesen – und jedes Mal bekomme ich eine von zwei Reaktionen zu hören. Erstens, es sei viel zu kompliziert, Edwards zu lesen! Die zweite Reaktion, die ich von einigen Studenten zu Edwards höre, ist, dass er ganz anders auf das Leben blickt als sie es tun. Sie sind überrascht, irritiert und manchmal auch inspiriert von der Art und Weise, wie Edwards über den Gott der Schrift spricht. Er spricht ausführlich, voller Leidenschaft und in einer Vertrautheit über Gott, die sie nicht gewohnt sind, was erklärt, warum ich sie Edwards überhaupt lesen lasse.

Drei Gründe

Es gibt viele Gründe, warum Christen heutzutage Edwards lesen sollten. Doch um den Rahmen nicht zu sprengen, will ich nur drei davon nennen:

1. Um Gott deutlicher zu sehen

„Edwards zu lesen erweist sich als außerordentlich gewinnbringend für das Leben als Christ, da man geschult wird, Gott zu sehen.“
 

Wie auch mit jeder anderen Person der Kirchengeschichte, ist Edwards zu lesen nicht der Bibellese gleichzusetzen. Ein erster Nutzen ist jedoch, dass man durch die Lektüre von Edwards ein hilfreiches und tieferes Verständnis der großartigen Geschichte der Bibel erlangt. Wie Dane Ortlund es ausdrückt: „Edwards zu lesen bedeutet, Gott zu sehen. Nicht, weil Edwards wie Gott aussah, sondern weil Edwards auf Gott gesehen hat – ständig, sorgfältig und nachdrücklich. Anschließend hat er aufgeschrieben, was er gesehen hat … Jonathan Edwards zu lesen bedeutet, einen neuen Horizont eröffnet zu bekommen, sodass die inneren Augen anfangen, die unwiderstehliche Schönheit und die reine Freude zu sehen, den Überfluss aus dem die Welt geschaffen wurde. Es bedeutet, geschult zu werden, wirklich Mensch zu werden – strahlend, zutiefst ruhend; erfreut, in dieser Welt der unerbittlichen Schmerzen und voller hohler alternativer Vergnügungen die Liebe von der Liebe selbst zu empfangen und zurückzugeben.“

So erweist sich Edwards zu lesen als außerordentlich gewinnbringend für das Leben als Christ, da man geschult wird, Gott zu sehen, wie er ist, und von einem Grad der Herrlichkeit in eine andere verändert zu werden (2Kor 3,18).

2. Um sich selber in einem wichtigen historischen Kontext zu verorten

„Ich bin dankbar für die Geistlichen vergangener Zeit, die mich immer wieder zurück zur Bibel bringen, damit ich den Gott aller Dinge sehen und genießen kann.“
 

Ein zweiter Grund, Edwards zu lesen, besteht darin, sich selber in einem historischen Kontext verorten zu können, der eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Evangelikalismus gespielt hat. Edwards war Pastor einer Gemeinde in Northampton in Amerika in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese Zeit ist auch bekannt als die erste große Erweckung, eine Zeit von unübersehbarer Erweckung in England und in den amerikanischen Kolonien. Edwards diente – zusammen mit anderen wie George Whitefield und John Wesley— als einer der wesentlichen Katalysatoren dieser Erweckungen. Er unterstützte und verteidigte gemeinsam mit anderen die Erweckung vor ihren Kritikern, aber warnte zugleich auch an einigen kritischen Stellen vor emotionalen und geistlichen Auswüchsen.

Fast 300 Jahre später gehen die Art und Weise, wie wir als Christen unser geistliches Leben gestalten, evangelisieren und Erweckungen bewerten nicht zu einem kleinen Teil zurück auf Edwards sorgfältige Einordnung der großen Erweckung. Er war ein sorgfältiger Denker, der sich in seinen Schriften intensiv mit Lehren wie Bekehrung, Heilssicherheit, Ausharren und der wahren Zeichen von Glauben befasst hat. Wir verdanken ihm sehr viel.

3. Um von dem Umfang der Theologie Edwards zu profitieren

Zuletzt können Christen von dem großen Umfang der Theologie Edwards profitieren. Während die Fülle an Material, die er während seines Lebens geschrieben hat, überwältigend ist – momentan lassen sich alle 73 Bände von Edwards unter edwards.yale.edu auf Englisch einsehen — ist es hilfreich zu sehen, was dieser große Geist über eine Reihe von theologischen Themen gedacht hat. Wenn jemand wissen will, was Edwards Gedanken über den freien Willen, Erbsünde, Ethik, Bekehrung, Heilsgeschichte, Typologie, Ekklesiologie oder Eschatologie war, kann er das sehr leicht tun, da Edwards über diese und viele andere Themen geschrieben hat.

Seine Leser werden nicht allen seinen Schlussfolgerungen zustimmen, doch sie haben die Möglichkeit, Edwards Argumentationsweise nachzuvollziehen und zu sehen, wie er mit der Schrift umgegangen ist, und zu erkennen, wie er versucht hat, ein treuer biblischer Denker zu sein. Auch seine erhaltenen Predigten sind ein großer Gewinn. Sie zeigen, dass dieser Mann wirklich ein Theologe der Kirche Jesu gewesen ist und nicht einfach nur ein schreibender Akademiker.

Wo sollte ich beginnen?

Insbesondere Pastoren werden von Edwards profitieren, da sie einen deutlicheren Blick auf Gott bekommen, in eine bestimmte und wichtige historische Zeit eintauchen und von Edwards Weisheit zu einer Vielzahl von Themen berücksichtigen können.

Auf Englisch gibt es viele Bücher, die in das Leben und Werk Edwards einführen (vgl. dazu den englischen Originalartikel unter der Überschrift „Where should I begin?“). Im Deutschen ist die hervorragende Biographie von Ian H. Murray „Jonathan Edwards. Ein Lehrer der Gnade und die große Erweckung“ ein guter Einstieg in Edwards Leben. Außerdem ist mittlerweile „Religious Affections“ auf Deutsch erschienen, sowie einige kurze Schriften von Edwards. (A. d. Ü.)

„Wenn wir unsere Gemeinde gut ernähren wollen, müssen wir die Wahrheiten aus Gottes Wort mit unseren Köpfen und Herzen verstehen.“
 

Pastoren sind mit so vielen Aufgaben beschäftigt, und es ist oft schwierig, zur Ruhe zu kommen und seine eigene Seele zu nähren. Wenn wir unsere Gemeinde allerdings gut ernähren wollen, müssen wir die Wahrheiten aus Gottes Wort mit unseren Köpfen und Herzen verstehen. Und diese Wahrheiten können von denen übermittelt werden, die voller Freude ihr ganzes Dienstleben über den biblischen Text nachgedacht haben, so wie Edwards. Als Pastoren und Prediger können wir lernen, die Schätze der Schrift zu entdecken und unsere Gemeinde sowohl persönlich als auch gemeinschaftlich zu nähren, auch wenn wir hoffentlich Edwards Verhalten vermeiden, 13 Stunden jeden Tag im Studierzimmer zu verbringen.

Wenn unsere Sicht von Gott schwach ist, werden unsere Seelsorge, Ermahnungen und Predigten fade sein. Wenn wir ahnungslos in Bezug auf Kirchengeschichte und ihre wichtigsten Wendepunkte sind, wird es sowohl an Kohärenz der theologischen Fachdisziplinen mangeln, als auch an Tiefe in unserem Dienst. Doch wenn wir diese Dinge verfolgen, um unserer Gemeinde und der Ehre Gottes willen, werden sie dadurch gesegnet werden.

Auf diesem Weg wird Jonathan Edwards uns als hilfreicher Wegweiser dienen. Auch wenn er eine Herausforderung darstellt, wird er für diejenigen, die durchhalten, sehr gewinnbringend sein. Ich bin dankbar für die Geistlichen vergangener Zeit, die mich immer wieder zurück zur Bibel bringen, damit ich den Gott aller Dinge sehen und genießen kann.