Eine Kultur des Jüngermachens etablieren
Für viele Evangelikale war die Willow Creek Community Church aus den Vorbezirken von Chicago in den späten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine Messlatte für erfolgreichen christlichen Dienst. Aber im Jahr 2007, als Folge einer Umfrage in über dreißig Kirchen im Willow Creek Netzwerk, bekannte Gründungspastor Bill Hybels und das Leitungsgremium von Willow Creek öffentlich das Versagen ihres Ansatzes, Jünger zu machen.
Sie hatten angenommen, dass Gemeindebesuch und Teilnahme an christlichen Veranstaltungen und Programmen „Jünger Christi produzieren würden“.1 Stattdessen gestand Greg Hawkings, leitender Pastor von Willow Creek, ein, dass „zunehmende Stufen von Teilnahme an diesen Aktivitäten NICHT vorhersagen, ob jemand mehr zu einem Jünger Christi wird. Sie sagen NICHT voraus, ob jemand Gott mehr liebt oder andere Menschen mehr liebt“.2 Obwohl Willow Creek einen eklatanten Mangel in ihrem Megachurchdienst offenbarte, führte ihre Lösung zu einem anderen Extrem. Sie schlugen vor, ihren Jüngerschaftsmangel zu lösen, indem sie jedes Mitglied mit einem individuellen Plan versorgten, sodass er oder sie ein „Selbsternährer“ werden könnte.3
Das Willow Creek Jüngerschaftsdilemma zeigt zwei Extreme beim Jüngermachen auf. Am einen Ende ist der Glaube, dass Anwesenheit und Teilnahme an Gemeindeaktivitäten und Gemeindeprogrammen Jünger erzeugt. Am anderen Ende ist der Glaube, dass individuelle Jüngerschaftspläne und persönliche Bibelstudien Jünger hervorbringen. Jüngermachen ist ein Gebot, das der Gemeinde von dem auferstandenen Herrn gegeben wurde; es ist unsere Mission. Wenn eine Kirche treu sein will, diese Mission zu erfüllen, dann muss sie eine Kultur entwickeln, in der angemessene Evangeliumsbeziehungen (Ehemänner und Ehefrauen, Eltern und Kinder, Familienmitglieder, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen) entstehen und Mitglieder einander helfen, in Christusähnlichkeit zu wachsen.4 Die Frage ist natürlich, wie? Wenn wir von der Schrift her verstehen, was es bedeutet, Jünger zu machen, werden wir fähig sein, das wieso, wo und wie des Jüngermachens zu verstehen.
Das Was des Jüngermachens
Die Propheten schauten voraus auf die Wiederherstellung Israels und die daraus folgende militärische Eroberung aller Nationen (Jes 54,1-3). Wir erfahren jedoch im Neuen Testament, dass diese militärische Eroberung in Wirklichkeit ein missionarisches Unterfangen ist. Im großen Missionsbefehl (Mt 28,18–20) werden die alttestamentlichen Hoffnungen verwirklicht. Davids Hütte wird repariert, neu erschaffen und wie in früheren Tagen gebaut, und Israel wird auf Grundlage eines neuen Bundes wiederhergestellt, „sodass sie den Überrest Edoms in Besitz nehmen werden und alle Heidenvölker, über die mein Name ausgerufen worden ist, spricht der HERR, der dies tut“ (Am 9,12). Als König aller Könige und Herr aller Herren (Mt 28,18) befiehlt Jesus seinen Jüngern, die Nationen einzunehmen – nicht durch militärische Macht, sondern durch missionarische Anstrengungen, indem sie alle Nationen zu Jüngern machen (Mt 28,19).
Jesus erklärt das „Wie“ unseres Jüngermachens, indem er zwei Imperative und zwei Partizipien verwendet: „geht und macht“ (während oder indem ihr) „tauft und lehrt“ (Mt 28,19–20).5 Jüngermachen fängt an, indem wir in die Welt hinaus gehen und die gute Nachricht des Königs und seines Reichs verkünden, und alle Menschen überall dazu aufrufen, umzukehren und sich vor König Jesus zu beugen. Alle, die dem König ihre Treue schwören und allen anderen Reichen und Autoritäten abschwören, werden durch die Taufe in die Gemeinschaft des Königs aufgenommen. Jüngermachen umfasst den lebenslangen Prozess des Lehrens und Lernens, alles zu halten, was der König befohlen hat. Zu lange schon haben Evangelikale den „Gehen“-Teil der Mission auf Kosten des „Lehren“-Teils betont, aber es gibt einen Grund, warum Jesus diesen Aspekt in das Jüngermachen einschließt.
Das Warum des Jüngermachens
Unter dem alten Bund war es Israels Mission als Königreich von Priestern und heiliges Volk, die Herrschaft Gottes den umliegenden Nationen darzustellen. Sie lebten im Land Kanaan und hielten ihre religiösen, moralischen und zivilen Besonderheiten gegenüber ihren ungläubigen Nachbarn aufrecht, um den umliegenden Nationen zu zeigen, wie Gott ist und wie es ist, unter seiner Herrschaft zu leben. Jeder, der Israels Gott annahm und zu einem ausschließlichen Anbeter Jahwes wurde, konnte Teil der Bundesgemeinschaft werden; aber die Propheten erwarteten auch eine Zeit der eschatologischen Sammlung, wenn Gott, unter dem davidischen König, die Nationen nach Zion sammeln würde (Jes 55,6–8; 66,18–24).
Der große Missionsbefehl erinnert uns daran, dass die Gemeinde das Instrument von Gottes eschatologischer Sammlung ist. Jesus ruft seine Nachfolger dazu auf „alle Nationen zu Jüngern zu machen“, wobei sie das Evangelium des Reichs und die Herrlichkeit unseres Königs verkündigen. Aber das bedeutet nicht, dass die Mission des alten Israels nun veraltet ist – die Gemeinde behält die Mission des alten Israels als königliche Priesterschaft und heiliges Volk (1Petr 2,9). Sie ist jedoch nicht mehr auf einen einzelnen geographischen Ort begrenzt. Jede wahre Ortsgemeinde ist ein Ausdruck auf Erden – eine Botschaft, sozusagen – des himmlischen Jerusalems (Hebr 12,18-24), und jeder Christ ist ein Botschafter von König Jesus. Beim Jüngermachen helfen Christen einander, Jesus nachzufolgen, indem sie einander lehren, alles zu halten, was er befohlen hat, damit sie unseren König und seine Herrschaft treu gegenüber einer ungläubigen Welt repräsentieren, angefangen mit unseren ungläubigen Kindern, unserer Familie, Nachbarn, Freunden und Mitarbeitern, bis zum Ende der Erde (Apg 1,8). Warum Jüngermachen? Weil die Kirche das Instrument von Gottes eschatologischer Sammlung ist. Unsere Mission ist Anziehung und Verkündigung.
Das Wo des Jüngermachens
Die Ortsgemeinde ist der primäre Kontext des Jüngermachens. Während Gott ein verschiedenartiges Volk durch die Evangeliumsverkündigung rettet und Jude und Heide in eins zusammenbringt (Eph 2), sind wir Zeugen der Tatsache, dass „damit jetzt den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen Regionen durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes bekanntgemacht werde“ (Eph 3,10). Mit anderen Worten, wir verherrlichen Gott, indem wir als eine Gemeinde in vereinter Vielfalt zusammenleben – Vielfalt der Ethnien, sozioökonomischen Klassen und Geschlechter – als eine Familie zusammenlebend.
Aber eine vereinte Vielfalt kommt nicht von allein. Als Mitglieder von Ortsgemeinden müssen wir beständig einander die Wahrheit des Evangeliums in Liebe sagen und einander helfen, mehr wie Jesus auszusehen (Eph 4,15–16). Das Ziel des Jüngermachens ist Christusähnlichkeit. Und die Ortsgemeinde ist der Kontext, in dem wir einander helfen, in Christusähnlichkeit zu wachsen, damit wir unserer Berufung würdig wandeln (Eph 4,1): in Einheit (4,1–16), in Heiligkeit (4,17–32; 5,2–14) und in Liebe (5,1). Wie können wir also einander helfen, in solcher Weisheit zu wandeln (5,15–21)?
Das Wie des Jüngermachens
Wenn wir der Mission treu sein wollen, die König Jesus seiner Gemeinde gegeben hat, dann müssen wir eine Gemeindekultur etablieren, in der Jüngermachen normal und natürlich ist, eine Kultur, wo jedes Mitglied Teil von Beziehungen ist, die einander helfen, in Christusähnlichkeit zu wachsen. Während ich zugegebenermaßen nicht alle Antworten habe, möchte ich hier einige Beobachtungen teilen über das, was sich als hilfreich dabei erwiesen hat, solch eine Kultur in der Gemeinde, in der ich diene, zu etablieren.
In einer Kultur der Jüngerschaft praktizieren Pastoren/Älteste auslegendes Predigen.6 Während Predigen allein keine Jünger hervorbringt, weist treue, fortlaufende, anwendungsorientierte Auslegung die Richtung für die Gemeinde und legt das Fundament für eine Kultur, in der Christus erhoben, das Evangelium verkündigt und der Schrift gehorcht wird. Solches Predigen lehrt die Gemeinde, wie sie die Bibel für sich selber und für einander lesen, interpretieren und anwenden kann. Aus solchem Predigen können Gemeindeleiter Diskussionsfragen vorbereiten, die den Mitgliedern helfen, die wöchentliche Predigt in Kleingruppen oder im persönlichen Studium anzuwenden.
In einer Kultur der Jüngerschaft machen Pastoren/Älteste Jüngerschaft vor. Älteste sollten Zeit mit Männern in der Gemeinde verbringen und ihnen helfen, in Christusähnlichkeit zu wachsen. Sie sollten eine Liste von Männern haben, insbesondere jüngeren Männern, die auf ihrem „Radar“ sind. Und sie sollten zu dieser Liste Namen von Männern auf einem „Ältestenpfad“ hinzufügen – Männer, auf die die Gemeinde in Bezug auf mögliche zukünftige Ältestenschaft achten sollte. Machen sie Jüngerschaft mit ihrer Familie und anderen? Geben sie das Evangelium an Ungläubige weiter? Nutzen sie Möglichkeiten, in der Gemeinde zu lehren und erweisen sie sich fähig dazu? Das Ziel ist es, dass die Männer, mit denen die Ältesten Jüngerschaft machen, anfangen, Jüngerschaft mit anderen zu machen.
In einer Kultur der Jüngerschaft ermutigen Pastoren/Älteste das Jüngermachen. Gemeindeleiter müssen fortwährend über Jüngermachen reden. Wenn du einen Mitgliedschaftsprozess hast, fang dort an. Hilfe jedem neuen Mitglied zu verstehen, wie deine Gemeinde den Missionsbefehl erfüllt. Erkläre das was, wieso, wo und wie des Jüngermachens und ermutige sie, sich an dieser Mission zu beteiligen. Und erinnere die Gemeinde an die Mission des Jüngermachens im gemeinschaftlichen Gebet. Bete regelmäßig, dass sich jedes Mitglied an angemessenen Evangeliumsbeziehungen beteiligt, wo sie einander helfen, in Christusähnlichkeit zu wachsen. Lade die Gemeinde ein, für solch eine Kultur zu beten und feiert miteinander ermutigende Jüngerschaftsgeschichten. Es ist wichtig, dass wir regelmäßig über Jüngermachen reden.
In einer Kultur der Jüngerschaft schafft die Gemeinde Orte, wo Mitglieder angemessene, persönliche Evangeliumsbeziehungen knüpfen können. Als Christen fangen wir an, miteinander in Bruder/Schwester-Beziehungen umzugehen. Aus diesen geschwisterlichen Beziehungen entstehen dann tiefverwurzelte Evangeliumsfreundschaften. Und wenn Jüngermachen von Beziehungen abhängt, müssen wir es so einfach wie möglich für unsere Mitglieder machen, sich gegenseitig kennenzulernen. Die Sonntagsgottesdienste sind für die meisten Mitglieder die größten und am wenigsten einschüchternden Gelegenheiten. Nimm dir Zeit vor oder nach dem Gottesdienst, nicht nur um Besucher zu begrüßen, sondern auch, um die Mitglieder kennenzulernen, mit denen du noch keine Beziehung hast. Wenn deine Gemeinde ein Mitgliederverzeichnis hat, benutze es, um die Namen der Mitglieder kennenzulernen und für sie zu beten. Strebe vorsätzlich angemessene Evangeliumsfreundschaften an, aus denen Jüngerschaftsbeziehungen entstehen können.
Viele Gemeinden benutzen Sonntagsschulklassen oder Kleingruppen, damit die Mitglieder Gemeinschaft haben, das Wort Gottes studieren und füreinander beten. Obwohl solche Begegnungsorte hilfreich sind, geht es beim Jüngermachen nicht darum, dass jeder in einer Kleingruppe ist oder einen persönlichen Jüngerschaftsplan hat; es geht darum, dass die Mitglieder einander lieben und als Gemeinde zusammenleben, wobei sie einander helfen, Jesus nachzufolgen und in Christusähnlichkeit zu wachsen. Deshalb ist es wichtiger, jedes Mitglied zu ermutigen, sich an Jüngerschaftsbeziehungen zu beteiligen, bei denen sie sich mit einem oder zwei anderen Mitgliedern treffen.
Aber stell sicher, dass für die gemeinsamen Treffen klare Ziele gesteckt sind. Es ist gut, sich als Brüder und Schwestern in Christus zu treffen, um über Theologie und Themen der Welt zu reden, oder einfach nur, um zusammen Spaß zu haben, aber das Ziel des Jüngermachens ist es, in Christusähnlichkeit zu wachsen. Wenn du dich zur gemeinsamen Ermutigung triffst, lest die Bibel und betet zusammen, ermutigt und ermahnt einander und tragt die Last des anderen, entsprechend eurer Möglichkeiten.
Zusammenarbeit in Christus
Wir könnten noch viel mehr über Jüngermachen in der Ortsgemeinde sagen.7 Der Punkt ist jedoch, dass Pastoren und Mitglieder, Älteste und andere Gemeindeleiter zusammenarbeiten müssen, um eine Gemeindekultur zu etablieren, wo Mitglieder zu angemessenen Evangeliumsbeziehungen angespornt werden, in denen sie sich beständig einander die Wahrheit des Evangeliums in Liebe sagen, sodass sie zusammen in Christusähnlichkeit wachsen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, aber zusammen können wir anfangen, Schritte in die Richtung zu machen, eine Kultur des Jüngermachens in der Gemeinde zu entwickeln.
Juan R. Sanchez ist Pastor der High Pointe Baptist Church in Austin, Texas. Dieser Artikel erschien zuerst bei Modern Reformation / White Horse Inn. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
1 „Willow Creek tut Buße? Wieso die einflussreichste Kirche Amerikas nun sagt: ‚Wir haben einen Fehler gemacht‘“ CT Pastors, http://www.christianitytoday.com/pastors/2007/october-online-only/willow-creek-repents.html.
2 „Willow Creek tut Buße?“
3 „Willow Creek tut Buße?“
4 Ich möchte nicht sagen, dass es niemals einen Kontext geben kann, wo Männer und Frauen einander ermutigen können, in Christusähnlichkeit zu wachsen. Zum Beispiel sind Pastoren für die ganze Gemeinde verantwortlich, einschließlich der Frauen. Also haben Männer, die als Pastoren dienen, die Verantwortung, den Hirtendienst gegenüber Frauen auf angemessene Weise auszuüben. Das umfasst das öffentliche Predigen und Lehren. Zusätzlich haben wir im Rahmen von Familienbeziehungen große Möglichkeiten, einander in Christsusähnlichkeit zu ermutigen, sowohl Männer als auch Frauen. Aber als allgemeine Regel ist es weise, Evangeliumsbeziehungen zu ermutigen, in denen Jüngerschaft auf der Ebene angemessener geschwisterlicher Nähe geschieht: Männer mit Männern, Frauen mit Frauen.
5 Diese Partizipien drücken Imperative aus, aber der Hauptbefehl ist „macht zu Jüngern“.
6 Mit auslegendem Predigen meine ich Predigen, bei dem der Punkt des biblischen Textes auch der Punkt der Predigt ist, der angemessen auf die Gemeinde angewandt wird.
7 Es gibt hilfreiche Ressourcen, die weiter ausführen, wie man eine Kultur der Jüngerschaft in der Ortsgemeinde etabliert. Siehe Mark Dever, Discipling: How to Help Others Follow Jesus (Wheaton, IL: Crossway 2016); und Colin Marshall und Tony Payne, The Vine Project: Shaping Your Ministry Culture Around Disciple-Making (Sydney, Australia: Matthias Media, 2016).