Kann man Mission lieben, ohne die Ortsgemeinde zu lieben?

Artikel von 9MarksMinistries und Caleb Greggsen
18. Januar 2018
Bild: dudescience, via Pixabay CC0

Klingt das vertraut? Der Studienanfänger Tim schließt sich eurer Gemeinde an. Er brennt für Jesus. Er will sein Leben Jesus hingeben, was für ihn bedeutet, zu den unerreichten Volksgruppen in den schwierigsten Teilen der Welt zu gehen. Tim kann das westliche Christentum der Mittelschicht kaum ausstehen ­– ihre Selbstgefälligkeit und ihre Komfortverliebtheit. Auf dem Weg zu Vorlesungen hört er Predigten von David Platt und kann kaum abwarten, endlich sein Studium zu beenden, um dann das Evangelium direkt in den Dschungel von Indonesien oder Ecuador zu bringen, zu denen, die es noch niemals zuvor gehört haben. Die meisten Gespräche, die du mit Tim führst, sollen ihm helfen, gnädiger über seine Mitchristen aus seiner Gemeinde zu denken – den Christen, die ihr Land niemals verlassen haben, aber ihren Herrn lieben und ihm treu mit ihrem gewöhnlichen und ruhigen Leben dienen.

Und dann … trifft Tim Tina. Sie verlieben sich. Der Studienabschluss rückt immer näher und ihm wird klar, dass er einen Job braucht (zumindest, um einen Ring kaufen zu können). Tina hat einen Haufen Studienschulden und Tim erkennt, dass sie diese erstmal abzahlen müssen, bevor sie irgendwohin gehen können. Zugleich hat Tim angefangen zu verstehen, wie wichtig es ist, dass andere Christen in seinem Leben involviert sind, insbesondere aus seiner Ortsgemeinde. Mittlerweile gehört er zum Kern der Gemeinde, erscheint ständig zu Gemeindeveranstaltungen und dient aufopferungsvoll Notleidenden. Er initiiert evangelistische Dienste und mobilisiert andere, mit anzupacken. Sein Leben wir von Treue charakterisiert: Er liebt seine Frau, ist ein vorbildlicher Arbeitnehmer und dient der Gemeinde. Langsam verblasst sein Traum davon, nach Übersee zu reisen, angesichts der Verantwortungen und Freuden seines jetzigen Lebens. Bald schaut er auf einen neuen aufgeweckten Studienanfänger, der voller Elan ist, schüttelt lächelnd seinen Kopf und denkt daran, dass er auch mal so gewesen ist wie dieser junge Mann.

Dieses Szenario hat sich immer wieder vor meinen Augen abgespielt. Einerseits ist es nicht verkehrt, wenn Leute entscheiden, dass der Herr sie nicht zur interkulturellen Mission berufen hat. Sich an eine Ortsgemeinde langfristig zu gewöhnen, einer säkularen Arbeit nachzugehen und ein ruhiges Leben zu führen ist nicht nur „okay“ – es ist eine ehrenwerte Berufung, die der Herr vielen gibt.

Und trotzdem bin ich darüber verwundert, warum wir solchen jungen eifrigen Menschen nicht helfen, gerade weil wir erleben, dass nur die Dickköpfigsten dem Missionsdienst am Ende nachgehen. Für mich ist diese Situation alles andere als abstrakt, da meine Frau, meine Tochter und ich letztes Jahr in den Nahen Osten gezogen sind.

Das ist aus mindestens zwei Gründen wichtig. Erstens gibt es die schlimme Tendenz sowohl bei denen, die „bleiben“ und als auch bei denen, die „gehen“ (zumindest bei den Jüngeren), die Motive der anderen „Seite“ in Frage zu stellen. Zweitens, missionarischer Eifer und Liebe zur Ortsgemeinde sollten in unserem Herzen nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Wenn eines über den anderen gewinnt, tut sich ein Problem auf, denn schließlich ist die Gemeinde der Leib, dem unser Herr den Missionsauftrag anvertraut hat.

Anregungen zum Nachdenken

Das ist nicht nur ein Problem, weil wir alle miteinander auskommen müssen. Die ungewollte Konsequenz dieses Spagats ist, dass die Leute, die um des Evangeliums willen nach Übersee ziehen wollen, meistens diejenigen sind, die am wenigsten von der Wichtigkeit der Ortsgemeinde überzeugt sind. Wenn Leute Mission und die Ortsgemeinde als zwei absolut voneinander getrennte und deswegen sich gegenseitig ausschließende christliche Lebensstile wahrnehmen, verlieren wir nicht nur begabte Leute, die großartige Missionare geworden wären; wir bauen Gemeinden, die glauben, dass Mission etwas ist, das „jene Leute“ irgendwo da draußen machen, aber nicht wir. Wie sollten wir als Gemeinden darauf reagieren? Wie können wir Leuten helfen, insbesondere jungen Leuten, weise Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie ihr Leben in Gottes Dienst stellen können? Wie können wir es ernsthaft tun, ohne dabei die Entscheidungen „hier zu bleiben“ oder auch „zu gehen“ zu verteufeln oder zu erhöhen?

Die Frage sprengt ganz offensichtlich den Rahmen eines kurzen Artikels, aber hier sind einige einleitende Anregungen: 

1. Die Ortsgemeinde ist wichtig, doch nicht nur deine eigene.

Wenn Leute sagen, dass ihre Liebe zur Gemeinde gewachsen ist, meinen sie meistens, dass ihre Liebe für eine bestimmte Ortsgemeinde gewachsen ist und für die Leute, die in ihr sind. Natürlich ist das großartig. Ich bete, dass es auf immer mehr Christen zutrifft. Doch unser Leben ist nicht notwendigerweise an eine Ortsgemeinde für den Rest unseres Lebens gebunden. Wenn du dir dein Leben nicht ohne eine bestimmte Gemeinde vorstellen kannst, reflektiert es vielleicht die Liebe zum Komfort, den du jetzt gerade erlebst, statt die Liebe zur Braut Christi.

Die Ortsgemeinde ist wesentlich in Gottes Plan. Christus selbst hat uns verheißen, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können (Mt 16,18). Doch das bedeutet nicht, dass deine Gemeinde wesentlich sein wird bis Jesus wiederkommt. Während wir Leute lehren, die Ortsgemeinde zu lieben, sollten wir sie auch lehren, das Reich Gottes mehr zu lieben, damit sie bereit sind die Gemeinschaft einer Gemeinde aufzugeben um anderen zu helfen, wenn der Herr sie dazu beruft – egal ob es irgendwo um die Ecke ist oder auf der anderen Seite des Globus. Unsere Mitgliedschaft in einer Gemeinde ist bedeutend, weil es eine Bestätigung davon ist, dass wir Teil des Reiches Gottes sind. Unsere Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde zählt, weil es ein Ausdruck einer weitaus wichtigeren Mitgliedschaft ist: in der kommenden himmlischen Versammlung.

2. Mission kann aufregend sein, aber ist nur selten romantisch.

Ein Grund dafür, warum junge Leute so eine Leidenschaft für Mission haben, ist, dass sie es als ein großes Abenteuer ansehen. Versteh mich nicht falsch, es ist spannend, Teil davon zu sein, wie das Evangelium voranschreitet. Es ist sowohl spannend abstrakt darüber nachzudenken als auch in wirklichen Momenten, wenn Menschen zum Glauben kommen, im Glauben wachsen und eine Gemeinde entsteht. Doch Mission hat auch sehr viel mit dem Alltag zu tun. Lass mich beschreiben, wie die ersten Monate in Übersee aussehen: Papierkram, für ein Visum bewerben, in eine Wohnung umziehen, unsere Wohnung möblieren, auf das Visum warten, bürokratischer Papierkram, in einer neuen Stadt zurechtkommen, neue Verkehrsregeln erlernen, herausfinden wo man Essen kauft, weiterer administrativer Papierkram – und habe ich schon den Papierkram erwähnt? Ergänze das alles um weitere grundsätzliche Herausforderungen, die ein Umzug mit sich bringt – neue Freundschaften schließen, neue Leute treffen, sich an einen neuen Job und Arbeitsabläufe gewöhnen, sich ans Elternsein gewöhnen (in unserem Fall) – und alle Romantik verblasst schnell.

So wie das Leben überall ist das Leben in Übersee voller alltäglicher Momente. Einen ganzen Tag bei der Post warten oder sich in einer neuen Stadt zu verlaufen, ist nicht unbedingt das, was man in einer Missionsbiographie finden wird. Wenn deine hauptsächliche Motivation für ein radikales Leben der Nervenkitzel ist, wirst du es nicht lange in den Beschwernissen des wirklichen Lebens aushalten. Deine Gemeindemitglieder brauchen eine stärkere Sicht auf die Endzeit; von dem Ziel, auf das ihr zusteuert. Sie brauchen ein tiefes Verständnis, was es bedeutet, als Christ Treue zu leben. Tag für Tag.

3. Mission verlangt Opfer.

So wie jede andere Form des Lebens eines Christen, verlangt Mission Opfer (Röm 12). Vielleicht als Reaktion auf die jugendliche Romantisierung des „radikalen“ Lebensstils, zu dem Autoren wie Platt oder Francis Chan aufrufen, scheinen einige zu argumentieren, dass Christen viel mehr anstreben sollten als ihre hauptsächliche Verantwortung als Familienmitglied, Gemeindemitglied oder Arbeitnehmer zu erfüllen. Doch das kann nicht stimmen. Es ist gut und richtig für Christen, sich zu wünschen, auf großartige Weise für Gott gebraucht zu werden – für den Namen des Herrn, nicht für ihren eigenen.

In einigen Fällen bedeutet nach Übersee umzuziehen, an einen Ort zu kommen, an dem es momentan keine Gemeinde gibt. Das ist ein großes Opfer, das ein Christ bringen kann, und es wird hoffentlich von Christen gebracht, die den Preis des Opfers spüren und nicht von Christen, die stumpf sind für ihre Abhängigkeit von der Ortsgemeinde. Denk darüber nach, wie oft der Apostel Paulus zutiefst die Gemeinden vermisst hat, die er zurückgelassen hat. Er verließ sie nicht wegen eines Abenteuers oder aus Spaß – er ließ sie zurück, damit mehr Gemeinden an mehr Orten zur Ehre Gottes entstünden.

Dass viele Gemeinden ihre jetzigen Missionare nach unmittelbaren Ergebnissen beurteilen, wirkt dem entgegen. Fühlen eure Missionare sich jedes Mal unter Druck gesetzt, wenn ihr sie besucht, erstaunliche Geschichten von Menschenscharen zu erzählen, die zum Glauben an Christus gekommen sind? Wenn ja, lehrt ihr jetzt schon euren zukünftigen Missionaren, durch diese einseitigen Berichte und Gebetsanliegen, wie sie Erfolg in ihrem Leben auf dem Missionsfeld beurteilen. In Übersee für die Sache des Evangeliums zu leben, ist nur manchmal eindrucksvoll, aber es ist immer kostspielig. Doch wir wissen, dass unser Herr und sein Evangelium es wert sind.

Gemeinden sollten Gott verherrlichende Opfer und den Dienst für das Reich Gottes von Missionaren und Hausfrauen wertschätzen. Wenn sie das tun, werden sie ein gesundes Umfeld für jedes Gemeindemitglied schaffen, in dem jeder herausfinden kann, wo und wie er Gott dienen kann.

4. Die christliche Freiheit darf keine Ausrede für Sünde sein.

Menschen haben die Tendenz, gute Dinge, die sie getan haben, auf Kosten von anderen guten Dingen zu rechtfertigen. Als Christen dürfen wir das nicht tun.

Ehe ist eine gute Gabe und genauso ist es Ehelosigkeit. Ähnlich ist es damit, in einer anderen Kultur zu leben und in der heimischen Kultur zu leben; beides sind gute Wege, um den Herrn zu dienen. Wir brauchen Christen für beides, da nicht jeder Christ in jedem Kontext leben kann, in dem treue Bekenner Jesu benötigt werden.

Ebenso können beide Wege missbraucht werden, um Sünde zu verdecken. Jemand kann sich entscheiden, in der eigenen Kultur zu bleiben, weil er seinen Komfort zu sehr liebt. Jemand anderes kann sich entscheiden, in einer anderen Kultur als Missionar zu leben, weil er Verbindlichkeit und Verantwortung um des Abenteuers willen vermeidet. Lasst uns nicht so schnell versuchen, Fehler an denen zu finden, die das „gegenüberliegende“ Leben gewählt haben. Stattdessen sollten wir zunächst unsere eigenen Augen auf Balken hin überprüfen.

Fazit

Der Dienst in globaler Mission und der Dienst in der Ortsgemeinde schließen sich nicht gegenseitig aus – zumindest sollten sie es nicht.

Trotzdem denken wir oft durch vorgelebte Beispiele, wenn nicht explizit gelehrt, dass die Liebe zur Ortsgemeinde bedeutet, für eine lange Zeit dort zu bleiben, wo man sich gerade befindet. Stell dir vor, was passierte, wenn deine Gemeinde anfinge, diejenigen Mitglieder aufs Missionsfeld zu senden, die ihre Gemeinde am meisten lieben und ihr dienen. Stell dir vor, was passieren könnte, wenn Gemeindemitglieder darin wachsen, Mission als integralen Bestandteil ihres Lebens als Gemeindemitglieder anzusehen, unabhängig davon, ob sie „bleiben“ oder „gehen“.


Caleb Greggsen arbeitet in einer Gemeinde im Nahen Osten mit. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.