Warum Erfolg im Dienst kein Zahlenspiel ist

Artikel von Jaimie Owens
19. Dezember 2017

Wenn man Pastor einer bereits existierenden Gemeinde wird, ist es so, als ob man in eine neue Familie hineinkommt. Tieferes Graben in den Archiven und Stöbern durch die alten Fotografien und Briefe gibt einen Einblick in die Höhen und Tiefen und bringt ins Nachdenken über das Leben und die Persönlichkeit der früheren Pastoren, die vor einem selbst der Gemeinde gedient haben. All das fühlt sich ein bisschen so an, als lerne man weit entfernte Verwandte kennen.

In der Gemeinde, in der ich Pastor bin, Tremont Temple in Boston, Massachusetts, gibt es eine lange Liste von Pastoren, die bis in das Jahr 1839 zurückreicht. Schon kurz nachdem ich die massive, eiserne Kammertür geöffnet hatte, interessierte ich mich besonders stark für Frank Ellis. Er war vor langer Zeit, von 1880 bis 1884, der Pastor unserer Gemeinde, als sie noch Union Temple Baptist Church hieß.

Guy Mitchell, der einer der Gemeindehistoriker war, hat ein beeindruckendes unveröffentlichtes Manuskript in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts angefertigt mit dem Titel History of Tremont Temple (dt. Die Geschichte von Tremont Temple). Darin fasst er Ellis` kurze Amtszeit zusammen: 

„Obwohl die meisten Wolken, die während Dr. Ellis` Zeit als Pastor auftraten hell und silbern waren, gab es eine, die einen niederdrückenden Schatten über den Geist des Pastors warf. Es war der Schatten der oberen Empore, die nicht erleuchtet war von den Gesichtern der Besucher zur Anbetung Gottes. Er hatte das große Verlangen, zu erleben, wie die Empore sich füllt und voll ist, damit sein Dienst nicht unter dem erwarteten Standard läge, wenn er in einem halb gefüllten Gebäude predigte. Niemand fühlte in diesem Bereich sein Versagen mehr als er selbst, und nach einem tapferen Versuch von vier Jahren, entschied er sich, sein Bemühen aufzugeben. Er legte sein Pastorenamt nieder und beendete seine Mühen am vierten November 1884 und ging unverzüglich nach Baltimore, um dort in einer Gemeinde zu predigen, in der es keine obere Empore gab.“

Wenn Mitchell Recht hat, wurde Ellis von dem Beitrag, den er leisten wollte, zur Niederlage gebracht. Der „erwartete Standard“ wurde nicht erreicht. Die obere Empore war nicht voll. Nach viereinhalb Jahren war die Zeit gekommen, Ross und Wagen zu packen und sich auf dem Weg zu machen, um das Evangelium in weicherem Boden zu pflanzen; in einer Gemeinde, die größer war und besser zu seinen Gaben passte.

Wenn wir über diesen Mann und seinen Dienst nachdenken, gibt uns die staubige Kammer einige Hinweise, die uns helfen, seine Notlage zu verstehen. In einem gesonderten Dokument, Historical Sketchbook (dt. historisches Skizzenbuch), schreibt Mitchell, dass Ellis „ein extrem sensibler Mann mit sehr hohen Zielen und Ansprüchen war und leicht durch das kleinste sichtbare Versagen durcheinandergebracht wurde“. Es scheint, dass Ellis die gefährliche Kombination aus hohen Zielen und dünnem Fell gehabt haben muss – genauso wie ein Feuerwehrmann, der ohne seine Ausrüstung in einen Brand hineinläuft.

Ein weiterer Hinweis, um Ellis zu verstehen: Sein Vorgänger war eine Pastorensäule. George C. Lorimer wurde in Edinburgh, Schottland, geboren und kam als aufstrebender Schauspieler in die Staaten. Er war charismatisch, von bemerkenswertem Aussehen und sehr beliebt in seiner Gemeinde. Als Prediger und Autor war er in den Staaten und Übersee berühmt. Ellis folgte also direkt auf dieses Pastorenschwergewicht, der während seiner 21 Jahre Predigtdienst regelmäßig den Hauptsaal mit Menschen füllte.

Außerdem zeigen die zwei ausführlichen Bände der Protokolle der Mitgliederversammlungen, dass die Mitgliederanzahl in Ellis Tagen gesunken ist – dazu kam es niemals in Lorimers Amtszeit. Es ist schwierig, einen beliebten Pastor zu beerben, insbesondere einen, der eine starke Präsenz in der Kanzel hatte.

Doch der wahrscheinlich größte Schlag für Ellis, Mitchells Darstellung zufolge, war die Art und Weise, wie er seinen eigenen Erfolg wahrnahm. Für Ellis war Erfolg ein Zahlenspiel.

Genau diese Sicht darüber, was Erfolg im Dienst bedeutet, belastet begabte Pastoren und führt sie zum Scheitern. Viel schlimmer noch: Sie hinterlässt den Gemeinden Pastoren, die wie Ehemänner mit umherschweifenden Augen sind – nie zufrieden, immer über die Braut hinwegsehend, weil sie nicht genug ist.

Liebe Pastoren, ich will euch fünf Ermutigungen weitergeben, die uns davor beschützen sollen, „einen Ellis zu spielen“.

1. (Er-)fülle Gläubige, nicht Gebäude.

Ein Predigtdienst wird nicht auf seine Breite hin gemessen, sondern auf seine Tiefe. Verblendet von Stolz und dem Götzen des Erfolgs setzten wir viel zu oft Gottes Segen mit einer großen Versammlung gleich und Versagen mit leeren Plätzen. Doch unser größter Wunsch als Pastoren sollte sein, dass die Herzen unserer Zuhörer in das Bild Christi umgestaltet werden.

In Epheser 4 sehen wir, dass Gott der Gemeinde Prediger geschenkt hat, „damit die Gemeinde, der Leib von Christus, aufgebaut wird.“ Weiter schreibt Paulus: „Das soll dazu führen, dass wir alle in unserem Glauben und in unserer Kenntnis von Gottes Sohn zur vollen Einheit gelangen und dass wir eine Reife erreichen, deren Maßstab Christus selbst ist in seiner ganzen Fülle.“ Für Paulus ist das Wachstum, das durch das Wort Gottes kommt, wesentlich an der Tiefe interessiert und nicht an der Breite. Das Anliegen der Apostel war, dass Gottes Volk in seiner Reife wächst. Wenn unsere Maßeinheit für Erfolg im Dienst ist, wie viele Plätze wir am Sonntag füllen, sind unsere Ziele anders als Jesu Ziele ­– und das ist niemals ein gutes Zeichen.

2. Füll deine eigenen Schuhe aus, nicht die des letzten Pastors

Für Ellis, wie für jeden neuen Pastor, der in eine bereits existierende Gemeinde berufen wird, gibt es Erwartungen, wie der Dienst aussehen sollte. Es wird Leute geben, die sagen: „Das hat Pastor (füge hier den Namen des Vorgängers ein) anders gemacht!“ Doch einer der schlimmsten Fehler, den wir direkt begehen können, wenn wir durch den Eingang getreten sind, ist, uns selbst mit dem letzten Pastor zu vergleichen. Wenn er beliebt war, fühlen wir uns niedergeschlagen, wenn die Leute auf uns nicht in derselben Art und Weise reagieren. Andrerseits, wenn er unbeliebt war, werden sich unsere Herzen mit Stolz füllen, wenn wir merken, dass die Leute uns mehr lieben. Keines von beiden ist gesund. Schau nach vorne und empor.

3. Bitte um ein dickeres Fell.

Wenn wir ständig in der Defensive sind, weil wir die Unzufriedenheit der Gemeinde über den Mangel an Frucht in unserem Dienst im Nacken spüren, werden sie mit uns zusammen verkümmern. Niemand will einem scheuen Pastor folgen. Stattdessen müssen wir von Gott den Dienst annehmen, den er sich für uns und sein Volk wünscht. Ist er nicht weiser als wir? Es gibt Gemeinden aller Größen, und Gott liebt sie alle. Nimm den Dienst an, den Gott für dich vorgesehen hat – und stehe aufrecht.

4. Preise Gott für die Frucht und nicht nur für die Sichtbare.

Wie können wir den fruchtbaren Dienst Jeremias und Judsons (Missionar, der 40 Jahre in Burma missionierte) preisen und dann darüber klagen, dass wir wenig Frucht in unseren eigenen Gemeinden sehen? Diese beiden Männer waren treu auf Gottes Arbeitsfeld, auch wenn es so aussah, als ob nur ein paar kleine Äpfel vom Baum hingen.

Genauso ist ein großer Teil der Frucht in unseren Arbeitsfeldern versteckt. Jesus sprach vom Königreich als einem wachsenden Senfkorn. Sogar während wir schlafen, wächst es. Wir sehen es nicht und bewirken es ganz sicher nicht. Doch es gibt eine Sache, die wir wissen: Göttliches Wachstum ist unseren Augen oft verborgen. Für die meisten von uns, mit der Tendenz sich vor Stolz aufzublähen bei einem Anschein von Frucht in unseren Gemeinden, ist die verborgene Frucht Teil von Gottes weisem Plan, um uns demütig zu halten. Lobe Gott für das, was du sehen kannst. Doch vergiss nicht, regelmäßig Gott für alles zu loben, was du nicht sehen kannst.

5. Finde deine Identität in Christus.

Liebe Pastoren, eure Identität ist nicht das Pastorensein. Ihr seid geliebte Kinder Gottes. Gott hat uns von der Sünde gerettet, indem er Jesus gesandt hat, um den Zorn zu tragen, den wir für unsere Sünden gegen ihn verdient hätten. Niemand kann in einer Identitätskrise ein effektiver Pastor sein. Wenn unsere Hoffnung etwas Anderes als Jesus ist, sind wir nur leere Anzüge – oder Baumwollhemden, wenn du etwas hipper bist als ich. 

Nachdem Jesus 72 seiner Jünger ausgesandt hatte, berichteten sie ihm über einige erstaunliche Werke, die sie gewirkt hatten, Dämonenaustreibung miteingeschlossen. Doch erinnern wir uns an das, was Jesus ihnen gesagt hat: „Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind; freut euch aber, dass eure Namen in den Himmeln angeschrieben sind!“ Einige Prediger füllen ganze Stadien mit einer offenen Bibel. Und für einige dieser „Prediger“ ist das Öffnen der Bibel das einzige, was sie mit ihr tun. Warum also glauben wir, die es eigentlich besser wissen müssten, der Idee, dass größer besser ist? Mögen wir von unserem Stolz, unserem Götzen des Dienstes und unserer Unzufriedenheit mit der Herde Gottes, die Gott uns anvertraut hat, umkehren.

Für viele von uns, führt der Mangel an sichtbarer Frucht dazu, „einen Ellis zu spielen“. Doch statt unsere Gemeinden nach dem zu bewerten, was wir sehen können, lasst uns Gott vertrauen. Es gibt so viel mehr, was eine Gemeinde ausmacht, als ihre Größe.


Jaime Owens ist leitender Pastor der Tremont Temple Baptist Church in Boston, Massachusetts.  Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.