Jesus lebt nicht nur in unserem Herzen
Auswirkungen des Neognostizismus
Ihr Diener bin ich geworden [...], dass ich das Wort Gottes in seiner Fülle predige, nämlich das Geheimnis, das verborgen war seit ewigen Zeiten und Geschlechtern, nun aber offenbart ist seinen Heiligen. (Kol 1,25–26)
Die im 19. Jahrhundert aufkommende liberale Theologie plagt die Kirche bis heute. Diese war nicht nur vom radikalen Immanentismus Hegels und dem radikalen Subjektivismus Schleiermachers beeinflusst. Auch der Naturalismus, eine Sichtweise, die davon ausgeht, dass nichts existiert außer dem physischen Universum, hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf den Liberalismus. Das Resultat war eine Gruppe liberaler Theologen, die nicht an das Übernatürliche glaubten. Manche von ihnen leugneten sogar die Existenz eines persönlichen Gottes vollends.
Diese Männer versuchten, die vielen übernatürlichen Verweise in den Evangelien wegzuerklären, und verstanden die Wunder in rein materialistischen Begriffen. Die Speisung der Fünftausend sei beispielsweise keine übernatürliche Vermehrung von ein paar Broten und Fischen gewesen. Stattdessen sei Jesus in der Lage gewesen, diejenigen in der Menge, die Essen mitgebracht hatten, davon zu überzeugen, es mit den anderen zu teilen. Diese Theorie mag eine naturalistische Erklärung bieten, aber sie ignoriert vollkommen die Einzelheiten der Evangeliumsberichte (Mt 14,13–21; Mk 6,30–44; Lk 9,10–17; Joh 6,1–15). Es zeigt auch, wie weit Menschen mit solchen Vorannahmen gehen werden, um das Werk Gottes in Christus zu leugnen.
Rudolf Bultmann war eine sehr bekannte Persönlichkeit, die die Realität der Wunder als übernatürliche Ereignisse leugnete. Er lehrte, dass die Jünger, da sie nicht im zwanzigsten Jahrhundert lebten, die Bedeutung von Jesus durch legendenhafte Geschichten (Mythen) erklärt hätten. Er argumentierte, dass das Neue Testament einen Kern historischer Wahrheit enthalte, der umschlossen sei von Mythen wie der Auferstehung, der Himmelfahrt usw. Indem er das apostolische Zeugnis (1Kor 15,14) vollkommen leugnete, behauptete Bultmann, dass die Historizität der Auferstehung unwichtig sei. Nur der Glaube der Jünger wäre entscheidend. Wie sie könnten auch wir eine persönliche Begegnung mit Christus haben und unsere „wahre Menschlichkeit“ finden.
Bultmanns Absicht ist unklar, aber zumindest befürwortet er eine Art von Mystizismus gegenüber dem biblischen Glauben. Dieser ermöglicht es Menschen, sich einen Christus nach ihrem eigenen Bild zu machen. Wenn Glaube nicht auf historischen Ereignissen beruht, woher wissen wir dann aber, ob wir alle demselben Jesus folgen? Wie kann Christus das Objekt des christlichen Glaubens sein, wenn, wie es der Ansatz von Bultmann ermöglicht, wir alle einem anderen Jesus begegnen?
Coram Deo
Der Gnostizismus, eine weitverbreitete Irrlehre in der frühen Kirche, besagte, dass die Rettung nur denjenigen vorbehalten sei, die im Besitz der verborgenen Wahrheiten über Christus seien. Bultmann vertritt eine Form des Neognostizismus, eine vollkommen subjektive Begegnung mit Jesus, die für viele Menschen Grundlage ihres christlichen Glaubens ist. Eine persönliche Begegnung mit Jesus ist notwendig, aber wir glauben nicht nur, weil er „in unserem Herzen lebt“ (1Kor 3,16). Wir glauben, weil er wirklich zur Welt kam, wirklich starb und wirklich wieder auferstand.