Autorität der Kirche: römisch-katholische und protestantische Sicht

Artikel von 9MarksMinistries und Gregg Allison
12. Dezember 2017
Bild: Free-Photos, via Pixaby CCO
Bild: Free-Photos, via Pixabay CCO

Ich hörte zufällig ein Gespräch zwischen einem hingegebenen Katholiken und einem Protestanten: „Zumindest wissen wir Katholiken, wer in der Kirche das Sagen hat! Und unsere Kirche hat ziemlich viel Autorität. Ihr Protestanten seid wie Stämme ohne Häuptling, wie Schiffe ohne Ruder. ,Die Bibel und die Bibel allein´ rufst du, doch sieh mal, wohin euch das geführt hat: Anglikaner, Presbyterianer, Methodisten, Lutheraner, Baptisten. Soll ich fortfahren? Wenn man keine Autorität hat, führt das zu dem Chaos, in dem ihr euch befindet!“

Diese Art von Gespräch ist typisch, wenn es um das Thema der Autorität der Kirche geht und unterstreicht einen der großen Unterschiede zwischen Katholizismus und dem Protestantismus – ihre unterschiedliche Sicht über Autorität. Im Folgenden will ich beide Ansichten über Autorität skizzieren, danach will ich die katholische Position bewerten und auf einige Anwendungen der protestantischen Position hinweisen.

Römisch-katholische Autorität

Die römisch-katholische Sicht von kirchlicher Autorität kann man sich als dreibeinigen Stuhl vorstellen: Schrift, Tradition und kirchliches Lehramt. Ein Bein ist die Schrift, das inspirierte Wort Gottes in schriftlicher Form. (Hierbei darf man nicht vergessen, dass das Alte Testament der römisch-katholischen Kirche die Apokryphen enthält.)

Ein anderes Bein des Stuhls ist die Tradition, die aus den Lehren besteht, die Jesus seinen Aposteln mündlich weitergegeben hat, die es wiederum ihren Nachfolgern, den Bischöfen mündlich weitergegeben haben. Diese Tradition wird in der Katholischen Kirche aufrechterhalten und Teile aus ihr werden auch immer wieder zur offiziellen Lehre erklärt (z.B. die unbefleckte Empfängnis von Maria (1854) und Mariä Himmelfahrt (1950)).

Schrift und Tradition „sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“ (Katechismus der Katholischen Kirche, 80). Für die katholische Kirche bilden die Schrift und die Tradition gemeinsam die autoritative Offenbarung Gottes.

Diese göttliche Offenbarung muss interpretiert werden und „die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut“ (KKK 85). Das dritte Stuhlbein ist das kirchliche Lehramt, das aus dem Papst und den Bischöfen besteht. Ihre Rolle ist es, als Leiter über die gesamte Kirche und als die Priesterschaft, die Gottes Gnade in den sieben Sakramente verwaltet, die autoritative Auslegung der Schrift festzulegen, die Tradition zu verkündigen und diese autoritativ zu interpretieren und Autorität auszuüben. Am Kopf der Kirche steht der Papst, der Christi Repräsentant auf Erden ist und der Nachfolger des Apostel Petrus; gemäß der römisch-katholischen Tradition, steht der Papst in der apostolischen Nachfolge (eine ununterbrochene Linie von autoritativen Leitern) von Petrus und allen ihm nachfolgenden Päpsten.

Zusammengefasst ist die Autoritätsstruktur der römisch-katholischen Kirche wie ein dreibeiniger Stuhl mit der Schrift, der Tradition und dem kirchlichen Lehramt. Jedes Einzelne für sich genommen und alle drei zusammen sind notwendig und arbeiten nahtlos zusammen für die Autorität der Kirche.

Protestantische Autorität

Die Protestantische Sicht der Autorität der Kirche dreht sich um die Offenbarung Gottes, also die Schrift. Das protestantische formale Prinzip der Sola Scriptura – die Schrift allein – bedeutet, dass die Schrift die letztliche Autorität in der Kirche ist, was im Widerspruch zur katholischen Position von Schrift plus Tradition steht.

Das Prinzip „die Schrift allein“ meint nicht, dass Protestanten alles andere ignorieren.  Die Weisheit aus der Vergangenheit formt eine Tradition, wie man an den frühkirchlichen Bekenntnissen, den historisch protestantischen Glaubensbekenntnissen und den evangelikalen Erklärungen sehen kann. Diese Leitlinien geben den Protestanten viel Rat und Einsicht. Doch ist es notwendig anzumerken, dass sie eine dienende Funktion haben und keine vorschreibende. In protestantischen Kirchen gehört die letztendliche Autorität der Schrift allein.

Diese Verpflichtung ist die Grundlage der protestantischen Betonung des Wortes Gottes in Bezug auf die Predigt, Unterweisung, Jüngerschaft, Seelsorge, Anbetung, Leitung, Gebet, Übersetzung, etc. Da die Schrift das Wort Gottes ist, bedeutet der Schrift zu gehorchen, Gott selbst zu gehorchen. Die Schrift zu missachten, bedeutet, Gott zu missachten. Das heißt nicht, die Schrift mit Gott gleichzusetzen, doch es betont, wie Gottes Autorität durch sein zuverlässiges Wort ausgedrückt wird.

Gemäß der autoritativen Schrift und ihr untergeordnet führen qualifizierte Leiter eine lokale Gemeinde, die Pastoren und Älteste genannt werden. Sie haben die von Gott bestimmten Verantwortungen und Autorität (1) die Schrift zu lehren und gute Lehre weiterzugeben; (2) unter Christi Herrschaft zu leiten; (3) zu beten (vor allem für die Kranken); und (4) die Gemeinde zu hüten durch ein sichtbares (trotzdem noch sündiges) Beispiel der Christusähnlichkeit und auf diese Weise die Gemeinde vor Irrlehre und Sünde zu bewahren durch Predigten, Jüngerschaft und Gemeindeerziehung.

Einige protestantischen Denominationen haben autoritative Leitungsstrukturen der lokalen Gemeinde übergeordnet. Zum Beispiel haben die Bischöfe in den Episkopalkirchen Autorität über die Kirchen in ihrem Zuständigkeitsgebiet. In presbyterianischen Kirchen besitzen Älteste Autorität über die Gemeinden in ihrem Presbyterium, ihrer Synode und ihrer Hauptversammlung. Egal, ob protestantische Kirchen kongregationalistisch, episkopal oder presbyterial organsiert sind, gleicht keine Leitungsstruktur dem Lehramt der katholischen Kirche: Es gibt keinen Papst, keine apostolische Sukzession, keine kirchliche oder päpstliche Unfehlbarkeit, keine Autorität, die sich mit der Schrift messen darf.

Eine Beurteilung der römisch-katholischen Sicht der kirchlichen Autorität

Die erste Kritik der römisch-katholischen Sicht der Autorität konzentriert sich auf das Prinzip Schrift plus Tradition. Solch einer Position mangelt es an jeglicher biblischer Grundlage. Ganz zu schweigen, dass es eine späte Entwicklung in der Kirchengeschichte ist und sie mit dem Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes, der durch den Heiligen Geist geleitet sei, verbunden wird. Es ist eine inhärente, unbeständige Position, was sich immer dann gezeigt hat, wenn Schrift und Tradition in Widerspruch standen (die katholische Kirche sagt natürlich, dass so etwas nie passieren könne).

Die Formel von Schrift plus Tradition widerspricht zwei weiteren wichtigen protestantischen Lehren: Die Allgenügsamkeit der Schrift (die Schrift ist alles, was die Kirche braucht, um Gott zu gefallen) und die Notwendigkeit der Schrift (die Kirche käme vom Weg ab, wenn es die Schrift nicht gäbe).

Der zweite Kritikpunkt betrifft die autoritative Rolle, die der Kirche zugeschrieben wird, insbesondere ihrem Lehramt. Diese Rolle ist verwurzelt im Prinzip der innigen Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche: Die römisch-katholische Kirche versteht sich selbst als die fortlaufende Inkarnation Jesu Christi, die in der Gemeinde gegenwärtig ist – göttliche Natur, menschliche Natur und Leib – durch die Kirchenmitglieder, insbesondere ihrer Hierarchie. Diese Vorstellung einer verlängerten und fortlaufenden Inkarnation hat keine biblische Grundlage.

Des Weiteren richtet sie Chaos an bezüglich der Himmelfahrt, des Kommens des Heiligen Geistes an Pfingsten und der zukünftigen Wiederkunft Jesu. Gemäß der Schrift und einer biblischen Christologie, wurde Christus in seiner menschlichen Natur in den herrlichen himmlischen Bereich emporgehoben. Er sandte den Heiligen Geist, damit er seinen Platz als anderer Tröster einnimmt. Jesus wird körperlich wiederkehren. Das bedeutet, Jesus ist gerade nicht hier. Zu bekennen, dass der ganze Christus fortwährend gegenwärtig in der katholischen Kirche ist, richtet Chaos an mit diesen Realitäten, die so zentral für den christlichen Glauben sind.

Zusammenfassend, die katholische Sicht, dass die Autorität aus der Schrift, der Tradition und des Lehramts besteht, ist verkehrt.

Die Anwendung der protestantischen Sicht der kirchlichen Autorität

Die protestantische Sicht der Autorität wird auf vielerlei Weise konkret ausgelebt, von denen ich drei erwähnen will:

Erstens schenken Protestanten der Schrift Aufmerksamkeit – bereit, ihr zu gehorchen, zu vertrauen, sich von ihr warnen und zur Anbetung führen zu lassen und weitere Anwendungen, wenn sie diese verstehen.

Zweitens konzentrieren sich Protestanten auf die Schrift in jedem Aspekt des Gemeindelebens und des Dienstes: Predigt, Unterweisung, Anbetung, Gemeindeerziehung und andere Aktivitäten. Als Gemeinschaften des Wortes unterstellen sie sich freudig der Schrift und vertrauen ihr.

Drittens gehorchen und respektieren Protestanten ihren von Gott eingesetzten und qualifizierten Leitern. Von ihnen empfangen die Mitglieder das Wort Gottes, wenn sie predigen und lehren und ihre Pastoren helfen ihnen, die Schrift auszuleben. Die Schrift beauftragt und ermahnt die Mitglieder, sich unter der Leitung ihrer begabten Leiter im Dienst einzubringen, damit sie „in allem hinwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus. Aus ihm wird der ganze Leib zusammengefügt und verbunden durch jedes der Unterstützung dienende Gelenk, entsprechend der Wirksamkeit nach dem Maß jedes einzelnen Teils; und so wirkt er das Wachstum des Leibes zu seiner Selbstauferbauung in Liebe“ (Eph 4,15–16).


Gregg R. Allison ist Dozent für christliche Theologie am Southern Baptist Theological Seminary. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.