Das einzige Heilmittel

Wie man Gesetzlichkeit und Antinomismus überwindet

Buchauszug von Sinclair B. Ferguson
4. Dezember 2017 — 9 Min Lesedauer

Antinomismus kann verschiedene Formen annehmen. Menschen passen nicht immer genau in unsere Kategorien noch halten sie notwendig alle logischen Implikationen ihrer Annahmen. Wir gebrauchen „Antinomismus“ hier im theologischen Sinn: eine Ablehnung des verpflichtenden („das Gewissen bindende“) Wesen der Zehn Gebote für diejenigen, die in Christus sind. Antinomismus, so wurde im 18. Jahrhundert mehrheitlich angenommen, ist im Grunde der Mangel, den Platz des Gesetzes Gottes im christlichen Leben zu verstehen und zu schätzen. Aber genau wie es bei Gesetzlichkeit mehr gibt, als auf den ersten Blick erkennbar, so gilt das auch für Antinomismus.

Gegensätze ziehen sich an?

Vielleicht der größte Fehltritt im Nachdenken über Antinomismus ist, dass man ihn sich einfach als das Gegenteil von Gesetzlichkeit vorstellt.

Es wäre ein interessantes Experiment für den angehenden Doktoranden in Psychologie, einen Wordassoziationstest mit Christen zu machen. Er könnte beinhalten:

  • Altes Testament: erwartete Antwort → Neues Testament
  • Sünde: erwartete Antwort → Gnade
  • David: erwartete Antwort → Goliat
  • Jerusalem: erwartete Antwort → Babylon
  • Antinomismus: erwartete Antwort → ?

Wäre es angemessen, anzunehmen, dass die instinktive Antwort auf die letzte Frage „Gesetzlichkeit“ wäre?

Ist die „korrekte Antwort“ wirklich „Gesetzlichkeit“? Es mag die richtige Antwort auf der Ebene des allgemeinen Sprachgebrauchs sein, aber es wäre eine unbefriedigende Antwort vom Standpunkt der Theologie aus, denn Antinomismus und Gesetzlichkeit sind nicht so sehr einander entgegengesetzt als vielmehr, dass sie beide der Gnade entgegengesetzt sind. Deshalb schreibt die Schrift nie das eine als Gegenmittel für das andere vor. Stattdessen ist Gnade, Gottes Gnade in Christus in unserer Einheit mit Christus, das Gegenmittel für beide.

Diese Beobachtung hat große Bedeutung, denn einige der einflussreichsten Antinomianer der Kirchengeschichte gaben zu, dass sie auf der Flucht nach der Entdeckung ihrer Gesetzlichkeit waren.

John Gill, der erste Biograph von Tobias Crisp, einer der Väter des englischen Antinomismus, schreibt: „Er begann zunächst mit einer gesetzlichen Predigtweise, die er außerordentlich eifrig verfolgte.“

Benjamin Brooks gibt den größeren Kontext wieder:

Personen, die Vorstellungen übernommen haben, die ihnen später als irrig erscheinen, meinen oft, dass sie nicht weit genug von ihnen wegkommen können; und desto mehr sie sich von ihren früheren Meinungen entfernen, desto näher kommen sie der Wahrheit. Das war leider bei Dr. Crisp der Fall. Seine Vorstellungen über die Gnade Christi waren extrem schwach, und er hatte Vorstellungen übernommen, die in ihm einen gesetzlichen und selbstgerechten Geist erzeugten. Schockiert von der Erinnerung an seine früheren Ansichten und sein Verhalten scheint er sich ausgemalt zu haben, dass er nie weit genug von ihnen wegkommen könnte.

Aber Crisp, so wie viele andere, nahm die falsche Medizin.

Der Antinomianer ist von Natur aus eine Person mit einem gesetzlichen Herzen. Er oder sie wird Antinomianer als Reaktion auf etwas. Das jedoch impliziert nur eine andere Sicht auf das Gesetz, aber nicht eine biblischere.

Richard Baxters Bemerkungen sind deshalb sehr einsichtsreich:

Antinomismus kam unter uns auf, als die Predigt der Gnade des Evangeliums vernachlässigt und zu sehr auf Tränen und Schrecken bestanden wurde.

Das umfassende Wegtun des Gesetzes scheint eine Zuflucht zu sein. Aber das Problem liegt nicht beim Gesetz, sondern beim Herzen – und dieses bleibt unverändert. Indem er denkt, dass seine Perspektive nun das Gegenteil von Gesetzlichkeit ist, hat sich der Antinomianer ein unangemessenes geistliches Rezept verschrieben. Seine Krankheit wird nicht vollständig geheilt. In Wirklichkeit wird die Wurzel seiner Krankheit maskiert statt aufgedeckt und geheilt.

Es gibt nur eine echte Heilung für Gesetzlichkeit. Es ist die gleiche Medizin, die das Evangelium für Antinomismus vorschreibt: das Verstehen und Schmecken der Einheit mit Jesus Christus selbst. Dies führt zu einer neuen Liebe für und Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes, welches er uns nun im Evangelium vermittelt. Das allein bricht die Bande von sowohl Gesetzlichkeit (das Gesetz ist nicht länger getrennt von der Person Christi) und Antinomismus (wir sind nicht getrennt vom Gesetz, welches nun zu uns von der Hand Christi kommt und mit der Befähigung des Geistes, der es auf unsere Herzen schreibt).

Ohne diese Medizin bleiben der Gesetzliche und der Antinomianer falsch verbunden mit Gottes Gesetz und Gottes Gnade. Die Vermählung von Pflicht und Wonne in Christus wird noch nicht richtig gefeiert.

Ralph Erskine, einer der führenden Marrow Brüder, sagte einmal, dass der größte Antinomianer eigentlich ein Gesetzlicher ist. Seine Behauptung ist vielleicht auch umgekehrt wahr: Der größte Gesetzliche ist ein Antinomianer.

Aber sich von Gesetzlichkeit zu Antinomismus zu wenden, ist nie der Weg, dem Ehemann zu entkommen, den wir zuerst geheiratet haben. Denn wir sind nicht vom Gesetz getrennt, indem wir glauben, dass die Gebote keine bindende Kraft mehr haben, sondern indem wir mit Jesus Christus vermählt werden, in dessen Einheit es eine Wonne für uns ist, sie zu erfüllen. Thomas Boston stimmt dieser allgemeinen Analyse zu:

Das antinomianische Prinzip, dass es für einen Menschen unnötig ist, der durch den Glauben vollständig gerechtfertigt ist, zu versuchen, das Gesetz zu halten und gute Werke zu tun, ist ein schlagender Beweis dafür, dass die Gesetzlichkeit so tief in der verdorbenen Natur des Menschen verankert ist, sodass - bis ein Mensch wirklich zu Christus gekommen ist, durch Glauben - die gesetzliche Einstellung immer über ihn herrschen wird; er kann sich in was für eine Form auch immer verwandeln, oder was auch immer für Prinzipien in seiner Religion annehmen; obwohl er in den Antinomismus rennt, wird er seinen gesetzlichen Geist mitnehmen, der immer ein sklavischer und unheiliger Geist sein wird.

Ein Jahrhundert später erklärte der südlich-presbyterianische Pastor und Theologe James Henley Thornwell (1812–1862) das gleiche Prinzip:

Welche Form auch immer der Antinomismus annimmt, er entspringt der Gesetzlichkeit. Keiner rennt in das eine Extrem, der nicht vorher in dem anderen war.

Hier ist nochmal John Colquhoun, der darüber spricht, wie sich das im Leben des wahren Gläubigen zeigt:

Ein gewisses Maß eines gesetzlichen Geistes oder einer Neigung des Herzens zu dem Weg des Werkebundes verbleibt in den Gläubigen und behauptet sich gegen sie. Sie finden es manchmal außerordentlich schwer, sich dieser Neigung zu widersetzen, dass sie sich auf ihre eigenen Verdienste und Leistungen verlassen für einen Teil ihres Anrechts auf die Gunst und den Genuss Gottes.

Falls Antinomismus für uns als Ausweg erscheint, um uns von unserem natürlichen gesetzlichen Geist zu befreien, dann müssen wir unser Verständnis von Römer 7 erneuern. Im Gegensatz zu Paulus sehen sowohl der Gesetzliche als auch der Antinomianer das Gesetz als das Problem. Aber Paulus ist sehr bemüht, darauf hinzuweisen, dass Sünde, und nicht das Gesetz das eigentliche Problem ist. Im Gegenteil, das Gesetz ist „gut“ und „gerecht“ und „geistlich“ und „heilig“. Der wahre Feind ist die innewohnende Sünde. Und das Gegenmittel für Sünde ist weder das Gesetz noch seine Abschaffung. Es ist die Gnade, die Paulus so wunderbar in Römer 5,12–21 dargelegt hat, und diese Gnade im Kontext seiner Auslegung der Einheit mit Christus in Römer 6,1–14. Das Gesetz abzuschaffen würde demzufolge bedeuten, den Unschuldigen hinzurichten.

Aus diesem Grund ist es wichtig, die Dynamik von Paulus’ Argument in Römer 7,1–6 nachzuvollziehen. Wir waren mit dem Gesetz vermählt. Einer Frau steht es frei, von neuem zu heiraten, wenn ihr Ehemann gestorben ist. Aber Paulus ist darauf bedacht, nicht zu sagen, dass das Gesetz gestorben ist, sodass wir uns mit Christus vermählen können. Vielmehr ist es der Gläubige, der mit dem Gesetz vermählt war, der in Christus gestorben ist. Aber nachdem sie mit Christus auferstanden ist, steht es ihr nun (von Gesetzes wegen!) frei, Christus zum Ehemann zu nehmen, mit dem zusammen Frucht für Gott geboren wird. Die Folge dieser zweiten Ehe ist, in Paulus’ Sprache, dass „die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit in uns erfüllt würde, die wir nicht gemäß dem Fleisch wandeln, sondern gemäß dem Geist.“

Das ist der Sinn, in dem die Beziehung des Christen zum Gesetz eine „Verschwägerung“ ist! Wir stehen gewissermaßen nicht direkt mit dem Gesetz in Beziehung, oder zum Gesetz in Isolation als bloße Gebote. Die Beziehung hängt von unserer vorhergehenden Beziehung zu Christus ab und ist eine neue Frucht davon. Einfach gesagt, genauso wie Adam das Gesetz vom Vater empfing, von dessen Händen es nie hätte abstrahiert werden sollen (wie es durch die Schlange und Eva geschah), so schaut der Gläubige des Neuen Bundes nie auf das Gesetz, ohne zu verstehen, dass die Beziehung zu ihm die Frucht seiner Einheit mit Christus ist.

Bunyan sah die Bedeutung von Römer 7. Eine „Neigung zum ersten Adam“ verbleibt in jedem von uns. Der Gläubige ist für das Gesetz gestorben, aber das Gesetz stirbt nicht. Das Gesetz existiert noch für den Gläubigen. Aber in Einheit mit Christus ist der Gläubige nun fähig, das Ehegesetz zu erfüllen und Frucht zu tragen!

Demzufolge produziert die Gnade, nicht das Gesetz, was das Gesetz verlangt; aber zur gleichen Zeit ist es genau das, was das Gesetz verlangt, das von der Gnade produziert wird.

Kopf und Herz

Das ist eine grundlegende pastorale Lektion. Es ist nicht nur eine Sache des Kopfes. Es ist eine Sache des Herzens. Antinomismus kann in dogmatischen und theologischen Ausdrücken formuliert sein, aber er verrät und verbirgt den Widerwillen des Herzens bezüglich unserer absoluten Verpflichtung vor Gott. Deswegen ist eine lehrmäßige Erklärung nur ein Teil des Kampfes. Wir ringen mit etwas, das wesentlich schwerer zu fassen ist: den Geist einer Person, einen Instinkt, eine sündhafte Neigung des Temperaments, eine subtile Aufspaltung von Pflicht und Wonne. Das verlangt sorgsame und liebende pastorale Fürsorge und besonders treue Auslegung des Wortes Gottes, voller Einheit mit Christus, sodass das Evangelium die sture Gesetzlichkeit in unserem Herzen auflöst.

Wir haben es hier mit einer Neigung zu tun, deren Wurzeln bis in den Bodes des Garten Edens reichen. Antinomismus ist demnach, genauso wie Gesetzlichkeit, nicht nur eine falsche Sicht vom Gesetz. Es ist letztendlich eine falsche Sicht der Gnade, die sowohl im Gesetz als auch im Evangelium offenbart ist – und dahinter liegt eine falsche Sicht von Gott selbst.