Säkularismus als Chance

Artikel von Collin Hansen
22. November 2017 — 9 Min Lesedauer

Könnte die zunehmende Anzahl an Personen, die bei Umfragen angeben, keiner Religion anzugehören, vielleicht sogar etwas Gutes für manche Gemeinden sein? Diese Einstellung findet sich in vielen traditionellen Kirchen, die am schwersten von der Austrittswelle betroffen sind. Sie könnten womöglich recht haben.

Zu den traditionellen Denominationen in Amerika gehören die Episcopal Church, American Baptist Churches, United Methodist Church, United Church of Christ, Evangelical Lutheran Church in America, Presbyterian Church (USA) und die Christian Church (Disciples of Christ). Sie haben es nicht geschafft, ihren Mitgliederschwund abzuwenden. Der Trend reicht zurück bis zu den Mitgliederspitzen in den 1960ern. Im Jahr 1972 gehörten 28 Prozent der Amerikaner zu diesen Denominationen. Bis 2014 ist dieser Anteil auf 12,2 Prozent geschrumpft. Man würde erwarten, dass diese Kirchen in Panik verfallen wären. Aber was wäre, wenn sie in Wirklichkeit ihre Mission in dem Moment erreicht hätten, wo sie versagten? Was wäre, wenn die traditionellen Kirchen Mitglieder verloren hätten, um die Welt zu gewinnen?

Viele traditionelle protestantische Kirchen haben schon lange die Predigt von Christus, der für Sünder gekreuzigt wurde, aufgegeben. Stattdessen propagieren sie die aktuellsten sozialen Anliegen. Und ihre Kirchen haben sich geleert. Aber ihre Vorstellungen hatten Erfolg. Manche der Anliegen, besonders die Unterstützung von Abtreibung und der Rechte von Homosexuellen, sind zum Lackmustest geworden, um in Amerikas sozialer, akademischer und politischer Elite Ansehen zu erlangen. Für viele Leiter der traditionellen Kirchen war der Mitgliedsschwund notwendig, um reaktionäre Elemente auszumerzen, die sich gegen diese progressive soziale Vision stellten. Man kann viel Zeit in der Kirche sparen, um die Jugendlichen zu unterrichten, wenn man weiß, dass die Welt das für einen erledigt.

Evangelikale haben sich in der Zwischenzeit wieder gesellschaftlich zurückgezogen. Man erklärt als Universitätsprofessor nicht öffentlich, dass man gegen die Homoehe ist. Man braucht nicht davon zu träumen, eine Karriere bei den Demokraten zu machen, obwohl man sich gegen Abtreibung einsetzt. Die Gesellschaft will nicht, dass man ihre Versammlung durch Gespräche über Sterben, Gericht und das Leben nach dem Tod stört. Es scheint so, als ob die Evangelikalen den langfristigen Kampf um die protestantische Seele Amerikas verloren haben. Man hätte zahlreiche Beweise in Politik und Medien, um diese These zu unterstützen. Aber was wäre, wenn beide Seiten im Grunde ihr erklärtes Ziel erreicht hätten?

Diejenigen ohne Religionszugehörigkeit haben die traditionellen Kirchen für die Welt verlassen, was die jetzigen Prioritäten dieser Kirchen widerspiegelt. Evangelikale haben nicht den gleichen Mitgliederschwund erlitten, obwohl sie ihren Stand in der Welt verloren haben. Nach einer Pew-Umfrage aus dem Jahr 2014 haben die Evangelikalen weniger als ein Prozent ihres Anteils an der amerikanischen Bevölkerung zwischen 2007 und 2014 verloren, während die traditionellen Protestanten im gleichen Zeitraum 3,4 Prozent eingebüßt haben. Der Mitgliederschwund in der Southern Baptist Convention war signifikant, aber bei weitem nicht so schlimm wie in anderen großen Denominationen. Gleichzeitig wachsen die Mitgliederzahlen bei den evangelikal/charismatischen Assemblies of God. Während die traditionellen Kirchen die Welt gewonnen haben, haben die Evangelikalen die Kirche gewonnen.

Es gibt aber ein schwelendes Problem – für beide Seiten. Die Welt hört nicht plötzlich auf damit, sich zu verändern. Und die Welt braucht die traditionellen Kirchen nicht länger. Sie sind aus der Mode gekommen und im Rückgang begriffen, besonders bei jungen Menschen ohne Religionszugehörigkeit, die jedes kirchliche Dogma ablehnen. Gleichzeitig lässt die Welt die Evangelikalen nicht in Ruhe, weil viele Menschen ohne Religionszugehörigkeit jeden verbleibenden Einfluss organisierter Religion verabscheuen. Wie die Evangelikalen darauf reagieren, wird bestimmen, ob sie den traditionellen Kirchen in ihrem Mitgliederschwund folgen werden.

Keiner Illusion erliegen

Zumindest seit 1980 unterliegen viele Evangelikale der Illusion, dass sie eine stille, aber hingegebene Mehrheit in Amerika sind, die biblische Werte aufrechterhalten will. Diese Theorie begann 2006 aufzubrechen, als Präsident George W. Bush seine Mehrheit im Kongress verlor. Und sie wurde schließlich begraben, als die religiöse Rechte es in 2016 nicht schaffte, sich auf einen Kandidaten zu einigen.

Wenn du an der Küste oder in einer größeren Stadt wohnst, hast du wahrscheinlich aufgegeben zu erwarten, dass die Welt sich wieder dem Glauben zuwendet. Du hast dich nicht auf die Unterstützung von Menschen verlassen können, die nicht deine biblischen Überzeugungen teilen. Daher hast du die aufkommende Ernüchterung mancher Evangelikaler kühl beobachtet.

„Es war einmal so, dass die fromme und schwammige Mitte – Namenschristen, die sich als Christen identifizieren, die sporadisch zur Kirche kommen und einen gewissen Respekt für die Bibel und das Christentum haben – diese fromme und schwammige Mitte hatte eine gewisse Mehrheit gebildet, die eine kulturelle Form des ‚Christentums‘ propagierte“, sagte Tim Keller, Pastor der Redeemer Presbyterian Church, einer Gruppe Journalisten im Jahr 2014. „Die schwammige Mitte war einmal überwiegend mit den Frommen identifiziert. Jetzt ist sie überwiegend mit den Säkularen identifiziert. Das ist alles.“

Der langjährige Religionsredakteur von Newsweek, Kenneth L. Woodward, sieht in diesem Niedergang keine ganzheitliche Hinwendung zum Säkularismus. Er erwartet nicht, dass die Vereinigten Staaten einen Säkularismus nach europäischem Stil entwickeln, weil die Zahl von religiös hingegebenen Amerikanern über die Jahrzehnte hinweg nur leicht zurückgegangen ist. „Die wahrscheinlichere Erklärung ist, dass institutionelle Religion einen längst überfälligen Sichtungseffekt erlebt“, schreibt Woodward. Wenn diese Theorie richtig ist, dann haben die Evangelikalen eine Sache verloren, die eigentlich nichts bedeutet – die Illusion größeren Einflusses. Aber sie haben etwas Anderes verloren, das sehr entscheidend sein kann – den Schutz von Verbündeten über theologische Grenzen hinweg. Diese Allianzen warnten die Regierungen davor, die Religionsfreiheit von einzelnen Christen, Kirchen und gemeinnützigen Organisationen zu beschneiden. Diese Allianzen hielten an dem Primat der Familie fest – ein Mann und eine Frau, die verheiratet sind und sich dem Wohl ihrer Kinder gewidmet haben. Auf einer persönlichen Ebene bedeutete es, dass man grundsätzlich die Werte der Nachbarn in der Umgebung kannte, obwohl man sonntags unterschiedliche Predigten hörte.

Die Evangelikalen werden diese Veränderungen überleben, aber wir brauchen Mut und Überzeugung, um unser Haus in Ordnung zu halten, wenn wir nicht mit Unterstützung von außerhalb unserer Glaubensfamilie rechnen können. Es wird nicht leicht sein. Aber wir haben jeden Grund zu vertrauen, dass Gott treu sein wird.

Reinheit und Würde

Der evangelikale Glaube sollte gut ausgerüstet sein, selbst in solch einer Situation zu gedeihen. Die Welt heute ist nicht vollkommen verschieden von der multikulturellen, mediterranen Welt des Neuen Testaments, wo römische Rechtsprechung, griechische Philosophien und verschiedene jüdische Denkrichtungen um Einfluss wetteiferten. Der Apostel Petrus legt in seinem ersten Brief zwei Schlüsselelemente eines florierenden evangelikalen Glaubens dar:

Geliebte, ich ermahne euch als Gäste und Fremdlinge: Enthaltet euch der fleischlichen Begierden, die gegen die Seele streiten; und führt einen guten Wandel unter den Heiden, damit sie da, wo sie euch als Übeltäter verleumden, doch aufgrund der guten Werke, die sie gesehen haben, Gott preisen am Tag der Untersuchung. (1 Petr 2,11–12)

Petrus ermahnt zu Reinheit innerhalb der Kirche und Würde außerhalb der Kirche. Du wirst nichts finden, womit Petrus die kompromisslose Sexualethik des Alten Testaments wegerklärt oder revidiert. Die Begierden des Fleisches kämpfen gegen unsere Seelen und wir dürfen nicht nachgeben. Solch ein Widerstand benötigt größere geistliche Ressourcen als die schwammige Mitte des traditionellen Protestantismus aufbieten konnte. Eltern können nicht erwarten, dass die Medien, öffentliche Schulen oder die Regierung ihre Arbeit übernehmen. Katechisiere deine Kinder, oder die Welt wird sie für dich katechisieren.

Ich sprach letzten Sommer mit einem Journalistenkollegen über den Verlust religiöser Freiheit inmitten des Aufkommens des Säkularismus und dem Rückgang der schwammigen Mitte. Ich sagte, dass ich mir keine Sorgen mache über Einschränkungen der Rede- und Versammlungsfreiheit bei den Ortsgemeinden, zum Teil, weil politische Koalitionen und Komplikationen bei der Durchsetzung dies unmöglich machen würden. Ich gab jedoch zu, dass ich mir um unsere Kinder Sorgen machte. Wir sprachen nur einen Monat nachdem die Regierung von Obama bekanntgab, dass alle öffentlichen Schulen Kindern den Zugang zu den Toiletten erlauben müssen, die ihrer „Genderidentität“ entsprechen und nicht dem Geschlecht auf ihrer Geburtsurkunde. Was für eine Tragödie wäre es, wenn unsere Kinder aufwachsen und die biblische Moral als Bedrohung für die amerikanische Gesellschaft auffassen würden. Dann ließ mein Journalistenkollege eine Bombe platzen.

„Und was wäre, wenn uns am Ende sogar unsere eigenen Kinder verfolgen?“, fragte sie.

Ich musste die Plausibilität ihres Anliegens eingestehen. Ist das nicht das Muster aus früheren Versuchen, die Kirche auszulöschen? Aber selbst solch ein apokalyptisches Szenario steht nicht außerhalb des Geltungsbereichs der Worte von Petrus. Wir können die Gedanken und Werte selbst unserer eigenen Kinder nicht kontrollieren. Indem wir sie jedoch in der Zucht und Ermahnung des Herrn aufziehen (Eph 6,4), können wir uns ehrenhaft verhalten. Selbst wenn unsere eigenen Kinder aufwachsen und uns als Übeltäter verleumden, sagte Petrus, dass sie unsere guten Werke sehen und Gott am Tag der Untersuchung preisen werden.

Sinn und Dazugehören

Der Aufstieg der Menschen ohne Religionszugehörigkeit und des Säkularismus, in Verbindung mit dem Schwund der schwammigen Mitte, bildet eine Herausforderung, der viele amerikanische Evangelikale nie zuvor entgegensehen mussten. In einer Kultur, die im Großen und Ganzen christliche Werte unterstützte, musste die Kirche nicht unbedingt Reinheit auszeichnen. Und da wir nicht darüber nachdenken mussten, dass wir Außenstehende gegenüber der Kultur sind, mussten wir auch nicht darüber nachdenken, wie uns ehrbares Verhalten auszeichnen würde.

Die Welt hat sich in der Tat von der Kirche wegbewegt, aber sie hat noch keine besseren Alternativen gefunden oder nachhaltigere Antworten. Ohne die schwammige Mitte als Wegweiser wird die Jugend verloren sein in der Suche nach Sinn und Identität. Woodward erklärt:

„Statt sich durch Beziehungen zu definieren, die innerhalb von Familien, Nachbarschaften, Kirchen, Schulen und Lehrern gebildet werden, stellen die Jugendlichen sich vor – und werden kulturell dazu ermutigt – dass es beim Heranwachsen darum geht, ein von innen abgeleitetes, originelles und authentisches Selbst zu entdecken, zu nähren und auszudrücken – unabhängig von den institutionell strukturierten Beziehungen mit anderen.“

Traditionelle protestantische Werte halfen, eine Welt hervorzubringen, die nicht glaubt, dass sie die Kirche braucht. Aber diese Welt hat bisher noch nichts jenseits des Selbst gefunden, um Sinn und Zugehörigkeit zu schenken. Was für eine wunderbare Möglichkeit also für die evangelikale Kirche, zu einem Zufluchtsort für die Waisen der Moderne zu werden.

In der guten Nachricht von Jesu Tod und Auferstehung finden Sünder aus jeder Zeit und jedem Ort und jeder Generation Gemeinschaft mit Gott in Christus und Gemeinschaft mit seinem Leib, der Gemeinde. Wenn wir die schwammige Mitte verlieren, aber unser prophetisches Zeugnis wiedergewinnen, kann die nächste Generation vielleicht die fruchtbarsten Jahre für die amerikanische Kirche bieten.