Eine Vision für „reine Sexualität“

Artikel von Todd Wilson
17. November 2017 — 6 Min Lesedauer

In dem Einleitungskapitel von The Benedict Option bemerkt Rod Dreher: „Amerikanische Christen müssen in Zukunft die brutale Tatsache hinnehmen, dass wir in einer Kultur leben, in der unsere Überzeugungen immer weniger Sinn ergeben werden.“ Er fügt diesen ernüchternden Nachsatz an: „Wir sprechen eine Sprache, die von der Welt um uns herum entweder nicht verstanden wird oder in ihren Ohren beleidigend klingt.“

Auf kein anderes Thema trifft das so sehr zu, wie auf die biblisch-historische Sicht auf Sexualität – die ich „reine Sexualität“ nenne. Über Geschlechterkomplementarität, also die wechselseitige Ergänzung von Mann und Frau  und Gottes Plan der Ehe zu sprechen, kann ein Gespräch schnell beenden, vielleicht erntet man sogar verachtende Blicke. Doch diese Art von scharfen und gelegentlich auch heftigen Reaktionen von außerhalb und innerhalb der Gemeinde ernten viele von uns, die eine historisch-christliche Sicht auf Sexualität vertreten; dabei fragen wir uns, wie wir für die biblische Sicht eintreten können, ohne als streitsüchtig, herzlos und unmenschlich wahrgenommen zu werden.

Mehr als ein Lippenbekenntnis

Für mich scheint es ganz offensichtlich zu sein, dass unsere Aufgabe über das reine Bekennen der historisch- christlichen Position zur menschlichen Sexualität hinausgeht. Wenn wir verhindern wollen, dass das evangelikale Christentum in eine neuheidnische Sexualität abrutscht, müssen wir eine Vision für eine reine Sexualität entwickeln. Das erfordert nicht einfach nur die historische Lehre der Kirche in einigen Glaubens- und Verwerfungssätzen darzulegen, sondern auch pastorale Überzeugungsarbeit – kreativ, gewinnend und einfühlsam in unseren zeitgenössischen Kontext zu kommunizieren.

Wir brauchen mehr als nur sorgfältige Exegese und gute Theologie; wir brauchen anziehende christliche Rhetorik, Prosa und Poesie. Unsere Herausforderung ist nicht einfach nur, Köpfe zu überzeugen, sondern Vorstellungen zu fesseln. Ja, wir wollen, dass Menschen überzeugt werden von der Wahrheit des Planes Gottes zur menschlichen Sexualität. Doch wir wollen auch, dass sie angezogen werden von ihrer Großartigkeit und Schönheit. Carl Trueman weist darauf hin, dass wir die Ästhetik gewinnen müssen, nicht einfach nur Diskussionen. Er schreibt Folgendes darüber:

„Argumente können wahr oder falsch sein, gut oder schlecht. Doch wen kümmert das heute noch? Wir leben in einer Zeit, in der die grundlegende Moral nur zwei Dinge kennt, nämlich geschmackvoll und geschmacklos. Kontrolle über die Ästhetik zu haben, darin liegt wahre Kraft, um Menschen zu verändern.“

Wie können wir das tun? Nun, ich will nicht so tun als hätte ich alle Antworten oder ein Allheilmittel. Doch wenn wir eine Vision für Gottes Plan menschlicher Sexualität entwickeln wollen, die wirksam sein soll, müssen wir es mit Freude, Tränen und Hoffnung tun.

Freude

Als erstes muss es mit Freude getan werden, da wir begeistert sind von der Schönheit der reinen Sexualität, nicht nur überzeugt von ihrer Wahrheit. Die heranwachsende Generation der Evangelikalen muss sowohl mit der Schlüssigkeit der christlichen Vision zur Sexualität vertraut gemacht werden als auch mit ihrer moralischen und ästhetischen Schönheit. An dieser Stelle können wir den Hinweis von C.S. Lewis beachten, der in seiner frühen Karriere verstanden hat, dass rationale Argumente eine Person nur bis zu einem bestimmten Punkt bringen können. Schließlich bestand er darauf, dass es einer „getauften Vorstellungskraft“ bedarf. Das ist der Grund, warum Lewis nicht nur Die Abschaffung des Menschen (The Abolition of Man) geschrieben, sondern auch in seiner Perelandra-Triologie (The Space Triology), einige dieser Punkte ausgeführt hat. 

Lewis erklärt über Naturgesetze, dass „wenn man diese in eine Fantasiewelt wirft, die Glasmalerei und die Sonntagschulassoziation zerstört werden; man auf diese Weise sie das erste Mal in ihrer wirklichen Kraft erscheinen lassen kann.“ Dies ist eine wunderbare Beschreibung dessen, was wir tun müssen, um die Schönheit der reinen Sexualität zu würdigen; um sie zum ersten Mal in ihrer wahren Kraft erscheinen zu lassen, sowohl in unseren Predigten, unseren Tweets, als auch in unseren Liedern – oder sogar noch besser, als verkörperte Realität in unserem Leben.

Tränen

Doch müssen wir unsere Vision auch mit Tränen vermitteln, als Menschen, die Anteil nehmen an der herzzerreißenden Komplexität dieser Fragen. In unserer Gemeinde haben wir einen netten Herrn – ein gottesfürchtiger Mann in seinen frühen 60ern – der häufig morgens aufwacht mit dem Wunsch, eine Frau zu sein.  Diesen Wunsch hat er den größten Teil seines Lebens gehabt. Es hat angefangen als er gerade erst fünf Jahre alt war. Ich weine mit ihm in seinem Kampf.

Ich muss auch an eine E-Mail denken, die ich vor kurzem von einem jungen Paar bekommen habe, das darüber nachgedacht hat, nach Chicago zu ziehen und in unsere Gemeinde zu kommen. Ihre Träume und Pläne wurden durchkreuzt durch die Geburt ihres ersten Kindes, das mit weiblichen Genitalien geboren wurde, aber mit einem XY- Chromosom – eine seltene medizinische Gegebenheit, bekannt als Intersexualität. Dieses reizende junge Paar wusste nicht einmal was Intersexualität ist, bis zu dem Zeitpunkt, als sie ein Kind damit bekamen.

Dies sind überwältigend komplexe und oft herzzerreißende Situationen von Menschen in unserer Welt und in unseren Gemeinden. Es sind keine „Probleme“, die gelöst werden müssen, sondern Menschen, die geliebt werden müssen, sodass wir selbst Tränen des Kummers und der Trauer mit ihnen vergießen. Wir werden niemals eine treue und überzeugende Vision einer reinen Sexualität kommunizieren, wenn unsere Haltung allzu muskulär und nicht ein zerbrochenes Herz ist.

Hoffnung

Schließlich müssen wir, wenn wir wirklich etwas bewirken wollen, diese Vision mit Hoffnung vermitteln; als Menschen, die an die zukünftige Verheißung des Evangeliums glauben – nämlich, dass während wir ein Maß an Heilung bereits in diesem Leben erfahren, die vollkommene Veränderung erst im kommenden Leben geschehen wird. Diese Verheißung ist nicht verankert in der Gerechtigkeit unserer sexuellen Korrektheit, sondern in dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi – und das gilt sogar für den größten aller Sünder.

Letzten Endes muss jeder im tiefsten Inneren seiner Seele wissen, dass „da keiner ist, der gerecht ist, auch nicht einer… Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Röm 3,10.12); dass „der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird“ – noch durch seine Heterosexualität –, sondern nur durch „den Glauben an Jesus Christus“ (Gal 2,16); dass wir alle mit unterschiedlichen sexuellen Kämpfen zu tun haben; dass wir alle Vergebung und Heilung von unseren sexuellen Sünden brauchen; und dass wir alle wissen müssen, im tiefsten Inneren unserer Seele, dass Jesus bereit ist, uns dort zu begegnen ­– in unserer Zerbrochenheit, in unserer Schande und in unserer Sünde.

„Siehe“, sagte Jesus, „ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftut, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir“ (Offb 3,20). Das wichtigste, was wir wissen müssen, ist, dass Jesus hineinkommt, sobald unsere Gemeinden ihm die Tür öffnen und alle Gnade, Schönheit und Kraft mit sich bringt – er reinigt uns, heiligt uns und rechtfertigt uns in seinem herrlichen Namen.