Erasmus vs. Luther: Vom (un)freien Willen

Artikel von Simon Mayer
17. November 2017

Einführung

Die Fülle der Schriften Luthers ist für den Normalsterblichen unüberschaubar. Die Weimarer Gesamtausgabe seiner Werke umfasst mehr als 100 Bände, insgesamt ca. 80.000 Seiten. Trotz dieses unermüdlichen Schaffens schrieb der Reformator 1537 in einem Brief an seinen Freund Wolfgang Capito: „Ich wünschte, dass sie (d.h. die Schriften) alle verschlungen würden. Denn ich erkenne keins als mein rechtes Werk an, außer etwa das ‚Vom unfreien Willen' und den Katechismus." (Martin Luther, Weimarer Ausgabe, Abteilung 4 Briefwechsel, Band 8, Briefe 1537-1539, S.99.)

Nur zwei seiner Werke erachtete Luther also für wirklich wertvoll, nur von zweien wünschte er sich, dass sie auch in Zukunft intensiv studiert würden. Tatsächlich erlangte sein Katechismus große Bekanntheit, seine Schrift „Vom unfreien Willen“ geriet jedoch leider nur allzu oft in den Hintergrund.

Der Reformator hatte sie im Jahr 1525 als Antwort auf die Abhandlung „Vom freien Willen“ des Humanisten Erasmus von Rotterdam geschrieben, die dieser ein Jahr zuvor verfasst hatte. Jeder, der den Kern der Theologie Luthers verstehen will, sollte den Streit zwischen den beiden Gelehrten nachvollziehen. Die nachfolgende Sammlung an Zitaten bietet dazu Hilfestellung. In ihr sind wesentliche Kernpassagen beider Werke erfasst und einander gegenübergestellt.

Erasmus vs. Luther: Vom (un)freien Willen

Zum Wesen der Schrift                                                                       

Die Dunkelheit der Schrift – Erasmus (S.12f.):

Es gibt nämlich in der Heiligen Schrift gewisse unzugängliche Stellen, in die wir nach dem Willen Gottes nicht tiefer eindringen sollen und in denen, wenn wir trotzdem einzudringen versuchen, zunehmendes Dunkel uns umfängt, wohl damit wir auf diese Weise die unerforschliche Erhabenheit der göttlichen Weisheit und die Schwäche des menschlichen Geistes erkennen […] Jedesmal also, wenn man bis dahin gekommen ist, dürfte es meines Erachtens wohlbedachter und frömmer sein, mit Paulus auszurufen: „Welch eine Tiefe des Reichtums der Weisheit und  der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheide und wie unerforschlich seine Wege!“ (Röm 11,33) und mit Jesaja: „Wer hat den Geist des Herrn vernommen oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jes 40,13) – als etwas erklären zu wollen, was über das Maß des menschlichen Geistes hinausgeht. Vieles bleibt einer Zeit vorbehalten, wo wir nicht mehr nur mittels eines matten Spiegels und in einem dunklen Wort, sondern mit unverhülltem Auge die Herrlichkeit des Herrn schauen werden (vgl. 1Kor 13,12).

Die Klarheit der Schrift – Luther (S.24ff.):

Gott und die heilige Schrift sind so wenig dasselbe, wie der Schöpfer und die Schöpfung. Niemand bezweifelt, dass in Gott vieles verborgen ist, was wir nicht kennen. Christus selbst sagt, dass vom jüngsten Tage niemand außer dem Vater weiß (Mk 13,32). […] Die gottlosen Sophisten – deren Sprache auch du, Erasmus, hier redest – haben jedoch verbreitet, dass in der Schrift einiges unverständlich und dunkel sei. Sie haben freilich noch nie einen Glaubensartikel vorgebracht, können auch keinen vorbringen, an dem sie ihre unsinnige Ansicht beweisen. Das ist Satans Gaukelspiel. Damit hat er den Leuten die Bibel verleidet. […] Das Wort [in Jes 40,13] lautet nicht: „Wer hat den Sinn der Schrift erkannt?“ Es lautet vielmehr: „Wer hat den Sinn des Herrn erkannt?“ […] Die Schrift bekennt einfach die Dreieinigkeit Gottes, die Menschlichkeit Christi und die unvergebbare Sünde. Das ist nicht unklar. Das ist vollkommen deutlich. Wie aber das alles zugeht, das brauchen wir nicht zu wissen.

Vorbemerkungen zum freien Willen

Was wir bzgl. des freien Willens wissen müssen und was nicht – Erasmus (S.13f.):

Folgendes jedenfalls erfahren wir nach meiner Ansicht hinsichtlich des freien Willens aus der Heiligen Schrift: befinden wir uns auf dem Wege der Frömmigkeit, so sollen wir freudig voranschreiten zum Besseren und an das, was hinter uns liegt, nicht mehr denken (vgl. Phil 3,13); sind wir in Sünden hineingeraten, so sollen wir mit aller Kraft herauszukommen trachten, das Heilmittel der Buße auf uns nehmen und uns auf jede Weise bemühen um die Barmherzigkeit des Herrn, ohne die weder der Wille des Menschen noch sein Streben wirksam ist; alles Böse sollen wir uns selber zurechnen, alles Gute dagegen gänzlich der göttlichen Gnade zuschreiben, der wir auch das sogar verdanken, was wir sind; im Übrigen sollen wir glauben, dass alles, was uns in diesem Leben widerfährt, sei es erfreulich oder betrübend, zu unserm Heil von Gott verursacht worden ist und dass keinem Unrecht geschehen kann durch ihn, der von Natur gerecht ist, mag uns gleich etwa treffen, was wir nicht verdient zu haben scheinen; und niemand soll verzweifeln an der Vergebung seitens des von Natur unendlich gnädigen Gottes. Dieses zu wissen, so wollte ich sagen, genügt meines Erachtens zur christlichen Frömmigkeit und man hätte nicht mit unfrommer Neugierde eindringen sollen in jene abgründigen, um nicht zu sagen: überflüssigen Fragen, ob Gottes Vorherwissen mit einer Nicht-Notwendigkeit [menschlichen Tuns] vereinbar ist, ob der menschliche Wille etwas beitragen kann zu dem, was Einfluss hat auf unser ewiges Heil, oder ob er nur hinnehmen muss die handelnde Gnade und ob wir alles, was wir tun, Gutes wie Böses, aus reiner Notwendigkeit tun oder vielmehr erleiden.

Ein falsches Bild des christlichen Glaubens – Luther (S.27ff.):

Noch unerträglicher ist es, dass du die Sache, die von uns umkämpft wird, die Sache des „freien“ Willens, zu denen zählst, die unnütz, die nicht notwendig sind. Du willst sie abtun, indem du uns herzählst, was nach deinem Urteil zur christlichen Frömmigkeit ausreicht. Dabei ist ein Bild entstanden, wie es sicherlich jeder Jude oder ein Heide, der Christum nicht kennt, leicht zeichnen könnte. Christum erwähnst du auch nicht mit einem Tüttelchen; als meintest du, dass es auch ohne Christum eine christliche Frömmigkeit geben könne, wenn nur Gott als der von Natur unendlich Gütige mit ganzer Hingabe verehrt wird. Was soll ich dazu sagen, Erasmus? Du bist voll von Lucian und versetzt mich in einen großartigen epikuräischen Rausch. Wenn du meinst, dass die von uns umkämpfte Sache für die Christen nicht notwendig sei, dann weiche bitte vom Kampfplatz! Wir haben nichts mit dir gemein. Wir halten sie für notwendig. […] Zum Wesen des Christentums, wie du es beschreibst, gehört es unter anderem, dass wir unsere sämtlichen Kräfte anspannen sollen. Wir sollen heilsame Werke der Buße auf uns nehmen und auf alle Art uns um Gottes Barmherzigkeit mühen, ohne die alles menschliche Wollen und Streben freilich umsonst sei. Es soll sich jeder Mensch der Vergebung getrösten, die der von Natur unendlich gnädige Gott ihm gewähren werde. Diesen deinen Worten fehlt Christus und der heilige Geist. […] Gleichwohl behaupten diese Worte fest, es gebe Kräfte in uns, es gebe ein Streben mit allen menschlichen Kräften, es gebe eine Barmherzigkeit Gottes und die Möglichkeit, sich um sie zu bemühen, es gebe einen von Natur gerechten, von Natur gütigen Gott usw. Was soll jetzt der tun, der nicht weiß, was für Kräfte das sind und was diese Kräfte vermögen, was sie erleiden müssen, was sie erstreben können, was sie ausrichten können und wo ihre Möglichkeiten eine Grenze haben? Du kannst dem, der so fragt, keine Antwort geben. […] Du grenzt das Tun und das Leiden des Menschen nicht gegeneinander ab. Man erfährt also nicht, was Gottes Barmherzigkeit und was der menschliche Wille vermag.

Diese Frage ist nicht überflüssig – Luther (S.31):

Es ist […] nicht unfromm, vorwitzig und überflüssig, es ist vielmehr heilsam und notwendig für einen Christen zu wissen, ob sein Wille etwas oder nichts zu seinem Heil ausrichten kann. Ja, du sollst es wissen: hier ist der Angelpunkt unserer Auseinandersetzung; hier liegt der Kern der Sache. Wir haben zu untersuchen, was der freie Wille zu tun vermag, was er leiden muss und wie er sich zur Gnade verhält. Wenn wir das nicht wissen, dann wissen wir überhaupt nichts vom Christentum und sind schlimmer als alle Heiden. Wer das nicht versteht, der sage nur nicht, dass er ein Christ sei. Wer es gar tadelt oder verachtet, der wisse, dass er der ärgste Feind der Christen ist. Wenn ich die Art, die Reichweite und das Maß meines Könnens und Handelns in Bezug auf Gott nicht kenne, dann ist mir ebenso ungewiss und unbekannt auch die Art, die Reichweite und das Maß dessen, was Gott mir gegenüber vermag und tut. Gott wirkt alles in allem. Wenn ich aber Gottes Macht und Werke nicht kenne, dann kenne ich Gott selber nicht. Kenne ich Gott nicht, kann ich ihn auch nicht verehren, ihn nicht loben, ihm nicht danken, und ihm nicht dienen. Dann weiß ich nicht, wieviel ich mir selber und wieviel ich Gott zutrauen soll. Wir müssen daher Gottes Vermögen und Werk von dem unsern sicher zu unterscheiden wissen, wenn wir ein frommes Leben führen wollen. Das ist die erste Aufgabe aller christlichen Erkenntnis. Unsere Selbsterkenntnis, unsere Gotteserkenntnis und die Ehre Gottes stehen hier in Frage und auf dem Spiel.

Definitionen des (un)freien Willens

Eine Definition des freien Willens – Erasmus (S.24):

Unter freiem Willen verstehen wir […] das Vermögen des menschlichen Willens, mit dem der Mensch sich dem, was zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von ihm abwenden kann.

Dazu Luther (S.84):

Du […] lässt den freien Willen nach beiden Seiten gleich stark sein, so dass er aus eigener Kraft, ohne die Gnade, sich ebenso zum Guten wenden wie von ihm abwenden kann. Du bedenkst nicht, was alles du dem freien Willen zutraust, wenn du sagst, dass diese Kraft sich dem Guten zuwenden könne. So schließt du den heiligen Geist mit all seiner Kraft aus, als wäre er überflüssig und nicht notwendig.

Die Willensfreiheit ist verwundet, aber nicht tot – Erasmus (S.28):

Obwohl nämlich die Willensfreiheit durch die Sünde eine Wunde empfangen hat, ist sie nicht tot; obwohl sie sich eine Lähmung zugezogen hat, so dass wir vor dem Empfang der Gnade geneigter zum Bösen als zum Guten sind, ist sie nicht vernichtet; nur trüben ungeheuerliche Verbrechen oder zur zweiten Natur gewordene Gewohnheitssünden gelegentlich dermaßen das Urteil des Verstandes und verschütten dermaßen die Freiheit des Willens, dass jenes vernichtet und diese tot zu sein scheint.

Der Wille des Menschen ist versklavt, unter Satans Gewalt – Luther (S.76):

Der freie Wille oder das menschliche Herz steht so sehr unter Satans Gewalt, dass der Mensch, wenn nicht Gottes Geist ihn durch ein Wunder erweckt, von sich aus die Wahrheit weder sehen noch hören kann, auch nicht, wenn sie deutlich in sein Auge und Ohr dringt und wie mit Händen zu greifen ist.

Der Mensch tut das Böse (und Gute) nicht wider Willen – Luther (S.53f):

Der Mensch tut das Böse […] nicht wider Willen, vielmehr freiwillig und gern, wenn nicht der Geist Gottes ihn beseelt. Er tut es notwendig, jedoch nicht gezwungen. Das ist ein Unterschied! […] Hier ist nicht von Zwang die Rede, als würde der Mensch beim Kragen genommen wie ein Dieb oder Räuber, der zum Galgen geführt wird. Er kann jedoch seinen Willen, seine Bereitwilligkeit, seine Lust oder Neigung, die ihn handeln lässt, aus eigener Kraft nicht aufgeben, nicht bezwingen, nicht ändern. Er muss mit seinem Wollen, mit seiner Neigung stets die gleiche Richtung verfolgen. […] Der Wille kann sich nicht verändern. Er kann seine Richtung nicht ändern. […] Ebenso, wenn Gott in uns wirkt. Unser Wille wird zwar durch den heiligen Geist in wohltuender Weise verändert. Wir handeln aber nach wie vor aus Lust, aus Neigung, aus eigenem Antrieb, nicht gezwungen. […] So steht der menschliche Wille zwischen Gott und dem Satan. Er ist wie ein Pferd, das einen Reiter haben muss. Wenn Gott ihn reitet, geht er wohin Gott will. Wenn Satan ihn reitet, geht er, wohin Satan will. Es steht nicht in seinem Belieben, den einen oder den anderen zu wählen und zu ihm zu laufen. Die beiden kämpfen vielmehr darum, wem er gehören soll.

Nur Gott hat einen freien Willen – Luther (S.55ff.):

Der freie Wille ist ein göttlicher Titel. Er steht dem erhabenen Gott zu und niemandem außer ihm. Der „kann schaffen, was er will“ (Ps 115,3) im Himmel und auf Erden. Wenn man dem Menschen diesen Titel zuerkennt, dann bezeichnet man ihn geradezu als Gott; eine Gotteslästerung, die nicht überboten werden kann. […] Wenn wir das umstrittene Wort nicht fallen lassen wollen – was am sichersten und besten wäre – sollten wir doch sagen, wie es richtig zu gebrauchen ist. Dem Menschen steht ein freier Wille dem gegenüber nicht zu, das höher als er, sondern nur dem gegenüber, das niedriger als er ist. […] Im Übrigen hat er gegenüber Gott keinen freien Willen. Er wird selig oder er wird verdammt, ohne es ändern zu können. Er muss Gott oder er muss dem Teufel dienen.

Scheinbare biblische Belege für den freien Willen

Die Aufforderungen, Verheißungen und Ermahnungen Gottes – Erasmus (S.34ff.):

„Ich habe dir vorgelegt den Weg des Lebens und den Weg des Todes. Wähle das Gute und folge ihm! (freie Wiedergabe von 5. Mose 30,19)“ Konnte es noch deutlicher gesagt werden? Gott zeigt, was gut und was böse ist; er stellt Lohn und Strafe in Aussicht und er lässt dem Menschen die Freiheit der Wahl. Lächerlich wäre es allerdings, jemanden zur Wahl aufzufordern, der nicht imstande wäre, sich hierhin oder dorthin zu wenden; das wäre gerade, als wollte man einem, der am Scheidewege steht, sagen, er sehe zwei Wege vor sich und solle wählen, welchen er wolle, – während dagegen nur ein Weg für ihn gangbar wäre. […] Bei Jesaja [sagt] der Herr: „Wenn ihr willig und mir gehorsam seid, sollt ihr die köstlichen Erzeugnisse des Landes genießen; doch wenn ihr nicht wollt und mir nicht gehorchet, sollt ihr durchs Schwert umkommen.“ (Jes 1,19f) Gesetzt, der Mensch habe auf keine Weise einen freien Willen zum Guten oder gar – wie einige sagen – weder zum Guten noch zum Bösen: was haben dann die Worte „wenn ihr willig seid…“ und „wenn ihr wollt“ zu bedeuten? Dann wäre es richtiger gewesen zu sagen: „Wenn ich (Gott) will…“ und „wenn ich nicht will…“ […] Mit den Worten „wer will“ wird stets der freie Wille angesprochen. […] Die Heilige Schrift bezweckt doch fast nichts anderes als Bekehrung, Eifer und Besserung. All diese Ermahnungen müssten ihren Sinn verlieren, wenn wirklich beim gut wie beim böse Handeln nur Notwendigkeit in Frage käme.

Die Gebote Gottes zeigen uns unsere Ohnmacht – Luther (S.97f.):

Doch wir hören von dir ein Gleichnis: Wenn man jemandem, der am Scheideweg steht, sagte, er sehe zwei Wege vor sich und solle wählen, welchen er wolle, so würde man ihn verspotten, falls nur der eine offen stände. – Hier kommt in Betracht, was ich über die Beweisführung der irdisch gesinnten Vernunft gesagt habe. Wenn diese meint, es werde der Mensch durch ein unerfüllbares Gebot verspottet, sagen wir dagegen, er werde dadurch ermahnt und angetrieben, seine Ohnmacht einzusehen. […] Gott gibt uns sein Gesetz nicht, um ein menschliches Vermögen zu bestätigen, sondern um die blinde Vernunft zu erleuchten. Die soll sehen, wie nichtig ihr eigenes Licht ist und wie nichtig die Kraft des menschlichen Willens. Paulus sagt, dass durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde kommt (Röm 3,20). […] Es steht nicht geschrieben, dass aus dem Gesetz die Erkenntnis eines Vermögens oder die des Guten komme. Vielmehr ist die Erkenntnis der Sünde das einzige, was durch das Gesetz zustandekommt, –  wie Paulus bezeugt (Röm 3,20). […] Es lernen schon die Kinder in der Schule, dass durch Worte, die in Befehlsform gesetzt sind, nur das bezeichnet wird, was geschehen soll. Was tatsächlich geschieht und was geschehen kann, das muss durch Worte ausgedrückt werden, die in Wirklichkeitsform gesetzt sind.

Der blinde Mensch – Luther (S.100):

Die Schrift stellt uns einen Menschen vor, der nicht nur gebunden, elend, gefangen, krank und tot, sondern zu allem Elend durch Satans Wirken obendrein noch derart blind ist, dass er glaubt, frei, glücklich, erlöst, stark, gesund und lebendig zu sein. Der Satan weiß recht gut, dass er keinen Menschen, der das eigene Elend kennt, in seiner Gewalt behalten kann. […] Es ist daher Satans Bemühen, den Menschen so zu halten, dass er sein Elend nicht erkennt, vielmehr sich anmaßt, alles zu können, was ihm gesagt wird. Das Bemühen des Moses und des Gesetzgebers dagegen ist es, dem Menschen durch das Gesetz das eigene Elend zu offenbaren. Die Selbsterkenntnis soll den Menschen zerschlagen, in Bestürzung versetzen, auf die Gnade vorbereiten und ihn zu Christo treiben, der ihn selig macht.

Die Unmöglichkeit, Sünde zuzurechnen, wenn der Wille nicht frei ist – Erasmus (S.28):

Wenn der Wille nicht frei gewesen wäre, hätte die Sünde nicht zugerechnet werden können, denn sie hört auf, eine Sünde zu sein, wenn sie nicht eine freiwillige gewesen ist, es sei denn, dass ein Irrtum oder eine Gebundenheit des Willens aus einer Sünde entstanden ist. Man rechnet daher einer gewaltsam geschändeten Frau ihren Fall nicht zu.

Die Sinnlosigkeit eines kommenden Gerichts, wenn alles notwendig ist – Erasmus (S.76):

Warum würde in der Heiligen Schrift so oft das Gericht erwähnt, wenn Schuld überhaupt nicht gewogen würde? Oder warum müssten wir vor dem Richterstuhl stehen, wenn nichts nach unserer Willkür, sondern alles nach reiner Notwendigkeit bei uns zugegangen wäre? Ferner stört die Erwägung, wozu all die vielen Warnungen, Gebote, Drohungen, Ermahnungen und Vorwürfe nötig wären, wenn wir nichts zu tun vermöchten und wenn Gott nach seinem unveränderlichen Willen alles – das Wollen wie das Vollbringen – in uns wirkte (vgl. dazu Phil 2,13)?

Lohn oder Strafe als Folge des willentlichen Tuns – Luther (S.116f.)

Wir gehen jetzt auf die Behauptung ein, dass die Notwendigkeit weder Verdienst noch Lohn zulasse, Dies stimmt, wenn man eine Notwendigkeit meint, die von Zwang herrührt. Wenn man eine Notwendigkeit meint, die von Unveränderlichkeit herrührt, stimmt es nicht. Wer wird dem Lohn geben oder Verdienst anrechnen, der zwangsweise arbeitet? Denen aber, die willentlich Gutes oder Böses tun, folgt – auch wenn sie an diesem ihren Willen aus eigener Kraft nichts ändern können – natürlich und notwendig Lohn oder Strafe. Wie geschrieben steht: „Du, Herr, wirst einem jeden nach seinen Werken geben“ (Röm 2,6). Das ist eine natürliche Folge wie die: Wenn du im Wasser untergehst, ertrinkst du; wenn du ans Land schwimmst, bist du gerettet.

Biblische Belege für die Souveränität Gottes

Der Pharao

Das Beispiel des Pharao – Erasmus (S.48):

In Wirklichkeit aber ist der Pharao mit einem nach beiden Seiten beweglichen Willen erschaffen worden und hat sich aus eigenem Antrieb dem Bösen zugewandt, da er lieber seiner eigenen Neigung folgen als den Befehlen Gottes gehorchen wollte.

Gottes Wort darf nicht verdreht werden – Luther (S.126-131)

Es steht da Gottes Wort: „Ich will das Herz des Pharao verstocken“ […] Ein Mensch aber, der es gelesen hat, sagt mir, es bedeute an dieser Stelle: Gelegenheit zur Verstockung geben, indem man den Sünder nicht sofort zurechtweist. Mit welchem Recht, zu welchem Zweck und wodurch genötigt verdreht man mir so den natürlichen Wortsinn? […] Es steht nicht in unserm Belieben – wie die Diatribe es sich einredet – Gottes Wort zu gestalten und umzugestalten. […] Es wird ihr [der Diatribe] nicht gelingen, Gott von dem Vorwurf zu befreien, er selber verursache und verschulde die menschliche Verstockung.

Judas

Das Beispiel von Judas – Erasmus (S.51):

Gott wusste es vorher und weil er es vorher wusste – wollte er es irgendwie, dass Judas den Herrn verraten sollte. Sieht man also auf Gottes unfehlbares Vorherwissen und auf seinen unveränderlichen Willen, so musste es notwendigerweise darauf hinauslaufen, dass Judas den Herrn verriet; trotzdem hätte Judas seinen Willen ändern können, ja er hätte gewiss einen frevelhaften Willen nicht in sich aufkommen zu lassen brauchen. Wenn er ihn nun aber geändert hätte? – Auch dann wäre Gottes Vorherwissen nicht falsch gewesen und sein Wille nicht behindert worden, denn dann hätte er eben diese Willensänderung vorhergewusst und gewollt.

Die Notwendigkeit (ohne Zwang) von Judas Verleugnungstat – Luther (S.149):

Wir erörtern nicht, ob Judas willentlich oder gegen seinen Willen zum Verräter wurde. Wir fragen vielmehr, ob es zur von Gott vorherbestimmten Stunde unausweichlich geschehen musste, dass Judas den Herrn Christum willentlich verriet. Doch man höre, was die Diatribe hier sagt: Wenn man Gottes unfehlbare Vorsehung bedenkt, musste Judas zum Verräter werden; und doch hätte Judas seinen Willen zu ändern vermocht. – Verstehst du auch, liebe Diatribe, was du sagst? Abgesehen davon, dass Judas nur Böses hätte wollen können, wie wir eben bewiesen haben; wie hätte er der unfehlbaren Vorsehung Gottes zum Trotz seinen Willen ändern können? Etwa, indem er die Vorsehung Gottes änderte und fehlbar machte?

Zur Gnade Gottes

Dem freien Willen etwas, der Gnade das meiste – Erasmus (S.87f.)

Mir sagt die Meinung derer zu, die einiges dem freien Willen, doch das meiste der Gnade zuschreiben. […] „Warum dem freien Willen etwas zugestehen?“ so fragt man. – Damit es etwas gibt, was verdientermaßen den Gottlosen zugerechnet werden kann, die sich der Gnade Gottes willentlich entziehen: damit von Gott ferngehalten werde die fälschliche Anklage, er sei grausam und ungerecht; damit von uns ferngehalten werde die Verzweiflung ebenso wie die Sicherheit und damit wir zum Streben angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen festgestellt, dass es einen freien Willen gibt, der aber – damit aller menschlichen Hoffart vorgebeugt werde – ohne die dauernde Gnade Gottes unwirksam ist.

Kein Mittelweg – Luther (S.189):

Was Erasmus in seinem Schlusswort ausführt, ist nur Wiederholung: Wenn Luthers Ansicht die richtige wäre, würden die vielen Gebote, Drohungen und Verheißungen vergeblich sein. Es bliebe kein Raum für Verdienst und Schuld, für Lohn und Strafe. Es würde schwierig sein, die Barmherzigkeit oder auch nur die Gerechtigkeit Gottes zu verteidigen, wenn Gott die verurteilte, die sündigen, weil sie gar nicht anders können. Diese und andere Unannehmlichkeiten würden folgen. […] Die Diatribe macht uns den gewiss gut gemeinten Vorschlag, man solle die Mittelstraße wählen und dem freien Willen „ein klein wenig“ einräumen. Dann seien die Widersprüche der Schrift und die genannten Unannehmlichkeiten beseitigt. Auf diese Mittelstraße lassen wir uns nicht ein, denn auf ihr kommt man nicht weiter. Man muss […] bis zum Äußersten gehen und sagen, dass es überhaupt keinen freien Willen gibt. Alles muss auf Gott zurückgeführt werden. Dann gibt es keine „Widersprüche der Schrift“. Die Unannehmlichkeiten muss man eben tragen, wenn sie nicht zu beseitigen sind.

Warum der unfreie Wille (nicht) verkündigt werden soll

Die Unzweckmäßigkeit der Verkündigung eines unfreien Willens – Erasmus (S.16):

Nehmen wir also einmal an, es sei in irgend einem Sinne wahr – was Wiklif gelehrt und Luther bekräftigt hat – dass alles was wir tun, nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit geschehe: was könnte unzweckmäßiger sein als die öffentliche Bekanntgabe dieser widersinnigen Behauptung? Nehmen wir zweitens an, dass in irgend einem Sinne wahr sei, was irgendwo Augustin geschrieben hat, dass nämlich Gott Gutes wie Böses in uns wirke, dass er also für seine guten Werke uns belohne und für seine bösen Werke uns bestrafe. Welch ein großes Fenster würde die Bekanntgabe dieser Meinung unzähligen Menschen zur Gottlosigkeit öffnen, zumal da die Menschen durchweg geistig schwerfällig und beschränkt, dazu boshaft und ohnehin zu jedem gottlosen Frevel unverbesserlich geneigt sind. Welcher Schwache würde hinfort noch aushalten den dauernden und mühevollen Kampf gegen das eigene Fleisch? Welcher Böse würde hinfort noch sein Leben zu bessern trachten? Wer könnte sich überwinden, von ganzem Herzen einen Gott zu lieben, der die Hölle heizte mit ewiger Pein, um dort für seine eigenen Missetaten armselige Menschen zu bestrafen, als freute er sich an ihren Foltern? So nämlich würden sich die meisten die Sache zurechtlegen. Die Menschen sind ja durchweg ungebildet und weltlich gesonnen; sie neigen ohnehin zum Unglauben, zu Freveln und zu Gotteslästerung, so dass man nicht noch Öl ins Feuer zu gießen brauchte.

Warum solche Lehre verkündigt werden muss – Luther (S.51f.):

Du fragst, ob es nicht bedenklich, ob es wirklich notwendig sei, Sachen zu verbreiten, die so viele üble Folgen haben. Darauf antworte ich: Gott will, dass solche Sachen verbreitet werden. Statt nach dem Grund des göttlichen Willens zu fragen, soll man Gott anbeten und seinen Willen ehren. Denn Gott ist allein gerecht und weise. Darum tut er niemandem Unrecht und handelt niemals blind, mag es uns auch oft so scheinen. Diese Antwort sollte eigentlich genügen. Die Frommen sind mit ihr zufrieden. Doch wir wollen ein Übriges tun und zwei Gründe nennen, warum solche Sachen öffentlich verbreitet werden müssen:

  1. damit wir demütig werden und die Gnade Gottes kennen lernen,
  2. damit wir die höchste Stufe des Glaubens erreichen.

Erstens: Gott hat den Demütigen Gnade verheißen (1. Petrus 5,5), also denen, die sich verloren geben und die an sich selber verzweifeln. Es kann aber kein Mensch wirklich demütig sein, bevor er weiß, dass sein Heil gänzlich außer ihm liegt, jenseits seiner Kraft, jenseits seines Planens und Strebens, nicht im eigenen Willen noch Werk, sondern im Urteil, Rat, Willen und Werk eines andern, nämlich Gottes allein. Wer sich einbildet, er selber könne etwas, und sei es auch noch so wenig, für sein ewiges Heil tun, der beharrt noch im Glauben an sich selbst, der verzweifelt an sich selbst noch nicht ganz. Darum demütigt er sich nicht vor Gott, sondern setzt sich selber Ort, Zeit und Werk, um endlich, wie er wenigstens hofft und wünscht, selig zu werden. Wer dagegen nicht daran zweifelt, dass er ganz vom Willen Gottes abhängt, wer also völlig an sich selbst verzweifelt und nicht von selbsterwählten Werken, sondern allein vom Wirken Gottes sein Heil erwartet, der ist der Gnade am nächsten. Der kann selig werden. […]

Zweitens: „Der Glaube ist ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Glaube ist also nur möglich, wenn alles, was geglaubt werden soll, in der Verborgenheit bleibt. Nun kann etwas nicht tiefer verborgen sein, als wenn es als das Gegenteil von dem, was es ist, empfunden und erfahren wird. So bleibt Gott in seinem Werken verborgen. […] Glauben können, dass der barmherzig ist, der nur wenige selig macht, doch viele verdammt; glauben können, dass der gerecht ist, der absichtlich und ohne dass sie es ändern können, Menschen verdammenswert macht, – das ist die höchste Stufe des Glaubens. […] Könnte ich mit der Vernunft begreifen, dass Gott barmherzig und gerecht ist, dann brauchte ich keinen Glauben. Ich kann es nicht. Darum habe ich Gelegenheit, meinen Glauben zu üben. Darum müssen solche Sachen gepredigt und verbreitet werden.

Gottes Unveränderlichkeit ist unser einziger Trost – Luther (S.37):

Unser Glaube wäre hin, die Verheißungen Gottes, überhaupt alle Worte der Gottesbotschaft wären für uns nicht mehr vorhanden, wenn wir deine Lehre, deinen Glauben annähmen, dass wir von der Vorsehung Gottes und von der Notwendigkeit alles Geschehens nichts zu wissen brauchen. Es ist in allen Anfechtungen unser einziger und höchster Trost, dass Gott wahrhaftig ist, dass er unveränderlich alles tut und dass nichts seinen Willen hemmen kann.

Luthers persönliches Bekenntnis – Luther (S.222f.):

Von mir selber bekenne ich: Wenn ich zu wählen hätte, wünschte ich mir keine Willensfreiheit. Ich möchte nicht die Möglichkeit haben, mich um meine Seligkeit selber zu bemühen. Denn wie dann bestehen? Es gibt so viele Anfechtungen und Gefahren, es bedrängen den Menschen so viele böse Geister – von denen jeder einzelne stärker ist als alle Menschen zusammen -, dass niemand selig werden könnte. Doch ebenso, wenn es keine Gefahren, keine Anfechtungen und keine bösen Geister gäbe. Ich müsste mich aufs ungewisse plagen. Ich hätte keinen Grund unter den Füßen. Selbst wenn ich eine Ewigkeit damit verbringen dürfte, gute Werke zu tun, könnte mein Gewissen mir niemals sagen, wieviel ich tun muss, um Gott zu genügen. Bei jedem Werk, das ich vollbrächte, bliebe das quälende Bedenken: wird es Gott gefallen? Fordert Gott nicht noch mehr? Das ist die Erfahrung aller Werkgerechten. Auch ich habe das alles zu meinem großen Leidwesen viele Jahre lang durchmachen müssen. Doch Gott hat mir die Sorge um meine Seligkeit abgenommen. Ich weiß jetzt, dass meine Seligkeit von seinem und nicht von meinem Willen abhängt. Er hat verheißen, mich zu retten, nicht durch mein Tun und Laufen, sondern durch seine Gnade und Barmherzigkeit. Jetzt habe ich Gewissheit. Denn Gott ist treu. Er belügt mich nicht. Er ist so mächtig und so groß, dass kein böser Geist, keine Anfechtung ihn stürzen und mich ihm entreißen kann. Christus sagt: „Niemand wird die, die mir gehören, aus meiner Hand reißen, denn der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles andere“ (Joh 10,28f.). Auf diese Weise werden – wenn nicht alle – so doch einige, ja viele Menschen selig; während der freie Wille nicht einen Menschen vor dem ewigen Verderben retten kann. Wir können jetzt die Gewissheit haben, dass wir Gott gefallen. Es liegt jetzt alles nicht an unsern Werken und Verdiensten, sondern allein an seiner Gnade und Barmherzigkeit. Die hat er uns verheißen.

Quellen

Eingeführt und zusammengestellt von Simon Mayer. Als Quellen wurden verwendet:

  • Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen [übers. von Otto Schumacher], Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 6. Aufl. 1988. Der lateinische Originaltitel lautet „De libero arbitrio“.
  • Martin Luther, Vom unfreien Willen [übers. von Otto Schumacher], Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1937. Der lateinische Originaltitel lautet „De servo arbitrio“.