Was bedeutet „coram Deo“?

Artikel von R.C. Sproul
15. November 2017 — 4 Min Lesedauer

Warum tun wir, was wir tun?

Ich erinnere mich, wie meine Mutter vor mir stand, mit ihren Händen in den Hüften, und ihre Augen wie glühend heiße Kohlen auf mich gerichtet, während sie mit schallender Stimme fragte: „Warum hast du das gemacht, junger Mann?“

Ich wusste instinktiv, dass meine Mutter mir keine abstrakte, theoretische Frage stellte. Ihre Frage war eigentlich gar keine Frage – es war eine kaum verhüllte Anklage. Ihre Worte konnten leicht so übersetzt werden: „Warum tust du das, was du gerade tust?“ Sie forderte mich heraus, mein Verhalten mit einem triftigen Grund zu rechtfertigen. Nur hatte ich keinen.

Kürzlich stellte mir ein Freund eine ähnliche Frage. Er fragte: „Worum geht es eigentlich beim christlichen Leben?“ Er interessierte sich für das allesumspannende, letztendliche Ziel des christlichen Lebens.

Um seine Frage zu beantworten, berief ich mich auf das Vorrecht eines Theologen und antwortete mit einem lateinischen Ausdruck. Ich sagte: „Beim christlichen Leben geht es um coram Deo. Coram Deo fasst das Wesen des christlichen Lebens zusammen.“

Ein Leben in der Gegenwart Gottes führen

Die Aussage bezieht sich buchstäblich auf etwas, das in der Gegenwart, im Angesicht Gottes stattfindet. Coram Deo zu leben heißt, das ganze Leben in der Gegenwart Gottes zu führen: Unter der Autorität Gottes und zur Ehre Gottes.

In der Gegenwart Gottes zu leben, heißt zu verstehen, dass wir vor Gottes Augen sind, unabhängig davon was wir tun und wo immer wir es tun. Gott ist allgegenwärtig. Es gibt keinen Ort, der so entfernt wäre, dass wir seinem durchdringenden Blick entkommen könnten.

Sich der Gegenwart Gottes bewusst zu sein heißt auch, seine Souveränität in dieser Sache zu sehen. Die einheitliche Erfahrung der Heiligen ist die Erkenntnis, dass der wahre Gott vollkommen souverän ist. Als Saulus mit der strahlenden Herrlichkeit des auferstandenen Christus auf dem Weg nach Damaskus konfrontiert wurde, war seine erste Reaktion: „Wer bist du, Herr?“ Er war sich nicht sicher, wer mit ihm redete, aber er wusste, dass wer auch immer es war, er gewiss souverän über ihm stand.

Ein ganzheitliches Leben führen

Unter der göttlichen Souveränität zu leben beinhaltet allerdings wesentlich mehr, als eine widerwillige Unterordnung unter die Souveränität Gottes, die nur aus Furcht vor der Strafe motiviert ist. Es beinhaltet das Anerkennen, dass es kein höheres Ziel gibt als Gottes Ehre. Unser Leben soll ein lebendiges Opfer sein, ein Opfer, das im Geist der Anbetung und der Dankbarkeit dargebracht wird.

Das ganze Leben coram Deo zu führen heißt, ein Leben voller Integrität zu führen. Es ist ein ganzheitlich geführtes Leben, das seine Einheit und Stimmigkeit in der Majestät Gottes findet. Ein fragmentiertes, geteiltes Leben ist ein Leben der Auflösung. Es ist gekennzeichnet von Unstimmigkeit, Disharmonie, Verwirrung, Konflikt, Widersprüchlichkeit und Chaos.

Der Christ, der sein oder ihr Leben in Bereiche des Religiösen und Nichtreligiösen aufspaltet, hat nicht verstanden, worum es geht. Es geht darum, dass entweder das ganze Leben in Bezug zu Gott steht, oder nichts davon. Das Leben in religiös und nichtreligiös aufzuspalten, ist an sich bereits eine Entweihung.

Wenn also ein Mensch seinen Beruf als Stahlarbeiter, Rechtsanwalt oder Hausfrau coram Deo erfüllt, handelt er genauso christlich wie ein Evangelist, der seine Berufung erfüllt, indem er Menschen für den Glauben gewinnt. Es bedeutet, dass David als Hirte genauso religiös war, wie bei seiner späteren Berufung zum König. Es bedeutet, dass Jesus genauso religiös war, als er im Zimmermannsgeschäft seines Vaters arbeitete, wie bei seiner Anfechtung im Garten Gethsemane.

Integrität wird dort gefunden, wo Männer und Frauen ein Leben mit einem stimmigen Muster führen. Es ist ein Muster, das nach derselben grundlegenden Weise innerhalb und außerhalb der Gemeinde und des Gottesdienstes funktioniert. Es ist ein Leben, das vor Gott offenliegt. Es ist ein Leben, in dem alles, was getan wird, für den Herrn geschieht. Es ist ein Leben, das von Prinzipien und nicht von Zweckmäßigkeit bestimmt ist; von Demut vor Gott und nicht von Trotz. Es ist ein Leben, das von einem Gewissen bestimmt wird, welches selbst gefangen bleibt in Gottes Wort.

Coram Deo … vor dem Angesicht Gottes. Darum geht es. Neben diesem Ziel sind unsere anderen Ziele und Ambitionen bloße Bagatellen.


Bibelstellen zum weiterem Studium

Matthäus 24,13; Römer 8,31–36; 2. Korinther 4,7–16; Hebräer 6,9–12; 10,35–39