Eine Antwort auf das Böse

Artikel von R.C. Sproul
9. November 2017 — 5 Min Lesedauer

Dr. John Gerstner, mein geschätzter Mentor, hat es immer geschafft, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen und mir zu helfen, klarer zu denken. Ich kann mich immer noch daran erinnern, als ich ihm sagte, dass ich davon überzeugt bin, dass das Problem des Bösen unlösbar ist. Nachdem ich bemerkte, dass die besten Apologeten und Theologen der Kirchengeschichte alle Fragen, die von der Gegenwart des Bösen in dieser Welt aufgeworfen werden, nicht beantwortet haben, sagte ich ihm, dass niemand jemals dieses Problem diesseits der Ewigkeit lösen würde. Er wendete sich zu mir und wies mich zurecht. „Woher weißt du, dass das Problem des Bösen niemals gelöst werden wird?“, fragte er. „Vielleicht hat Gott dich oder einen anderen Denker dazu bestimmt, dieses Thema zu lösen.“

Bei aller gebührenden Wertschätzung gegenüber Dr. Gerstner, ich denke, dass er seine Studenten überschätzte. Ich habe meine Meinung über das Problem des Bösen seit diesem Gespräch nicht geändert. In den vielen Jahren, in denen ich Philosophie, Apologetik und Theologie gelehrt habe, und in den vielen Gesprächen, die ich mit notleidenden Menschen geführt habe, bleibt eine umfassende Antwort auf das Problem des Böse nicht greifbar. Jüngste Ereignisse machen das Problem sogar noch akuter. Allein im letzten Jahr (2012) haben wir mit dem Terroranschlag auf den Boston Marathon zurechtkommen müssen sowie mit der Schießerei in der Sandy Hook Elementary School in Connecticut. Der Wirbelsturm Sandy tötete fast 300 Menschen im Nordosten der Vereinigten Staaten. Wir könnten auch die Hunderttausende erwähnen, die in den Tsunamis von 2004 und 2011 ums Leben kamen. Die Liste ist fast endlos.

Dem Bösen ein menschliches Gesicht zu verpassen kann es verstehbarer machen – es ist keine Überraschung, dass böse Menschen böse Taten vollbringen. Die Naturgewalten können besorgniserregend sein. Wie gehen wir mit Naturkatastrophen um, die nicht zwischen Menschen unterscheiden und das Leben von Senioren, Kleinkindern, Behinderten, Kindern und Erwachsenen gleichermaßen fordern? „Wie“, fragen viele Menschen, sogar Christen, „kann ein guter Gott zulassen, dass solche Dinge geschehen?“

Es gibt keine Knappheit an Spekulationen bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten. Gutmeinende Personen haben zahllose Theodizeen vorgeschlagen – Versuche, Gott für die Gegenwart des Bösen in der Welt zu rechtfertigen. In seinem Buch Die Theodizee aus dem 18. Jahrhundert versuchte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz das Böse zu erklären, indem er behauptete, dass wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben. Andere Denker haben gesagt, dass das Böse notwendig sei, um uns zu tugendhaften Menschen zu machen oder die Wirklichkeit des freien Willens zu erhalten. Solche Antworten befriedigen nicht und sie opfern gewöhnlich im Prozess die Souveränität Gottes.

Ich denke nicht, dass Gott uns eine umfassende und endgültige Antwort auf das Problem des Bösen und des Leids offenbart hat. Das heißt jedoch nicht, dass er über das Thema geschwiegen hat. Die Schrift gibt uns einige hilfreiche Leitlinien:

Erstens, das Böse ist keine Illusion – es ist nur allzu real. Manche Religionen lehren, dass das Böse nicht real ist, aber die Bibel minimiert nie die Wahrheit von Leid und Schmerz. Zudem zeigen uns die biblischen Charaktere, dass eine stoische Distanziertheit vom Bösen nicht die richtige Antwort ist. Sie zerreißen ihre Kleider, klagen Gott an und vergießen wirkliche Tränen. Unser Retter selbst wandelte auf der Via Dolorosa als Mann der Schmerzen, der mit unserem Leiden vertraut war.

Zweitens, Gott handelt nicht unberechenbar oder willkürlich. Er handelt nicht irrational, noch lässt er Gewalt sinnlos zu. Das bedeutet nicht, dass wir immer wissen können, wieso ein bestimmtes Böses an einem bestimmten Ort oder zur bestimmten Zeit passiert. Weil wir nicht alle Gründe hinter einem bestimmten Bösen kennen, können wir nicht oberflächliche Verbindungen zwischen Schuld und Unglück ziehen, zwischen der Sünde eines Menschen und dem Bösen, das ihn befällt. Texte wie das Buch Hiob und Johannes 9 halten uns von der Behauptung zurück, dass Leid immer eine Strafe für bestimmte Sünden darstellt. Das heißt, wenn ein unerklärliches Unglück passiert, müssen wir mit Martin Luther sagen: „Lasst Gott Gott sein.“ Hiobs Ausruf „Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ (Hiob 1,21) war keine oberflächliche Zurschaustellung von Frömmigkeit oder Leugnung des Schmerzes. Stattdessen biss Hiob sich auf die Lippen und sein Magen zog sich zusammen während er treu blieb inmitten von Unglück und schwerem Leid. Hiob wusste, wer Gott war und er weigerte sich, ihn zu verfluchen.

Drittens, dies ist nicht die beste aller möglichen Welten. Diese Welt ist gefallen. Leid ist nur deswegen da, weil die Sünde eine ansonsten gute Schöpfung entstellt hat. Natürlich bedeutet das nicht, dass alles Leid auf eine bestimmte Sünde zurückgeführt werden kann oder dass wir einen festen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Sünde eines Menschen und dem Ausmaß seines Leids herstellen können. Aber Leid gehört zu dem ganzen Sündenkomplex, den die Menschen über diese Welt gebracht haben. Solange die Schöpfung unter der Gewalt der Menschen leidet, wird sie diese Gewalt zurückgeben. Die Bibel sagt uns, dass die Schöpfung zornig ist über ihre menschlichen Herren und Ausbeuter. Statt sie weise zu verwalten und zu erneuern, beuten wir sie aus und verschmutzen sie. Bis Christus mit dem neuen Himmel und der neuen Erde zurückkommt, werden wir mit Stürmen, Erdbeben und Fluten klarkommen müssen. Bis dahin werden wir uns nach einer neuen Schöpfung sehnen.

Schließlich, das Böse hat nicht das letzte Sagen. Das Christentum leugnet niemals den Schrecken des Bösen, aber es erachtet auch das Böse nicht so, als ob es Macht über oder gleich mit Gott hat. Das letzte Wort der Schrift über das Böse ist Triumpf. Die Schöpfung seufzt während sie die endgültige Befreiung erwartet. Über der ganzen Schöpfung steht der auferstandene Christus – Christus Victor – der über die Mächte des Bösen triumphiert hat und alles neumachen wird.