Die alte Perspektive auf die Werke des Gesetzes
Die Bibelwissenschaft hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Art seismische Verschiebung erfahren. Bekannte Gelehrte wie James D. G. Dunn, E. P. Sanders und N. T. Wright haben in Frage gestellt, ob die Theologen der Reformationszeit die theologischen Argumente des Apostels Paulus richtig verstanden haben. Dies bezieht sich insbesondere auf die Lehre des Paulus über die Bedeutung der Rechtfertigung im Römer- und Galaterbrief. Ihre einhellige Schlussfolgerung ist, dass reformierte und lutherische Theologen die Argumentation des Paulus über das Wesen der Rechtfertigung und die eschatologische Rolle des Gesetzes im Leben der Gläubigen größtenteils missverstanden haben. Nach Ansicht der Vertreter der Neuen Paulusperspektive(n) beinhalte Rechtfertigung nicht – wie von Reformierten immer behauptet – die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi durch Glauben allein. Der Kernpunkt des Arguments hat damit zu tun, wie man die Phrase „Werke des Gesetzes“ (und seine verschiedenen Formen in der paulinischen Literatur) definiert. Ohne den feinen Unterschieden, die in den Schriften dieser Männer existieren, Unrecht tun zu wollen, möchte ich herausstellen, was ich als einen wichtigen theologischen Fakt betrachte, der in den jüngsten Debatten oft übersehen wurde: Das angeblich neue Verständnis der Neuen Paulusperspektive bezüglich des Ausdrucks Werke des Gesetzes ist nichts anderes als die alte, römisch-katholische Sicht dieses Ausdrucks.
„Das reformatorische Verständnis von der Argumentation des Paulus beeinflusste entscheidend spätere protestantische Ausformulierungen der Rechtfertigungs-lehre.“
Vertreter der Neuen Paulusperspektive(n) haben darauf bestanden, dass sich der Ausdruck „Werke des Gesetzes“ nicht, wie die Reformatoren und Puritaner dachten, auf „den Versuch des Menschen, sich seinen Stand vor Gott durch sein Halten des Gesetzes zu erarbeiten“ bezieht. Sie behaupten, der Ausdruck beziehe sich auf jüdische Abgrenzungsmarkierungen. Indem sie ihn auf diese Weise umdefinieren, reduzieren sie die Bedeutung des Ausdrucks auf nichts weiter als das Zeremonialgesetz Israels. Damit definieren sie die Argumentation des Paulus zur Rechtfertigung radikal neu – und lehnen die reformierte Vorstellung ab, dass Paulus lehrt, dass „Rechtfertigung der Empfang von Sündenvergebung und des gesetzlichen Status ‚gerecht‘ durch Glauben allein ist, gegründet auf den Tod Christi und die Zurechnung seiner Gerechtigkeit.“ Stattdessen behaupten sie, dass Rechtfertigung die Eingliederung von Juden und Heiden in einen gemeinschaftlichen Leib von Gottes Bundesvolk unter der Herrschaft Christi ist. Im Gegenzug lehrt N. T. Wright, dass es eine eschatologische (d. h. zukünftige) Rechtfertigung gibt, gegründet auf die geistgewirkten guten Werke der Gläubigen.
Die Argumentation des Apostels Paulus, dass ein Mensch gerechtfertigt wird durch Glauben an Christus und nicht durch die Werke des Gesetzes (Röm 3,28; Gal 2,16; 3,11; 3,24), versetzt der These der Neuen Perspektive einen entscheidenden Schlag, wenn Paulus tatsächlich lehrt, dass die Rechtfertigung das ist, was die Reformierten lehrten, nämlich ein einmaliger Rechtsakt Gottes. Das reformatorische Verständnis von der Argumentation des Paulus beeinflusste entscheidend spätere protestantische Ausformulierungen der Rechtfertigungslehre. Es gibt wohl keine bessere Ausformulierung als die, die wir im kürzeren Westminster Katechismus finden:
„Rechtfertigung ist ein Akt von Gottes freier Gnade, wodurch er alle unsere Sünden vergibt, uns als gerecht in seiner Sicht annimmt, allein wegen der Gerechtigkeit Christi, die uns angerechnet wird, und die durch Glauben allein empfangen wird.“ (Frage 33)
Den Kern dieser Definition kann in Calvins Institutio gefunden werden, wo wir lesen:
„Unter ‚Rechtfertigung‘ verstehe ich also schlicht die Annahme, mit der uns Gott in Gnaden aufnimmt und als gerecht gelten lässt. Ich sage nun weiter: Sie beruht auf der Vergebung der Sünden und der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi.“
„Es würde uns sehr gut tun, unsere Aufmerksamkeit auf die Mühen derer zu richten, auf deren Schultern wir stehen.“
Calvin arbeitete unermüdlich als Exeget, in Abhängigkeit von und in polemischer Auseinandersetzung mit der Exegese seiner Vorgänger. Es sollte uns nicht überraschen, dass Calvin sich sehr aufmerksam mit den Argumenten der römisch-katholischen Kirche über die Argumentation des Paulus zur Rechtfertigung auseinandersetzte – besonders in seiner Exegese des Römer- und Galaterbriefs. In seinem Kommentar über Galater 2,15 schrieb Calvin zum Beispiel:
„Das erste, was auffällt, ist, dass wir die Rechtfertigung durch den Glauben des Christus suchen müssen, weil wir durch Werke nicht gerechtfertigt werden können. Jetzt ist die Frage, was mit den Werken des Gesetzes gemeint ist? Die Papisten, durch Origenes und Hieronymus verführt, sind der Meinung, und sehen es als gewiss an, dass sich der Disput auf Schatten bezieht; und behaupten demnach, dass mit den Werken des Gesetzes Zeremonien gemeint sind.“ (Kommentar zum Galaterbrief)
Hier stellen wir fest, dass die Argumentation der Theologen der Neuen Paulusperspektive(n) zur Bedeutung des Ausdrucks Werke des Gesetzes lediglich die alte Perspektive der frühen und mittelalterlichen römisch-katholischen Theologen darstellt. Calvin führt weiter aus:
„Als ob es Paulus nicht um die freie Rechtfertigung ginge, die uns durch Christus geschenkt wird. Denn sie sehen keine Absurdität darin, zu glauben, dass kein Mensch durch die Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird, und zur gleichen Zeit, dass wir durch die Verdienste der Werke vor Gott als gerecht erachtet werden. Kurzum, sie behaupten, dass hier keine Werke des Moralgesetzes erwähnt werden. Aber der Kontext beweist klar, dass das Moralgesetz in diese Worte eingeschlossen ist; denn fast alles, was Paulus später ins Feld führt, gehört eher zum Moral- als zum Zeremonialgesetz; und es geht ihm ständig darum, die Gerechtigkeit des Gesetzes der freien Annahme, die Gott schenkt, gegenüberzustellen.“
Während wir den 500. Jahrestag der Reformation feiern, würde es uns sehr gut tun, unsere Aufmerksamkeit auf die Mühen derer zu richten, auf deren Schultern wir stehen. Das schließt ein, dass wir uns auf ihre Exegese im Licht der Debatten, in denen sie standen, konzentrieren. Wenn wir das tun, werden wir bemerken, dass viele der jüngeren vermeintlichen Weiterentwicklungen in der Bibelwissenschaft lediglich Rückschritte in die Isogese der römisch-katholischen Kirche sind, von der uns die Reformatoren befreit haben.