Der Schrecken der Heiligkeit Gottes

Artikel von R.C. Sproul
1. November 2017 — 5 Min Lesedauer

Wenn wir die Werke der Atheisten des 19. Jahrhunderts lesen, erfahren wir, dass es ihnen nicht besonders darum ging, zu beweisen, dass Gott nicht existiert. Diese Atheisten nahmen Gottes Nichtexistenz stillschweigend an. Stattdessen sagten sie, jetzt, da wir nach der Aufklärung wissen, dass es keinen Gott gibt, wie können wir das fast universale Dasein von Religion erklären? Wenn Gott nicht existiert und menschliche Religion keine Reaktion auf seine Existenz ist, wieso scheint der Mensch so unheilbar homo religiosus zu sein – wieso scheint der Mensch in all seinen Kulturen unheilbar religiös zu sein? Wenn es keinen Gott gibt, warum gibt es dann Religion?

Eine der bekanntesten Antworten war ein Argument, welches Sigmund Freud machte. Als Psychiater wusste Freud, dass Menschen vor vielen Dingen Angst haben. Solche Ängste sind verständlich, da es alle möglichen Dinge in unserer Welt gibt, die eine offenkundige Gefahr für unser Wohl darstellen. Andere Menschen könnten sich einzeln in Zorn erheben und versuchen, uns umzubringen, oder sie könnten sich zusammenschließen und uns gemeinschaftlich den Krieg erklären. Aber zusätzlich zur menschlichen Sphäre von Furcht und Gefahr gibt es auch die unpersönliche Sphäre der Natur, besonders in früheren Zeitaltern, als die Menschen nicht den Schutz vor der Natur hatten, den wir in dieser Welt der modernen Technologie genießen. Obwohl uns natürliche Ereignisse immer noch manchmal mit Furcht und Schrecken erfüllen, waren die Menschen in der Vergangenheit noch mehr den Stürmen, Hungersnöten und Fluten ausgesetzt. Wenn Krankheiten wie Cholera oder die Pest ganze Bevölkerungsteile ausrotten konnten, schien das Leben fragiler und die Natur bedrohlicher zu sein.

Heutzutage denken wir, dass die Wissenschaft die Aufgabe hat, die wilden Mächte der Natur, wie Wirbelstürme, Tornados, Fluten und Feuersbrünste, zu zügeln. Und auf viele Weisen hat sich die Wissenschaft als erfolgreich erwiesen, damit wir uns schnell erholen, nachdem uns die Natur angegriffen hat. Aber, so Freud, das Dilemma der antiken Menschen bestand darin, mit diesen Dingen umzugehen, als ihre zerstörerischen Auswirkungen viel schlimmer waren und es viel schwerer war, sich davon zu erholen. Man kann mit einem menschlichen Angreifer reden, ein Friedensabkommen mit einer fremden Macht unterzeichnen oder auf sonstige Weise die eigene Sicherheit mit Menschen verhandeln, die einen bedrohen, aber wie verhandelt man mit Krankheiten, Stürmen oder Erdbeben? Diese Naturgewalten sind unpersönlich. Sie haben keine Ohren, mit denen sie hören könnten. Sie haben keine Herzen, an die wir uns wenden könnten. Sie haben keine Gefühle.

Deshalb, so argumentierte Freud, entwickelte sich Religion, indem die Menschen die Natur personalisierten und sie zu etwas machten, mit dem sie verhandeln konnten. Menschliche Wesen erfanden die Vorstellung, dass Naturkatastrophen von persönlichen Geistern bewohnt sind: ein Sturmgott, ein Erdbebengott, ein Feuergott und Götter, die mit den verschiedenen Krankheiten zusammenhängen. Diese Götter kontrollierten die Naturgewalten, um Zerstörungen herbeizubringen. Indem diese Gefahren personalisiert wurden, konnten die Menschen Techniken, die wir normalerweise mit persönlichen, feindlichen Mächten einsetzen, auf diese unpersönlichen Naturgewalten anwenden. Wir konnten zum Beispiel den Sturmgott anflehen, zu ihm beten, ihm Opfer darbringen oder Buße vor ihm tun, um die Bedrohung abzuwenden. Schließlich konsolidierten die Menschen alle Götter in eine einzige Gottheit, welche die Kontrolle über alle Naturgewalten hatte und mit der man verhandeln konnte.

Ich bin von Freuds Argument fasziniert, weil es eine vernünftige Erklärung dafür ist, warum die Menschen religiös wurden. Es ist theoretisch möglich, dass es zwar Religion gibt, obwohl es gar keinen Gott gibt. Wir wissen, dass wir fähig sind, uns Dinge vorzustellen, die gar nicht existieren. In der Tat ist die Bibel voll von Verurteilung falscher Religion, die Götzen erfindet.

Jedoch gibt es einen Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Was Freud für möglich erachtete, bedeutet nicht, dass es tatsächlich so geschah. Das zentrale Problem in seiner Theorie ist dieses: Wenn Freuds Theorie wahr ist, warum wurde dann der Gott der Bibel „erfunden“? Dieser heilige Gott, den wir in der Schrift sehen, erzeugt viel größeren Schrecken in denen, die ihm begegnen, als irgendeine Naturkatastrophe. Wir sehen zum Beispiel, wie selbst der rechtschaffene Jesaja umgehauen wurde durch eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit dem Gott Israels (Jes 6,1–7). Ussa hatte gute Absichten und wurde dennoch totgeschlagen als er die Lade dieses heiligen Gottes aufrichten wollte (2 Sam 6,5–10). Petrus, Jakobus und Johannes sahen die Offenbarung der Göttlichkeit Christi und das Hören der Stimme des Vaters zunächst nicht als Segen an, sondern als Schrecken (Mt 17,1–8).

Wieso würden wir, um uns von grauenvollen Bedrohungen zu befreien, einen Gott erfinden, dessen Charakter unendlich bedrohlicher ist als alles, was wir fürchten? Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen einen wohltätigen Gott erfinden oder sogar einen bösen Gott, der leicht zufriedenzustellen ist. Aber würden wir einen heiligen Gott erfinden? Woher kommt das? Es gibt nämlich nichts Grauenhafteres im Universum, nichts Bedrohlicheres für das Sicherheits- und Wohlgefühl eines Menschen als die Heiligkeit Gottes. Was wir in der ganzen Schrift sehen ist, dass Gott über alle bedrohlichen Mächte regiert, die wir fürchten. Aber derselbe Gott erschreckt uns mehr als alle diese anderen Dinge. Wir verstehen, dass nichts eine größere Bedrohung für unser Wohl bedeutet als die Heiligkeit Gottes. Auf uns selbst gestellt, würde keiner von uns den Gott der Bibel erfinden, ein Wesen, das unser Sicherheitsgefühl tiefer und fundamentaler bedroht als jede Naturkatastrophe.

Martin Luther und die anderen Reformatoren verstanden den heiligen Charakter dieses Gottes. Für sie war die Wiederentdeckung des Evangeliums solch gute Nachricht, weil sie den Schrecken der Heiligkeit kannten und wussten, dass der einzige Weg, um im Gericht dieses heiligen Gottes zu bestehen, der ist, mit der Heiligkeit und Gerechtigkeit Christi bekleidet zu sein. Fünfhundert Jahre nach der protestantischen Reformation benötigt die Kirche unbedingt Männer und Frauen, die den Schrecken der Heiligkeit Gottes verstehen, denn indem wir diese Heiligkeit verstehen, erkennen wir das Evangelium als das einzige, das uns Gewissheit geben kann, dass, wenn wir Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen, seine Heiligkeit uns umarmen und uns nicht ins ewige Gericht verstoßen wird. Möge Gott in seiner Gnade uns eine erneuerte Vision seiner majestätischen Heiligkeit schenken.