Wenn mir alle Sünden vergeben sind, warum muss ich dann weiterhin Buße tun?

Artikel von Stephen J. Wellum
13. Oktober 2017 — 6 Min Lesedauer

Es ist nachvollziehbar, dass man sich diese Frage stellt: Wenn wir durch den Glauben gerechtfertigt werden und alle unsere Sünden vergeben sind – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – warum ist es dann noch notwendig, um Vergebung zu bitten?

Sind unsere Sünden nicht schon vergeben?

Heilige und Sünder zugleich

Es gibt mindestens drei biblische Wahrheiten, die man gleichzeitig im Blick behalten sollte:

Erstens erklärt Gott diejenigen, die von ihrer Sünde umgekehrt sind und ihr Vertrauen auf Jesus als ihren Herrn und Retter gesetzt haben, aufgrund der Gerechtigkeit und des stellvertretenden Todes Chrsiti für gerecht (Röm 3,21–26; 5,1; 8,1.30.33–34). Rechtfertigung geschieht ein für alle Mal – sie ist ein deklarativer Akt Gottes und kein Prozess, durch den Gerechtigkeit in uns „eingegossen“ wird (Röm 5,12–21; Phil 3,8–9; 2Kor 5,19–21).

Obwohl jeder eines Tages vor Christi Richterstuhl stehen und auf das öffentliche Gerichtsurteil hören wird, egal ob er gerettet ist oder nicht (2Kor 5,10), wird dieses endzeitliche Gerichtsurteil für Gläubige bereits in die Gegenwart vorgezogen. Wir sind bereits vom Tod zum Leben hindurchgedrungen (Joh 5,24; Röm 8,1). Die Rechtfertigung, die wir einmal empfangen haben, kann nicht wieder verloren gehen.

Zweitens befiehlt uns Gott, unsere Sünde zu bekennen, wenn wir gesündigt haben (1Joh 1,9). Dieser Befehl gilt nicht nur für unsere Rechtfertigung am Anfang, sondern wie der Kontext des 1. Johannesbriefes deutlich macht, wird das Bekennen der Sünden für Christen fortdauern:

„Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, betrügen wir uns selbst; wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, machen wir ihn zum Lügner ... Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt.“ (1Joh 1,810) 

Drittens befiehlt uns Gott nicht nur, unsere Sünden zu bekennen, sondern verheißt auch, diese in der Zukunft zu vergeben, und macht unsere Vergebung in gewissem Sinne davon abhängig, ob wir anderen vergeben, nachdem wir gerechtfertigt worden sind (Mt 6,14; 18,1535; 1Joh 1,9; Jak 5,15).

Drei Überlegungen

Doch wie können wir diese Wahrheiten theologisch verstehen, ohne sie dabei abzuschwächen?

Hier sind drei Überlegungen:

Erstens, aus Gottes Sicht gibt es kein Problem, uns für gerecht zu erklären und damit unsere zukünftigen Sünden zu vergeben, sowohl unsere vergangenen als auch unsere gegenwärtigen, da unsere Zukunft wie ein offenes Buch vor ihm liegt. Doch aus unserer Sicht ist es das Beste, unsere Rechtfertigung einerseits als die Vergebung all unserer vergangenen und gegenwärtigen Sünden zu sehen und andererseits als den rechtlichen Grund für die Vergebung zukünftiger Sünden.

Leider sündigen wir in unserem irdischen Leben immer wieder, sodass wir uns in Buße und Glauben zu Gott umkehren und seine Vergebung erbitten müssen. Allerdings tun wir dies auf der Grundlage des Werkes Christi, das in der Rechtfertigung auf uns angewendet wird. Solch eine Erfahrung ist keine neue Rechtfertigung, sondern eine erneuerte Anwendung unserer Rechtfertigung.

Wenn wir sündigen, sind wir uns der Vergebung nicht bewusst und verspüren nicht länger den Frieden mit Gott. Wenn wir unsere Sünden bekennen, werden wir durch das Werk des Geistes neu erweckt für das, was Christus für uns getan hat, und Gott erneuert unsere Sicherheit in ihm und unsere Heilsgewissheit. Gläubige setzen dann ihr tägliches Gebet um Vergebung fort – nicht mit der Hoffnungslosigkeit eines Verlorenen, sondern in der Zuversicht der gerechtfertigten und adoptierten Kinder, die sich ihrem himmlischen Vater nahen, der sie in Jesus Christus für gerecht erklärt hat

„Wenn wir unsere Sünden bekennen, werden wir durch das Werk des Geistes neu erweckt für das, was Christus für uns getan hat, und Gott erneuert unsere Sicherheit in ihm und unsere Heilsgewissheit.“
 

Zweitens verdeutlicht dieses Thema die Bedeutung von Zeit und Geschichte. In unserer Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben an Christi allgenügsames Werk sind unsere vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden völlig vergeben und bezahlt – und trotzdem bleibt der Lauf der Geschichte wichtig. In derselben Weise wie Gott sich ein Volk vor Grundlegung der Welt erwählt hat (Eph 4,1–6) und es gewiss ist, dass es in Christus gerechtfertigt wird, muss sich der Rettungsplan immer noch in Raum und Zeit entfalten. Christus muss unser Menschsein annehmen, sein Leben für uns leben, an unserer Stelle sterben und von den Toten auferweckt werden.

Darüber hinaus muss noch einiges andere geschehen, damit Christi Werk auf uns angewendet werden kann. Die Erwählten müssen zunächst einmal anfangen zu leben, das Evangelium hören und zum rettenden Glauben gebracht werden. Auch wenn Gottes Plan in der Ewigkeit beginnt, wird er in der Zeit ausgeführt. Da wir zeitliche Geschöpfe sind, wendet Gott Christi Werk durch den Geist auch in der Zeit auf uns an.

Drittens leben wir in einer Bundesbeziehung zu unserem dreieinigen Gott. Im Laufe der Geschichte werden wir zum rettenden Glauben an Christus gebracht und treten hinein in eine Bundesbeziehung mit ihm. In dieser Beziehung – bis zu unserer Verherrlichung – werden wir weiterhin sündigen, und Gott, als der dreieinige und persönliche Gott, missfällt unsere Sünde. Dies erfordert kontinuierliche Buße und Bitte um Vergebung. Wenn wir unsere Sünden bekennen, vergibt Gott uns allein auf der Grundlage Christi.

Kein Widerspruch

In Christus sind wir immer vollständig, aber wir stehen auch in einer echten Beziehung zu Gott. Um diese Wahrheit besser zu verstehen, kann uns eine Analogie aus menschlichen Beziehungen helfen. Als Vater bin ich in einer Beziehung zu meinen fünf Kindern. Da sie meine Familie sind, werden sie niemals verstoßen; die Beziehung ist permanent. Doch wenn sie gegen mich sündigen sollten, oder ich gegen sie, ist unsere Beziehung angespannt und muss wiederhergestellt werden. Unsere Bundesbeziehung mit Gott funktioniert auf ähnliche Weise.

„Wir bitten Gott darum, uns zu vergeben, nicht um erneut gerechtfertigt zu werden, sondern um vor ihm in der Zuversicht zu leben, dass Christus alles bezahlt hat.“
 

Auf diese Weise können wir unsere ganze Rechtfertigung in Christus verstehen und die Lehre der Schrift darüber, dass wir ständig Vergebung brauchen. Wenn wir Gott um Vergebung bitten, fügen wir Christi vollkommenem Werk nichts hinzu. Stattdessen wenden wir wieder das an, was Christus für uns als unser Bundeshaupt und Erlöser getan hat.

Es gibt absolut keinen Widerspruch zwischen Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben und unserem andauernden Bedürfnis nach Sündenvergebung. Wir bitten Gott darum, uns zu vergeben, nicht um erneut gerechtfertigt zu werden, sondern um vor ihm in der Zuversicht zu leben, dass Christus alles bezahlt hat und wir nun Schuldner der Gnade sind. Rechtfertigung geschieht ein für alle Mal, doch Sünden bekennen und Vergebung empfangen hört nicht auf, bis wir verherrlicht sein werden und nicht mehr sündigen.