Wann sollte uns Lehre spalten?

Artikel von Gavin Ortlund
31. August 2017 — 10 Min Lesedauer

Aus verschiedenen Gründen habe ich darüber nachgedacht, wie Christen miteinander in Bezug auf zweitrangige Lehren umgehen sollten. Welche Partnerschaften und Allianzen sind unter Christen unterschiedlicher Kirchenverbände, Netzwerke und Gruppen angebracht? Welche Art von Gefühlen und Praktiken sollten unsere Einstellung denen gegenüber kennzeichnen, die innerhalb des Leibes Christi mit uns gewichtige theologische Meinungsverschiedenheiten haben? Wie kann man – mit Integrität und Transparenz – mit unterschiedlichen Meinung und Überzeugungen umgehen, die gegenüber einer Kirche, einem Vorgesetzten oder einer Institution entstehen können?

Diese Fragen sind ein wichtiger Bestandteil meiner eigenen konfessionellen und theologischen Erfahrung während des letzten Jahrzehnts gewesen, und als praktisches Thema werden sie uns immer begleiten. Deshalb dachte ich, dass es hilfreich sein könnte, zwei Überzeugungen zu teilen, die ich gewann, während ich mich auf meinem Weg durchgerungen habe.

Im weitesten Sinn sehe ich zwei entgegengesetzte Gefahren: lehrmäßiger Minimalismus und lehrmäßiger Separatismus.

Gefahr #1: Lehrmäßiger Minimalismus

Der allgemeine Kurs unserer Kultur scheint sich in Richtung lehrmäßigem Minimalismus und lehrmäßiger Interessenlosigkeit zu entwickeln (besonders in meiner Generation). Vor vierhundert Jahren wäre man möglicherweise ertränkt worden, wenn man eine andere Meinung über Taufe hatte. Heutzutage fühlen wir uns von dieser Reaktion zurecht abgestoßen, aber wir fallen oft in das andere Extrem und sagen im Grunde: „Wen interessiert’s?“

Ich kann nicht zählen, wie oft ich Menschen in Diskussionen über sekundäre Lehren habe sagen hören: „Das hat nichts mit dem Evangelium zu tun; es ist ein zweitrangiges Thema.“ Natürlich sollten wir zwischen dem Evangelium und zweitrangigen Themen unterscheiden, aber, wenn wir über diese grundlegende Unterscheidung nicht hinausgehen, dann kann solch eine Aussage die Wichtigkeit verschiedener zweitrangiger Themen verdunkeln. Ich vermute manchmal, dass die Leute eigentlich meinen, wenn sie so eine Unterscheidung machen: „Es ist ein zweitrangiges Thema, deshalb ist es egal.“

Aber Lehren können „nicht wesentlich“ und trotzdem wichtig sein, und unterschiedliche Lehren können unterschiedlich wichtig sein. Ich finde es hilfreich, Lehren in drei Kategorien einzuteilen, mit einer vierten Kategorie für Themen, bei denen keine Sichtweise geboten oder verboten ist:

  • erstrangige Lehren
  • zweitrangige Lehren
  • drittrangige Lehren
  • Adiaphora („gleichgültige Dinge“)

Ein vierstufiges System wie dieses ist etwas willkürlich (man könnte stattdessen drei, fünf oder zehn Kategorien einführen). Aber dieser Weg, Themen aufzuteilen, ermöglicht es, ein Spektrum der Wichtigkeit bei Lehren wahrzunehmen, die nicht das Evangelium berühren.

Es gibt verschiedene Gründe, warum wir „zweitrangig“ nicht mit „gleichgültig“ gleichsetzen und alles in den Kategorien zwei bis vier zusammenwerfen sollten:

1. Eine hohe Meinung von der Schrift gebietet uns, alles zu schätzen, was Gott gesagt hat.

Stell dir vor, du erhältst einen Liebesbrief von deinem Geliebten. Du würdest jedes Wort darin schätzen; es gäbe nichts darin, das du abtun würdest. Wenn wir von der Inspiration und der Klarheit der Schrift ausgehen, dann sollten wir genauso keinen Teil von ihr abtun. Selbst wenn wir nicht die unmittelbare Konsequenz einer Stelle erkennen, sollte unsere Liebe für den Herrn, der sie uns eingehaucht hat – und unsere Achtung vor seinem eingehauchten Wort – uns antreiben zu tiefschürfendem Studium und der Bemühung, zu verstehen.

2. Ein Respekt vor der Kirchengeschichte sollte uns helfen, das zu achten, worüber unsere Vorfahren gestritten haben.

Wenn wir eine Gedenkstätte oder ein Museum besuchen, das einem historischen Ereignis gewidmet ist, dann bringen wir dem Opfer Achtung entgegen, das andere Menschen erbracht haben. Wenn wir zum Beispiel den Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer besuchen, dann erinnern wir uns, wieviel unsere heutigen Freiheiten andere gekostet haben.

„Das Herunterspielen zweitrangiger Lehren kann die Erstrangigen farbloser, klangloser und verletzlicher zurücklassen.“
 

Das gilt auch für die Kirchengeschichte: Wenn wir die großen christlichen Lehrer der Vergangenheit achten – von den Kirchenvätern bis in die Moderne – dann sollten wir aufmerksam darauf hören, warum sie so leidenschaftlich über manches zweitrangige Thema gestritten haben. Zum Beispiel werden diejenigen, die heutzutage die Unterschiede zwischen der römisch-katholischen Kirche und den protestantischen Kirchen herunterspielen wollen, vielleicht aus dieser Denkweise etwas aufgeschreckt, wenn sie die Vorbilder der anglikanischen Bischöfe Hugh Latimer und Nicholas Ridley bedenken, die bereit waren, für ihre Überzeugungen über Themen wie die Wandlung von Brot und Wein beim Abendmahl und das Wesen der Messe auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.

3. Viele zweitrangige Lehren stehen in wichtiger Beziehung zum Evangelium.

Manche Lehren veranschaulichen das Evangelium. Manche bewahren es. Manche fließen logischerweise vom Evangelium (oder hinein). Es gibt selten eine Lehre, die hermetisch abgetrennt werden kann vom Rest des christlichen Glaubens. Deshalb kann das Herunterspielen zweitrangiger Lehren die Erstrangigen farbloser, klangloser und verletzlicher zurücklassen.

4. Jede Wahrheit formt unser Denken und Leben auf subtile, aber wichtige Weise.

Ich glaube nicht, dass zum Beispiel mein Verständnis von der Souveränität Gottes in allen seinen Schattierungen das Evangelium berührt, und ich begrüße bereitwillig diejenigen, die eine arminianische oder wesleyanische Sichtweise vertreten als meine Brüder und Schwestern in Christus. Trotzdem hat mein Verständnis der Souveränität Gottes massive Auswirkungen auf mein Christsein im Alltag. Es beeinflusst zum Beispiel mein Gebetsleben tiefgehend. Deshalb sollten wir solche Themen nicht einfach abtun und in Bezug auf das Evangelium als gleichgültig erachten.

Gefahr #2: Lehrmäßiger Separatismus

Es gibt jedoch eine Gefahr, die dem lehrmäßigen Minimalismus entgegengesetzt ist. Um diesen Punkt zu erläutern, möchte ich etwas von meiner Geschichte erzählen. Die letzten zehn Jahre waren für mich in Bezug auf einen Kirchenverband einsam. Ich wuchs in der PCA (Presbyterian Church in America) auf und bin sehr dankbar für diese wunderbare Denomination, die mich nachhaltig geprägt hat. Aber nach intensivem Bibelstudium über das Thema Taufe entschied ich mich für die Glaubenstaufe. Dadurch wurde es mir verwehrt, in der PCA ordiniert zu werden. Danach merkte ich jedoch, dass ich auch nicht ideal in manche baptistischen Kreise passte, weil ich zwar Glaubenstaufe vertrete, aber nicht glaube, dass sie zur Voraussetzung für Gemeindemitgliedschaft und Teilnahme am Abendmahl gemacht werden sollte. Dadurch wurde ich auch für viele baptistische Kreise unakzeptabel.

Nachdem ich mich im Endeffekt von 98 Prozent des Christentums isoliert hatte, entfernte ich mich noch von der Mehrheit der verbliebenen freien und unabhängigen Gemeinden, indem ich nicht im prämillennialistischen Lager landete (Ich bin Amillennialist, obwohl ich das nicht hervorhebe).

Keine dieser Veränderungen war für mich ein besonders emotionales Thema; ich hatte kein Verlangen danach, eine offizielle Trennung zu vollziehen. Ich studierte einfach die Themen und landete irgendwo auf der theologischen Landkarte. Ich vermisse die PCA aufrichtig und denke mit Dankbarkeit und Nostalgie an meine Zeit in den PCA Gemeinden und beim Covenant Seminary (eine Bibelschule der PCA) zurück. Und ich bedaure es, von sogenannten „strikten Baptisten“ und strikten Prämillennialisten getrennt zu sein, von denen ich viele tief bewundere.

Aber ich glaube, dass wir offen sein müssen darüber, wo unsere Überzeugungen landen, selbst wenn es dazu führt, einen Job nicht zu bekommen oder finanzielle Unterstützung, traurige Auflösung von Beziehungen oder unangenehme Übergänge. Manche Leute scheinen ihre Überzeugungen so „anpassen“ zu können, dass sie ihrem aktuellen und in Aussicht stehenden Kontext entsprechen, aber mir ist nicht wohl bei diesem Ansatz. Ich habe Mitgefühl mit dem Kampf und dem Schmerz und ich verstehe die Notwendigkeit von Takt und Vorsicht, besonders, wenn man noch nicht vollends entschieden ist. Aber am Ende des Tages müssen wir ehrlich sein.

Wenn wir unsre Identität auf Christus ausrichten, wird er uns helfen, eine gesunde, freudebringende Balance zu finden zwischen der Wertschätzung seiner Lehre und der Wertschätzung seines Volkes.
 

Ich bin dankbar, in der CCCC gelandet zu sein, einer kleineren, konservativen Gruppe kongregationalistischer Gemeinden (Lake Avenue Church in Pasadena und Park Street Church in Boston sind wahrscheinlich die zwei bekanntesten CCCC Gemeinden). CCCC hat sich als theologisch gut zu mir passend erwiesen und ich mag es, Teil einer spezifischen, erkennbaren, protestantischen Denomination zu sein, deren Wurzeln weit in die Kirchgeschichte hineinreichen (Harold John Ockenga, Jonathan Edwards, John Owen, die Savoy Erklärung und so weiter).

Wenn ich auf meine konfessionelle Migration zurückschaue, erkenne ich, dass manche Wegscheidungen unvermeidlich waren – zum Beispiel macht es Sinn, dass man die Fundamente presbyterianischer Ekklesiologie vertreten muss, um als presbyterianischer Pfarrer ordiniert zu werden. Aber in manch anderen Fällen mache ich mir Sorgen über die Gefahr eines lehrmäßigen Separatismus.

Wie arbeiten wir mit anderen zusammen?

Wie entscheiden wir also, wann wir mit anderen Christen partnerschaftlich zusammenarbeiten? Dieses ganze Gebiet ist zu kompliziert, um es in einem Artikel zu klären, aber hier sind vier wichtige Fragen, die hilfreich sein könnten:

1. Welche Art von Partnerschaft oder Einheit steht in Aussicht?

Es gibt verschiedene Arten der Einheit im Evangelium. In einer bestimmten Denomination ordiniert zu werden ist eine Sache, Mitglied einer Ortsgemeinde zu werden eine andere, und auf einer Konferenz zu sprechen wieder eine andere. Wir sollten niedrigere theologische Kriterien haben für losere Formen der Partnerschaft.

2. Welche Art von Partnerschaft oder Einheit wird der Verbreitung des Evangeliums am besten dienen?

Diese Frage ist schwer zu beantworten und deshalb müssen wir um die Hilfe des Heiligen Geistes bitten. Unser fleischlicher Normalmodus ist, uns auf unsere Intuition und unseren ersten Eindruck zu verlassen. Wir müssen stattdessen demütig den Herrn bitten, uns Weisheit zu schenken (Jak 1,5). Während wir das tun, sollten wir daran denken, dass die Auswirkungen von Separatismus – Gemeindespaltung, Distanziertheit von dem, wie Gott in unserer Stadt am Wirken ist, verpasste Möglichkeiten, mit anderen christlichen Werken im Schulterschluss zu sein und so weiter – im Prinzip nicht weniger ernst sind als die Früchte eines lehrmäßigen Minimalismus. Fehler in beide Richtungen können unseren Einfluss für das Evangelium behindern.

3. Neige ich natürlicherweise zu einem separatistischen oder minimalistischen Geist?

„Wir sollten uns bemühen, unsere individuelle Versuchung zu erkennen und dann in unserem Bereich der Schwäche wachsen.“
 

Die meisten von uns haben eine individuelle Neigung, abhängig von unserem Temperament, Hintergrund oder Kontext. Zum Beispiel können wir von Natur aus besorgt sein um theologische Klarheit, aber einen blinden Fleck für die Zerstörungskraft von Uneinigkeit haben. In der anderen Richtung können wir entsetzt sein über den Mangel an Liebe bei manchen Christen, aber auch naiv bezüglich der Auswirkungen lehrmäßiger Erosion. Wir sollten uns bemühen, unsere individuelle Versuchung zu erkennen und dann in unserem Bereich der Schwäche wachsen.

4. Selbst, wenn wir uns formal von anderen Christen trennen, ist unsere Herzenseinstellung ihnen gegenüber gnadenreich, demütig und einladend?

Lehrmäßiger Separatismus ist vornehmlich eine Herzensfrage. Es geschieht leicht, dass sich ein Geist der Selbstrechtfertigung bei unseren zweitrangigen Besonderheiten einschleicht. Wir wissen, dass das eingetreten ist, wenn wir uns anderen Christen oder Gruppen gegenüber überlegen fühlen, oder wenn uns ein spezieller Christ, eine Gemeinde oder Gruppe ungebührlich stört. Deshalb sollten wir inmitten unserer theologischen Meinungsverschiedenheiten besondere Sorgfalt walten lassen, dass unser Herz keine Verachtung, Herablassung oder unmäßigen Zweifel gegenüber denen auf der anderen Seite des Themas birgt (Mt 18,10).

Kehre immer zum Evangelium zurück

Damit wir all das auf gute Weise tun können, müssen wir andauernd unsere grundlegendste Loyalität auf Jesus Christus selbst richten. Er ist der, der für uns gestorben ist. Ihm müssen wir letztendlich Rechenschaft ablegen, und es sollte uns in erster Linie um seine Sache gehen.

Wenn wir unsre Identität auf Christus ausrichten, wird er uns helfen, eine gesunde, freudebringende Balance zu finden zwischen der Wertschätzung seiner Lehre und der Wertschätzung seines Volkes.