Wie man in der Postmoderne über Sünde reden kann

Artikel von Timothy Keller
28. August 2017 — 13 Min Lesedauer

Als ich damit begann, die Bibel zu lesen, habe ich nach einem verbindenden Thema Ausschau gehalten. Ich schloss, dass es viele gibt und dass, wenn wir eines davon zu dem Thema machen (wie „Bund“ oder „Reich“), wir dann Gefahr laufen, eine Engführung zu betreiben.

Aber eine grundlegende Art, die Bibel zu lesen, ist, darin einen langen Kampf zwischen wahrem Glauben und Götzendienst zu sehen. Am Anfang wurden die Menschen dazu geschaffen, Gott anzubeten und ihm zu dienen und über alle geschaffenen Dinge im Namen Gottes zu herrschen (1Mose 1,26-28). Paulus versteht die ursprüngliche Sünde der Menschen als einen Akt des Götzendienstes: „Sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht … und dem Geschöpf Ehre und Gottesdienst erwiesen anstatt dem Schöpfer“ (Röm 1,23.25). Anstatt für Gott zu leben, haben wir angefangen, für uns selbst zu leben und für materielle Güter. Wir haben die ursprünglich gedachte Ordnung umgekehrt.

Und als wir anfingen, geschaffenen Dingen Ehre und Gottesdienst zu erweisen, haben paradoxerweise die geschaffenen Dinge begonnen, über uns zu herrschen.

Anstatt Gottes Mitregenten zu sein, die über die Schöpfung herrschen, beherrscht die Schöpfung nun uns. Wir sind Verfall, Krankheit und Katastrophen unterworfen. Der wichtigste Beweis dafür ist der Tod selbst. Wir leben für unsere eigene Herrlichkeit, indem wir uns im Staub abmühen, aber irgendwann werden wir zum Staube zurückkehren – der Staub „obsiegt“ (1Mose 3,17-19). Wir leben, um uns selbst einen Namen zu machen, aber unsere Namen werden vergessen werden.

Hier am Anfang der Bibel erfahren wir, dass Götzendienst Knechtschaft und Tod bedeutet.

Die Fessel des Götzendienstes

Die ersten zwei der Zehn Gebote, die auch die grundlegendsten sind (und ein Fünftel vom Gesetz Gottes für die Menschheit ausmachen) sind gegen Götzendienst gerichtet. Das zweite Buch Mose sieht keine dritte Option zwischen wahrem Glauben und Götzendienst vor. Wir werden entweder den ungeschaffenen Gott anbeten, oder wir werden etwas Geschaffenes anbeten - einen Götzen. Es gibt nicht die Möglichkeit, nichts anzubeten.

Der klassische Text dazu aus dem Neuen Testament ist Römer 1,18-25. Diese ausführliche Stelle über Götzendienst wird oft nur auf die Heiden bezogen, aber wir sollten sie stattdessen als Analyse davon erkennen, was Sünde ist und wie sie wirkt. Vers 21 sagt uns, dass der Grund, warum wir uns Götzen zuwenden, der ist, weil wir unser Leben kontrollieren wollen, trotz der Tatsache, dass wir wissen, dass wir alles Gott zu verdanken haben. „Obgleich sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt.“ Vers 25 offenbart uns die Strategie, um diese Kontrolle zu erlangen – geschaffene Dinge zu nehmen und unser Herz auf sie auszurichten und unser Leben auf sie aufzubauen. Weil wir es brauchen, irgendetwas anzubeten, da wir wissen, dass wir geschaffen sind, können wir Gott nicht eliminieren, ohne Ersatzgötter zu schaffen. Verse 21 und 25 zeigen uns die zwei Ergebnisse des Götzendienstes:

  1. Verblendung – „Sie sind in ihren Gedanken in nichtigen Wahn verfallen, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert“ (Vers 21)
  2. Knechtschaft – „Sie erwiesen [geschaffenen Dingen] Ehre und Gottesdienst“ (Vers 25)

Was auch immer wir verehren, dem werden wir Gottesdienst erweisen, denn Anbetung und Dienst sind immer untrennbar miteinander verbunden. Wir sind „Bundeswesen“. Wir gehen Bundesdienst mit der Sache ein, die am meisten unsere Phantasie und unser Herz fesselt. Sie nimmt uns gefangen. Deshalb wird jede menschliche Person, Gesellschaft, Denkweise und Kultur auf ein ultimatives Anliegen oder eine ultimative Loyalität gegründet sein – entweder auf Gott oder auf einen Ersatzgott. Auf persönlicher Ebene werden wir letztendlich entweder auf Gott oder auf Erfolg, Beziehungen, Familie, Status, Popularität, Schönheit oder etwas Anderes schauen, wodurch wir uns persönlich bedeutsam und sicher fühlen, und von dem wir unsere Entscheidungen bestimmen lassen. Auf kultureller Ebene werden wir letztendlich entweder auf Gott oder die freie Marktwirtschaft, den Staat, die Eliten, den Volkswillen, Wissenschaft und Technik, militärische Macht, menschlichen Verstand, Stolz auf die eigene Rasse oder etwas Anderes schauen, wodurch wir uns gemeinschaftlich bedeutsam und sicher fühlen und von dem wir unsere Entscheidungen bestimmen lassen.

An der Wurzel Götzendienst

Niemand hat diesen Punkt besser verstanden als Martin Luther, der das Alte und das Neue Testament in seiner Auslegung der Zehn Gebote auf erstaunliche Weise verband. Luther erkannte, wie das alttestamentliche Gesetz gegen Götzen und die Betonung des Neuen Testaments auf Rechtfertigung durch Glauben allein im Grunde das Gleiche sind. Er bemerkte, dass die Zehn Gebote mit zwei Geboten gegen Götzendienst beginnen. Das kommt daher, weil das fundamentale Problem hinter einem Gesetzesbruch immer Götzendienst ist. Mit anderen Worten, wir brechen nie die anderen Gebote, ohne zuerst das erste Gebot gebrochen zu haben – das Gebot gegen Götzendienst. Luther verstand, dass es beim ersten Gebot eigentlich um Rechtfertigung durch Glauben geht, und dass nicht daran zu glauben gleichbedeutend mit Götzendienst ist, welcher die Wurzel von allem ist, das Gott nicht gefällt:

Nun siehst du selbst, dass alle, die nicht auf Gott vertrauen allezeit und nicht seine Gunst, Huld und Wohlgefallen erhoffen in all ihrem Wirken oder Leiden, Leben oder Sterben, sondern bei anderen Dingen oder bei sich selbst solches suchen, dies Gebot nicht halten und wahrhaftig Abgötterei treiben, auch wenn sie die Werke aller anderen Gebote täten, dazu aller Heiligen Gebete, Fasten, Gehorsam, Geduld, Keuschheit, Unschuld auf einem Haufen hätten. Denn das Hauptwerk ist nicht da, ohne das die andern alle nichts sind als lauter Blendwerk, Schein und Schönfärberei und nichts dahinter. … Zweifeln wir aber daran oder halten nicht dafür, dass Gott uns hold sei, an uns Gefallen habe, oder maßen uns an, dass wir zuallererst ihm durch Werke und wegen dieser gefallen sollten, dann ist's lauter Betrug: Im Äußeren ehrt man Gott, im Inneren macht man sich selber zum Abgott. (Von den guten Werken)

Hier sagt Luther, dass wenn wir nicht glauben, dass Gott uns in Christus vollkommen annimmt – und zu etwas Anderen schauen, um Errettung zu erlangen –wir dann das erste Gebot nicht halten; nämlich keine anderen Götter vor ihm zu haben. Wenn jemand versucht, seine Errettung durch Werksgerechtigkeit zu verdienen, dann bricht er das erste Gebot. Nochmal, er sagt, dass wir keines der anderen Gebote wirklich halten können, solange wir nicht das erste Gebot halten – das sich gegen Götzendienst und Werksgerechtigkeit richtet. Demnach liegt unter jeder einzelnen Sünde die grundlegende Sünde, Errettung in Christus zu verwerfen und einer Form der Selbsterrettung zu frönen.

Zum Beispiel, angenommen jemand betrügt bei seiner Steuererklärung. Warum tut er das? Naja, man könnte sagen, weil er ein Sünder ist. Ja, aber warum nimmt seine Sünde diese Gestalt an? Luthers Antwort würde sein, dass der Mann nur betrügt, weil er Geld und Besitz – verbunden mit dem Status und der Bequemlichkeit, die sie ermöglichen – mehr schätzt als Gott und sein Wohlgefallen. Oder angenommen eine Person lügt seinen Freund an statt ihr Gesicht zu verlieren wegen dem, was sie getan hat. In diesem Fall ist die zugrundliegende Sünde, menschliche Anerkennung oder den eigenen Ruf mehr zu schätzen als die Gerechtigkeit, die wir in Christus haben.

Die Bibel erachtet demnach Götzendienst nicht als eine Sünde unter vielen. Nein, all unsere Verfehlungen, Gott ganz zu vertrauen oder richtig zu leben, sind, in ihrer Wurzel, Götzendienst – etwas, dass wir wichtiger erachten als Gott. Es gibt immer einen Grund für eine Sünde. Hinter unseren Sünden stehen götzendienerische Begierden.

Götzendienst in unserer postmodernen Kultur

Die Lehre der Schrift über Götzendienst ist besonders hilfreich für Evangelisation in einem postmodernen Kontext. Christen definieren Sünde typischerweise als Brechen von Gottes Gesetz. Richtig erklärt ist das natürlich eine gute und ausreichende Definition. Aber das Gesetz Gottes umfasst sowohl Unterlassungssünden als auch Begehenssünden, und es beinhaltet Herzenseinstellungen sowie Verhalten. Diese falschen Einstellungen und Beweggründe sind gewöhnlich unmäßige Begierden – Formen des Götzendienstes. Wenn wir jedoch gegenüber den meisten Zuhörern Sünde als „Brechen von Gottes Gesetz“ definieren, dann liegt in ihrem Verständnis die Betonung vollkommen auf dem Negativen (Begehenssünden) und dem Externen (Verhalten statt Einstellungen). Es gibt daher bedeutsame Gründe dafür, dass „Gesetze brechen“ nicht der beste Weg ist, um für postmoderne Menschen Sünde zu erklären.

Wenn ich mit einem jungen, nichtchristlichen Städter über Sünde rede, fange ich gewöhnlich so an:

Sünde bedeutet nicht nur, schlechte Dinge zu tun; sondern grundsätzlicher etwas Gutes zu etwas Ultimativem zu machen. Sünde bedeutet, dein Leben und deinen Sinn auf irgendetwas zu bauen, selbst etwas sehr Gutem, mehr als auf Gott. Worauf immer wir unser Leben bauen, wird uns antreiben und verknechten. Sünde ist zuerst Götzendienst.

Wieso ist das ein guter Ansatz?

Erstens, diese Definition von Sünde beinhaltet eine Gruppe von Menschen, die postmodernen Menschen überaus bekannt ist. Postmoderne Menschen glauben richtigerweise, dass viel Schaden von selbstgerechten, religiösen Menschen verursacht wurde. Wenn wir sagen „Sünde ist das Brechen von Gottes Gesetz“, ohne das groß weiter zu erklären, dann scheint es so, als ob die pharisäischen Menschen, die sie kennen, „drin“ sind, während die meisten anderen „draußen“ sind. Pharisäer sind natürlich sehr penibel darin, das moralische Gesetz zu halten und wirken für den Zuhörer wie das Idealbild eines Christen. Eine Betonung auf Götzendienst vermeidet dieses Problem. Wie Luther aufzeigt, gründeten die Pharisäer, obwohl sie sich nicht vor buchstäblichen Götzen verneigten, ihre Rechtfertigung auf sich selbst und ihre moralische Güte, und brachen dadurch eigentlich das erste Gebot. Ihre Moralität war ein selbstrechtfertigender Antrieb und deshalb auf geistliche Weise krankhaft. Unter all ihrer Gesetzestreue brachen sie eigentlich das grundlegendste Gesetz von allen. Wenn wir gegenüber postmodernen Menschen Sünde definieren und erklären, dann müssen wir es auf eine Weise tun, die nicht nur Prostituierte herausfordert, sondern auch Pharisäer.

Es gibt einen weiteren Grund, warum wir bei postmodernen Menschen eine bessere Erklärung für Sünde benötigen. Sie sind Relativisten und in dem Moment, wo wir sagen: „Sünde heißt, die moralischen Normen Gottes zu brechen“, erwidern sie: „Aber wer sagt, wessen moralische Normen die richtigen sind? Jeder hat doch Unterschiedliche! Wie kommen Christen darauf, dass ihre die einzig richtigen sind?“ Normalerweise wird man, wenn man auf diesen Einwand antwortet, von seiner Erklärung von Sünde und Gnade in eine apologetische Diskussion über Relativismus abgelenkt. Natürlich müssen postmoderne Menschen wegen ihrer verworrenen Sicht auf Wahrheit scharf herausgefordert werden, aber ich denke, dass es einen Weg gibt, vorwärtszukommen und eine glaubwürdige und überzeugende Evangeliumspräsentation zu machen, bevor man sich mit diesen apologetischen Themen befassen muss. Ich tue es folgendermaßen: Ich nehme eine Seite aus Kierkegaards Die Krankheit zum Tode und definiere Sünde als das Gründen der eigenen Identität – des Selbstwerts und der Glücklichkeit – auf irgendetwas anderes als auf Gott. Anstatt ihnen zu sagen, dass sie sündigen, weil sie mit ihrem Freund oder ihrer Freundin schlafen, sagen ich ihnen, dass sie sündigen, weil sie auf ihre Karrieren und romantischen Beziehungen schauen, um dadurch gerettet zu werden und um ihnen all das zu geben, was sie bei Gott suchen sollten. Solcher Götzendienst führt zu Getriebenheit, Süchten, tiefer Angst, Besessenheit, Neid und Bitterkeit.

Ich habe erfahren, dass postmoderne Menschen nicht viel Widerstand leisten, wenn ich das Leben von ihnen mit dem Begriff des Götzendienstes beschreibe. Sie bezweifeln, dass es irgendeine wirkliche Alternative gibt, aber sie geben verlegen zu, dass sie genau das machen. Ich habe auch erfahren, dass Sünde dadurch persönlicher wird. Wenn man aus etwas einen Götzen macht, dann gibt man ihm die Liebe, die dem Schöpfer und Erhalter gebührt. Sünde nicht nur als Übertretung des Gesetzes darzustellen, sondern auch der Liebe, ist überführender. Natürlich umfasst eine vollständige Beschreibung von Sünde und Gnade die Anerkennung unserer Rebellion gegenüber der Autorität Gottes. Aber ich habe erfahren, dass wenn Menschen von ihrer Sünde des Götzendienstes und fehlgeleiteten Liebe überführt werden, es einfacher ist, ihnen zu zeigen, dass eine Auswirkung der Sünde darin besteht, ihre Feindschaft gegenüber Gott zu leugnen. In einer gewissen Weise ist Götzendienst wie Sucht in Großbuchstaben. Wir sind gefangen an unsere geistlichen Götzen, genau wie Menschen gefangen sind in Alkohol und Drogen. Wir wollen nicht wahrhaben, wie sehr wir gegen Gottes Herrschaft rebellieren, genau wie Suchtkranke nicht wahrhaben wollen, wie sehr sie auf ihren Familien und Geliebten herumtrampeln.

Das biblische Thema des Götzendienstes hat weit mehr Implikationen für den Dienst in einer postmodernen Gesellschaft, als ich hier vorstellen konnte. Es ist nicht nur ein Schlüssel für Evangelisation, sondern auch wesentlich für Jüngerschaft und Seelsorge, wie David Powlison in seinen vielen Schriften zu dem Thema gezeigt hat (siehe seinen Aufsatz „Idols of  the Heart and Vanity Fair“). Die niederländischen Calvinisten haben gezeigt, dass es der beste Weg ist, um eine Kultur zu analysieren, ihre gemeinschaftlichen Götzen zu identifizieren. In der Tat hat jedes Berufs- und Studiengebiet seine beherrschenden Götzen, genauso wie politische Parteien und Ideologien. Während die säkulare Gesellschaft einen Götzen aus dem menschlichen Verstand und menschlicher Autonomie gemacht hat, machen traditionellere Gesellschaften Götzen aus der Familie oder der Reinheit ihrer Rasse.

In ihrem jüngsten Memoir Easter Everywhere: A Memoir berichtet Darcey Steinke, Tochter eines lutherischen Pfarrers, wie sie ihr christliches Bekenntnis aufgab. Nachdem sie nach New York City umgezogen war, zog sie von Klub zu Klub und führte ein Leben sexueller Besessenheit. Sie schrieb mehrere Romane. Aber sie blieb äußerst ruhelos und unerfüllt. In der Mitte ihres Buches zitiert sie Simone Weill und fasst dadurch das Hauptthema ihres Lebens zusammen: „Man hat nur die Wahl zwischen Gott und Götzendienst“, schrieb Weill. „Wenn man Gott leugnet … dann betet man irgendwelche Dinge dieser Welt an, in dem Glauben, dass man sie nur als solche erachtet, aber in Wirklichkeit, obwohl man sich dessen nicht bewusst ist, schreibt man ihnen Eigenschaften Gottes zu.“

Stephen Metcalf nannte in seiner New York Times Rezension des Memoirs Weills Zitat „außergewöhnlich“. Das ist ein Zeugnis dafür, wie prägnant das Konzept des Götzendienstes für postmoderne Menschen ist.