Wie kann man ohne Sex leben?

Artikel von Ed Shaw
28. August 2017 — 8 Min Lesedauer

In dem Maße, in dem unsere Gesellschaft es möglich gemacht hat, dass ein menschliches Leben ohne Sex beginnt, erscheint es zunehmend unmöglich, ein menschliches Leben ohne Sex zu genießen.

Die grundlegende Prämisse von Hollywood-Komödien wie „Jungfrau (40), männlich, sucht...“ (2005) oder „40 Tage und 40 Nächte“ (2002) zeigt das deutlich. Die erste erzählt die Geschichte der immer verzweifelter werdenden Versuche eines Mannes endlich zum ersten Mal Sex zu haben, in der zweiten kämpft ein anderer Mann damit 40 Tage und Nächte auf sexuelle Kontakte zu verzichten. Für viele Menschen in unserer heutigen Welt klingt die Aufforderung, mehr als 40 Tage und Nächte ohne Sex auszukommen, oder mehr als 40 Jahre, möglicherweise sogar ein ganzes Leben lang, völlig unglaubwürdig, ja sogar verrückt.

Dennoch ist das Gottes klarer Aufruf an jeden Christen, der unverheiratet bleibt – einschließlich einer noch nicht ganz 40-jährigen Jungfrau, nämlich mir. Das Mitleid, das mir deshalb entgegengebracht wird, ist oftmals überwältigend. Gelegentlich scheint es, als würde ich nicht ganz als Mensch betrachtet, einfach weil ich noch nicht ein so grundlegendes Menschenrecht wie Geschlechtsverkehr in Anspruch genommen habe.

Thomas Schmidt hingegen attestiert: „Die Gleichsetzung von Abwesenheit sexueller Erfüllung mit der Abwesenheit voller Menschlichkeit, der Verneinung des Seins oder dem Entzug von Freude ist nur eine Verirrung unserer bedauernswerten Generation.“

Frühere Generationen hatten eine andere Einstellung gegenüber dem Zölibat. Zielstrebige Junggesellen, die früher die Stütze in den meisten britischen Institutionen waren, und hingegebene alte Jungfern, die ihr Leben damit verbrachten, für ältere Familienmitglieder zu sorgen, wurden bewundert und nicht bemitleidet. Heute allerdings werden solche Lebensentscheidungen verspottet und gemieden und Gespräche über Zölibat oder Keuschheit lösen das Kichern aus, das früher Gespräche über Sex verursachten. Christopher Ash fragt: „Wann haben wir zuletzt einen erfolgreichen Film gesehen, in dem ein zufriedener Junggeselle oder eine zufriedene Junggesellin gezeigt wurde?“ Ich noch nie.

Leider kann die Gemeinde genauso sexbesessen werden wie ihr gesellschaftlicher Kontext.

Genauso wie die Gesellschaft Sex auf jede Art und in jedem Rahmen vergöttert, hat die Gemeinde Sex innerhalb der Ehe glorifiziert. Manche Gläubige heiraten in ihren frühen Zwanzigern, damit sie Sex haben können. Die Gefahr besteht natürlich darin, das man feststellt, dass der Wunsch nach Sex die einzige Gemeinsamkeit mit dem Partner ist, mit dem man nun ein Leben lang verbunden ist. Früh zu heiraten ist außerdem zu einem Allheilmittel für Christen geworden, die mit sexueller Versuchung zu kämpfen haben, wobei viel zu viele desillusioniert feststellen müssen, dass die Versuchung auch nach den Flitterwochen nicht weg ist.

Kurskorrektur

Als Antwort darauf muss die Gemeinde das Kichern ignorieren und die Konzepte Zölibat (bzw. Single-Dasein) und Keuschheit (bzw. sexuelle Selbstbeherrschung) rehabilitieren. Wir müssen die Vorteile von Ehelosigkeit für manche deutlich aussprechen und alle zu Keuschheit animieren.

Oder anders gesagt: Wir müssen wieder anfangen unsere Bibeln zu lesen.

Es ist schwer vorstellbar, wie die Heilige Schrift das zölibatäre Leben noch positiver bewerten könnte. Der zentrale Charakter, Jesus Christus, war unverheiratet und trotzdem ist er der erste und einzige perfekte Mensch in der Geschichte der Menschheit. In Jesus sieht man das Leben in seiner Fülle – und das ohne Sexualität.

„Es ist schwer vorstellbar, wie die Heilige Schrift das zölibatäre Leben noch positiver bewerten könnte.“
 

Des Weiteren gibt es da natürlich noch das Vorbild und die Lehre des Paulus. Wäre es ihm möglich gewesen auf seine Missionsreisen zu gehen, wenn er sich um eine Frau hätte kümmern müssen? Wäre er so ein effektiver Pastor und Mentor junger Gemeindeleiter gewesen, wenn er seine eigene junge Familie gehabt hätte? Er stellt in 1. Korinther 7 ganz klar die einzigartigen Vorteile dar, die ihm sein eheloses Leben im Hinblick auf das Evangelium verschaffen, und es ist höchste Zeit, dass wir ähnliches Denken in unseren Gemeinden fördern.

Wir müssen sowohl auf Jesus als auch auf Paulus hören, wenn es um Keuschheit geht. Jesu hohe Standards für sexuelle Selbstbeherrschung könnten nicht klarer dargestellt werden als in Matthäus 5. Auch Paulus ermutigt fortwährend Gemeinden keusch zu sein, in deren Umfeld Keuschheit ungefähr denselben Stellenwert hatte wie heute in unserem. Ihre Bedeutung – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ehe – muss besonders in einer Welt betont werden, die uns typischerweise ermutigt, unseren Gefühlen zu folgen.

Sexualität und Selbstbeherrschung

Wir müssen uns auch gegenseitig daran erinnern, dass wir unsere Sexualität durch Selbstbeherrschung genauso schätzen können wie durch Sex. Liebe wird nicht nur durch den Sex ausgedrückt, den man hatte, sondern auch durch den Sex, den man nicht hatte. Das trifft auf die Ehefrau zu, die auf einer Geschäftsreise „Nein“ zu den Annäherungsversuchen eines Kollegen sagt – aus Liebe zu Gott und ihrem Ehemann. Es trifft auf die Frau zu, die sich sexuell zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, doch nach ihrer Bekehrung aufhört mit ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerin zu schlafen – aus ihrer neuentstandenen Liebe zu Jesus – und es trifft genauso auf den Mann mit gleichgeschlechtlichen Neigungen zu, der aus Liebe zu Gott bis an sein Lebensende Jungfrau bleibt.

„Die Sprache und die Bilder der Sexualität sind die drastischsten und mächtigsten, die die Bibel verwendet, um die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk zu beschreiben.“
 

Die Kraft unserer sexuellen Gefühle kann verblüffender Weise dann besonders stark wahrgenommen werden, wenn sie uns am schmerzhaftesten trifft. John Piper erinnert uns daran, dass „der ultimative (nicht der einzige) Grund für unsere Sexualität darin liegt, Gott tiefer kennenzulernen. Die Sprache und die Bilder der Sexualität sind die drastischsten und mächtigsten, die die Bibel verwendet, um die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk zu beschreiben – sowohl im positiven (wenn wir treu sind) als auch im negativen Sinn (wenn wir es nicht sind).“ Gottes leidenschaftliche Liebe zu seinem Volk – so leidenschaftlich, dass sie beispielsweise in Hesekiel 16 sogar in sexueller Terminologie beschrieben wird –kommuniziert Gottes Liebe zu mir am tiefsten.

Ein Leben ohne Sex sollte daher für einen Christen niemals mit einer ungesunden Unterdrückung oder Verleugnung seiner eigenen Sexualität einhergehen. Sexualität ist ein gottgegebenes Geschenk, das wertgeschätzt und in den Grenzen ausgelebt werden sollte, die Gott dafür festgelegt hat. Das bedeutet viel Sex für die einen und keinen Sex für den anderen. Beides sind aber Wege, um einen Teil dessen zu würdigen, was den Menschen als Gottes Geschöpf und Ebenbild charakterisiert.

Intimität ohne Sex

Bedeutet die Abwesenheit von Sex aber nicht notwendigerweise, dass mein Leben ein einsames Zölibat ohne Partner und Kinder ist, mit denen ich mich austauschen könnte? Jeder Mensch sehnt sich nach Intimität, nach Beziehungen, in denen er sich selbst hingeben kann. Ein Leben ohne Sex scheint gerade dieses Grundbedürfnis unbefriedigt zu lassen.

„Liebe wird nicht nur durch den Sex ausgedrückt, den man hatte, sondern auch durch den Sex, den man nicht hatte.“
 

Solches Denken – übrigens viel zu verbreitet in Gemeinden, die ihren Fokus oftmals nur auf die Familie richten – ist nicht biblisch. In unseren Bibeln sind Freundschaften geprägt von Offenheit und Selbstaufgabe (siehe zum Beispiel David und Jonathan oder das Buch der Sprüche) und die Gemeinde ist Fokus neutestamentlicher Gemeinschaft – nicht ein Vater, eine Mutter und 2-3 Kinder. Tim Chester liegt mit seiner provokanten Aussage absolut richtig: „Ich habe kürzlich jemanden schockiert, indem ich ihn fragte, zu welcher Gelegenheit sich Jesus positiv zur Familie geäußert hätte. Jedes Mal nämlich, wenn Jesus von Familie redet, sieht er sie als Konkurrenz zu der Loyalität ihm und seiner Gemeinschaft gegenüber.“ Lies das Ende von Matthäus 12, falls du ihm nicht glaubst.

Jemandem Sex zu verweigern bedeutet also nicht, dass man ihn zu einem Leben ohne Intimität und voller Einsamkeit verdammt. Einsamkeit wird selbstverständlich immer eine gewisse Rolle spielen (was sie aber auch in den erfolgreichsten Ehen und Familien tut), aber Intimität kann in engen Freundschaften und in der Gemeinde vorhanden sein. Barry Danylak bemerkt zurecht, dass „christliches Single-Dasein keine Verneinung des Prinzips aus 1. Mose 2,18 ist, dass es nicht gut ist allein zu sein. Weder Jesus noch Paulus waren als unverheiratete Männer ohne Freundschaften. Sie beide hatten florierende Beziehungen sowohl quantitativ als auch qualitativ und das nicht trotz, sondern eben durch die Freiheit und Flexibilität, die ihnen ihr Familienstand ermöglichte.“

Als ein alleinstehender Mann mag ich vielleicht nicht in den Genuss sexueller Intimität mit irgendjemanden kommen, aber ich vermute, dass ich in den meisten Fällen bessere (angemessene!) Intimität mit mehr Menschen genieße als die meisten meiner verheirateten Freunde – sie haben manchmal sogar das größere Defizit an Intimität. Lauren Winner hat folgendes ergreifendes Zitat eines Freundes festgehalten: „Nachts im Bett neben jemandem zu liegen, dem man versprochen hat zu lieben, und gleichzeitig zu wissen, dass es keinen Weg gibt den Graben zwischen ihm und einem selbst zu überwinden ... Das ist die schrecklichste Art von Einsamkeit.“

Ich bin vielleicht doch nicht so arm dran mit einem Leben ohne Sex.