Unser Stellvertreter

Artikel von R.C. Sproul
22. August 2017 — 6 Min Lesedauer

Das Wort „stellvertretend“ ist extrem wichtig für unser Verständnis des Sühneopfers Christi. Der verstorbene Schweizer Theologe Karl Barth hat einmal gesagt, dass seiner Meinung nach das wichtigste Wort im gesamten griechischen Neuen Testament das winzige Wort hyper ist. Dieses kleine Wort wird mit dem kurzen Wort „für“ übersetzt. Barth hat mit dieser Aussage eindeutig ein wenig übertrieben, denn viele Wörter im Neuen Testament sind wohl genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als hyper, aber er wollte einfach die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung dessen lenken, was in der Theologie als der stellvertretende Aspekt im Dienst Jesu bekannt ist.

Er leistete Genugtuung für unsere Schuld, unsere Feindschaft mit Gott und unsere Schuld. Er erfüllte die Lösegeldforderung für unsere Befreiung aus der Gefangenschaft der Sünde. Es gibt jedoch noch ein weiteres bedeutsames Wort, das oft in Beschreibungen des Sühnopfers verwendet wird: Stellvertretung. Wenn wir uns die biblische Darstellung der Sünde als ein Verbrechen ansehen, dann sehen wir, dass Jesus als der Stellvertreter handelt, der unseren Platz vor dem Gericht Gottes einnimmt. Aus diesem Grund nennen wir manchmal Jesu Werk am Kreuz das stellvertretende Sühneopfer Christi, was bedeutet, dass als er das Sühneopfer darbrachte, er nicht Gottes Gerechtigkeit für seine eigenen Sünden zufriedenstellte, sondern für die Sünden anderer. Er nahm die Rolle des Stellvertreters ein und repräsentierte sein Volk. Er ließ sein Leben nicht für sich selbst; er ließ es für seine Schafe. Er ist der ultimative Stellvertreter.

Die Vorstellung, in der Darbringung des Sühneopfers und der Erfüllung der Ansprüche von Gottes Gesetz als Stellvertreter für andere zu handeln, war etwas, das Christus als seine Mission verstand von dem Moment an, als er diese Welt betrat und unsere menschliche Natur annahm. Er kam vom Himmel als die Gabe des Vaters für das ausdrückliche Ziel, als unser Stellvertreter Erlösung zu erwirken, indem er das für uns tat, was wir niemals für uns selber hätten tun können. Wir sehen das schon am Anfang von Jesu Dienst, als er sein öffentliches Wirken durch das Kommen zum Fluss Jordan einleitete, wo er Johannes den Täufer traf.

Stell dir die Szene dort am Jordan vor. Johannes war beschäftigt damit, Menschen in Vorbereitung auf das Kommen des Reiches Gottes zu taufen. Plötzlich sah er auf und bemerkte, wie Jesus sich näherte. Er sprach die Worte, die später zu einem großartigen Choral der Kirche wurden, das Agnus Dei: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29b). Er verkündete, dass Jesus derjenige war, der gekommen ist, um die Sünde seines Volkes zu tragen. In seiner Person würde er alles erfüllen, was im Opfersystem des Alten Testaments symbolisiert war; bei dem ein Lamm geschlachtet und auf dem Altar als Opfer für Gott verbrannt wurde, um die Sühnung der Sünde zu repräsentieren. Das Lamm war ein Stellvertreter, deshalb sagte Johannes, als er Jesus „das Lamm Gottes“ nannte, aus, dass auch er ein Stellvertreter sein würde, aber einer, der wahre Sühne erwirken würde.

Jesus kam zu Johannes und bat ihn zu dessen Erschrecken, getauft zu werden. Die Schrift gibt uns die Reaktion von Johannes auf diese Bitte wieder: „Johannes aber wehrte ihm und sprach: Ich habe es nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir?“ (Mt 3,14). Diese einfache Aussage muss eine tiefe Verwirrung bei Johannes kaschiert haben. Er hatte gerade verkündigt, dass Jesus das Lamm Gottes war, und um als vollkommenes Opfer zu fungieren und die Sünde des Volkes zu sühnen, musste das Lamm Gottes ohne Makel sein. Er musste vollkommen sündlos sein. Aber das Ritual der Taufe, zu dem Johannes ganz Israel als Vorbereitung für das Kommen des Messias aufrief, war ein Ritus, der die Reinigung von der Sünde symbolisierte. Deshalb sagte Johannes in Wirklichkeit: „Es wäre absurd für mich, dich zu taufen, weil du das sündlose Lamm Gottes bist.“ Johannes schlug schließlich eine andere Idee vor: Jesus sollte ihn taufen. Das war von seiner Seite das Eingeständnis, dass er ein Sünder war, der der Reinigung bedurfte.

Jesus überging seinen Widerspruch: „Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt so geschehen; denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen!“ (Mt 3,15a). Jesu Wortwahl in dieser Aussage ist interessant. Zunächst sagte er: „Lass es jetzt so geschehen.“ Der Fakt, dass Jesus seinen Befehl an Johannes in diesen Worten gab, zeigt, dass er wusste, dass eine theologische Schwierigkeit damit verknüpft war. Es war, als ob Jesus gesagte hätte: „Johannes, ich weiß, dass du nicht verstehst, was hier geschieht, aber du kannst mir vertrauen. Geh und taufe mich.“

Jedoch gab Jesus im Anschluss eine Erklärung, warum Johannes ihn taufen sollte. Er sagte: „Es gebührt uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Das Wort „gebührt“ kann auch als „notwendig“ übersetzt werden. Mit anderen Worten sagte Jesus, dass es notwendig für ihn war, getauft zu werden. Wieso war es notwendig? Johannes der Täufer war als ein Prophet Gottes gekommen. Jesus würde später über ihn sagen: „Unter denen, die von Frauen geboren sind, gibt es keinen größeren Propheten als Johannes den Täufer“ (Luk 7,28a). Durch diesen Propheten hatte Gott seinem Bundesvolk ein neues Gebot gegeben: sie sollten sich taufen lassen. Wir sollten nie denken, dass Gott aufgehört hatte, seinem Volk seinen Willen kundzutun, nachdem er ihnen die Zehn Gebote gegeben hatte. Eine Vielzahl von Gesetzen wurde zu den grundlegenden Zehn Geboten hinzugefügt, nachdem diese gegeben worden waren. Das Gebot, dass sich sein Volk diesem Reinigungsritus unterziehen sollte, um sich auf das Hereinbrechen des Reiches Gottes vorzubereiten, war nur der letzte dieser Erlässe Gottes.

Bevor er zum Kreuz gehen konnte, bevor er seine Rolle als Lamm Gottes erfüllen konnte, bevor er sich selbst als Opfer darbringen konnte, um die Forderungen der Gerechtigkeit Gottes zu erfüllen, musste Jesus sich selber jedem Detail von jedem Gesetz unterwerfen, das Gott seinem Volk gegeben hatte. Er musste sein Volk vor dem Gericht Gottes in jedem Detail vertreten. Weil das Gesetz nun vom ganzen Volk verlangte, sich taufen zu lassen, musste auch Jesus getauft werden. Er musste jedes einzelne Gebot Gottes erfüllen, um sündlos zu sein. Er bat Johannes nicht, ihn zu taufen, weil er der Reinigung bedurfte; er wollte getauft werden, um seinem Vater in jedem Detail gehorsam sein zu können.

Das ist der Punkt, den Jesus hier gegenüber Johannes macht, weil es die Mission Jesu war, der Stellvertreter zu sein, das stellvertretende Opfer für Gott. Jesus verstand das und nahm es bereitwillig an. Von Beginn seines Dienstes an wusste er, dass er gekommen war, um als Stellvertreter für seine Schafe zu handeln. Im Zentrum seiner Lehre war die Aussage, dass er dies nicht für sich selbst tat, sondern für uns – um uns zu erlösen, uns freizukaufen, uns zu erretten.