Wahrheit und Ton gehen Hand in Hand

Artikel von Erik Raymond
19. Dezember 2016 — 5 Min Lesedauer

Ein Pastor kann in verschiedener Hinsicht seine Pflichten vernachlässigen. Die häufigste und offensichtlichste wäre seine Moral. Wenn ein Mann nicht die Lehre widerspiegelt, die er weitergibt, dann ist sein Dienst eine Täuschung. Wir wissen, dass es moralische Qualifikationen für das Ältestenamt gibt (1Tim 3,1–8). Gleichzeitig muss der Pastor in seiner Lehre biblisch fundiert sein; er muss ein gesundes Verständnis der Wahrheit haben. Wenn er eine falsche Lehre verkündigt, wird seine Gemeinde leiden. Es überrascht also kaum, dass Paulus allein im 2. Timotheusbrief zahlreiche Ermutigungen hierzu anführt (2Tim 1,6–7; 13–14: 2,15; 4,1–4 usw.). Ihren Höhepunkt finden Sie in der pastoralen inclusio, stark auf das eigene Leben und die eigene Lehre zu achten (1Tim 4,16).

Es gibt einen weiteren Aspekt, in dem ein Diener des Evangeliums auf Abwege geraten könnte, und ich befürchte, dass er immer mehr vernachlässigt – oder zumindest übersehen – wird. Er muss auf seinen Ton achten. Der Pastor muss sich der Wahrheit verschreiben und dabei einen Ton beibehalten, der mit der Wahrheit übereinstimmt. Mit anderen Worten: Wahrheit und Ton gehen Hand in Hand. Auch hier gilt sozusagen: „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“

Es ist nicht schwierig, auf der einen Seite des Pferdes herunterzufallen, wenn wir so überzeugt davon sind, dass wir auf der anderen nicht herunterfallen. Wir können der Lehre gleichgültig gegenüberstehen und extrem nett sein oder der Lehre verpflichtet und totale Blödmänner sein. Wenn wir der Lehre gleichgültig gegenüberstehen und versuchen, supernett zu sein, dann machen wir unsere Berufung nichtig, entehren Christus und helfen letztlich niemandem. Und wenn wir der Wahrheit verpflichtet und gleichzeitig harsch, unhöflich oder bissig sind, dann untergraben wir unsere Lehre. Man kann also von beiden Seiten vom Pferd fallen.

Vielleicht haben Sie bemerkt, wie oft die Bibel Christen, vor allem Pastoren, auffordert, auf ihren Ton zu achten. Ein solches Beispiel wäre 2Tim 2,24–26. Im Kontext von Streitfragen lesen wir hier:

„Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streiten, sondern milde sein gegen jedermann, fähig zu lehren, geduldig im Ertragen von Bosheiten; er soll mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweisen, ob ihnen Gott nicht noch Buße geben möchte zur Erkenntnis der Wahrheit und sie wieder nüchtern werden aus dem Fallstrick des Teufels heraus, von dem sie lebendig gefangen worden sind für seinen Willen“ (2Tim 2,24–26).

Paulus ist es hier im Kontext von Streitfragen außerordentlich wichtig, Ton und Wahrheit zu unterstreichen: nicht streiten, sondern milde sein (gegen jedermann), geduldig beim Ertragen von Bosheiten, mit Sanftmut zurechtweisen – und zwar weil das der Schlüssel ist, mit dem Gott den Kerker der in Sünde Gefangenen aufsperrt.

Es kommt einem so vor, als hätten manche bei diesem Abschnitt genau das Gegenteil verstanden: Der Knecht des Herrn muss bereit sein, jederzeit zuzuschlagen, gegenüber jedem harsch und ungeduldig im Ertragen von Bosheiten sein und seine Gegner gnadenlos zurechtweisen. „Schließlich folgen sie dieser idiotenhaften Lehre, statt so schlau wie ich zu sein.“

Ich profitiere in diesem Aspekt des Pastoraldienstes sehr von John Newton. Manches von dem, was noch kommt, entstammt seinen Briefen, die in dem Buch Select Letters of John Newton zusammengestellt sind. Hier tut eine persönliche Bestandsaufnahme und Selbstbetrachtung Not.

Wenn die Person, mit der sie nicht übereinstimmen, Christ ist, dann vergessen Sie nicht, milde gegen sie zu sein. Das spiegelt Christi Art und Gepflogenheit wieder. Erinnern Sie sich an Davids Wort zu Joab in Bezug auf Absalom? „Geht mir schonend mit ihm um.“ Vergessen Sie nicht: Der Herr liebt diesen Bruder oder diese Schwester und erträgt sie in Geduld. Das sollten Sie auch.

„Der Herr liebt ihn und erträgt ihn; deswegen darfst du ihn nicht verachten oder grob mit ihm umgehen. Der Herr erträgt auch dich und erwartet, dass du anderen Milde zeigst aufgrund der Vergebung, die du selbst brauchst. Schon bald wirst du ihn im Himmel treffen; er wird dir dann mehr bedeuten als dein engster Freund dir momentan auf Erden bedeutet. Erwarte diese Zeit in Gedanken; und auch wenn du vielleicht gegen seine Fehler vorgehen musst, dann sieh ihn persönlich als eine verwandte Seele an, mit der du für immer in Christus glücklich sein sollst.“ (Newton, S. 112)

Doch wenn die Person kein Christ ist, dann braucht sie Ihr Mitgefühl, Ihre Freundlichkeit und Liebe noch mehr. Sie wissen nicht, was sie tun! Jesus erkannte dieses Phänomen, und es brachte ihn dazu, betend Mitleid zu üben (Lk 23,34). Ohne Gottes souveräne Gnade wären Sie der höhnende Spötter, der Selbstgerechte.

Newton schreibt noch: „Unter allen Leuten, die sich mit Streitfragen auseinandersetzen, sind wir es, die wir Calvinisten genannt werden, die durch unsere eigenen Prinzipien zum Ausüben von Freundlichkeit und Mäßigung am ausdrücklichsten verpflichtet sind.“ Menschen, die die Gnadenlehren glauben, steht es nicht zu, harsch, unfreundlich, bissig oder verständnislos zu sein. Wir haben einen theologischen Rahmen, der dies richtig einordnet und uns auffordert, barmherzig zu sein!

Es gibt eine Art Egoismus, aufgrund dessen wir zornig auf die sind, die anders sind als wir, und gegen sie eingestellt sind. Wir glauben, in unserem Zorn Gottes Sache zu dienen. Doch sollten wir die Worte aus Jak 1,20 nicht vergessen: „Der Zorn des Mannes vollbringt nicht Gottes Gerechtigkeit!“ Sie mögen in Ihrer lehrmäßigen oder praktischen Schlussfolgerung völlig richtig liegen, doch kommunizieren Sie es vielleicht auf sündige Art und Weise. Sie könnten in Sachen Wahrheit richtig und in Sachen Ton falsch liegen. Das Ergebnis wäre, dass Sie auch in Bezug auf die Wahrheit falsch liegen! Manche denken, sie dienen der Wahrheit; dabei entwerten Sie sie!

Für diejenigen, die bei Streitfragen aufblühen und lehrmäßige Reinheit als Tarnung verwenden, klingen Newtons Worte prophetisch:

„Wenn du zufrieden damit sein kannst, deinen Witz zu zeigen und die Lacher auf deiner Seite zu haben, hast du eine einfache Aufgabe; doch ich hoffe, du hast ein weitaus edleres Ziel, nämlich – im Bewusstsein der ernsten Bedeutung der Wahrheiten des Evangeliums und im Mitleid aufgrund des Zustandes von Menschenseelen – lieber ein Mittel zu sein, die Vorurteile auch nur eines einzigen Menschen aus dem Weg zu räumen, als den leeren Applaus von Tausenden zu bekommen.“

Wenn der Dienende am Evangelium die Gemeinde effektiv führen will, muss er die Gemeinde in die Christus-Ähnlichkeit führen, die von Geduld, Milde und Sanftmut viele eher widergespiegelt wird als von den vielen Sticheleien und harschen Worten, die oft für Dienst am Wort gehalten werden.

Pastoren dürfen nicht vergessen, dass Wahrheit und Ton Hand in Hand gehen.

Erik Raymond ist leitender Pastor in der Redeemer Fellowship Church in Boston (USA). Er und seine Frau Christie haben sechs Kinder.