Ich bin bei dir
Sarah Youngs Andachtsbuch Jesus Calling (dt. Ausgabe: Ich bin bei Dir: 366 Liebesbriefe von Jesus) ist ein Phänomen, dessen Erfolg immer noch anhält. Nach Aussage des Verlegers Thomas Nelson „steigen die Verkaufszahlen seit seiner Erstveröffentlichung jedes Jahr weiter an [und] liegen bei insgesamt über 15 Millionen verkauften Exemplaren“. Nelson hat inzwischen eine große Marketingkampagne mit einer neuen Website und täglichen Radioandachten gestartet. Die ECPA (Evangelical Christian Publishers Association) berichtet, dass „Thomas Nelson Geschäftspartner der Salem Media Gruppe geworden ist, um jeden Tag 60-Sekunden-Andachten in der Eric Metaxas Show verbreiten zu können, die von mehr als 100 US-Radiostationen und weltweit über den SiriusXM Radiokanal gesendet wird. Über diese Segmente erreicht die Jesus Calling-Radioandacht täglich über 500.000 Zuhörer“. Mit 15 Millionen verkauften Exemplaren hat sich dieses Andachtsbuch zu einem einzigartigen Geschäft entwickelt.
Dennoch ist es ein Buch, das Anlass zu großer Besorgnis gibt. Ich werde im Folgenden 10 ernste Probleme aufzeigen, die ich bei Jesus Calling sehe – in der Hoffnung, dass Sie diese daraus erfolgenden Warnungen beherzigen.
1. Young spricht im Namen Gottes
Der besorgniserregendste Aspekt des Buches ist die Grundvoraussetzung, von der Sarah Young ausgeht: dass sie Botschaften von Jesus hört und diese gehorsam an ihre Leser weitergibt. Jesus Calling stellt die kühnste, mutigste und m. E. arroganteste Behauptung auf, mit der jemals ein christliches Buch angetreten ist. Der Verleger beschreibt es wie folgt: „Nachdem sie viele Jahre mit ihren eigenen Worten in ihr Gebetstagebuch geschrieben hatte, entschloss sich die Missionarin Sarah Young, aufmerksamer auf die Stimme des Erlösers zu lauschen und begann, darauf zu hören, was Er ihr sagte. Mit dem Stift in der Hand machte sie sich auf eine Reise, die sie für immer veränderte – und mit ihr viele Menschen auf der ganzen Welt. Diese wirkmächtigen Seiten enthalten die Worte und Bibeltexte, die ihr Jesus in liebevoller Weise aufs Herz legte. Worte der Unterstützung, des Trostes und der Hoffnung. Worte, die ihr geholfen haben, sich stärker Seiner Gegenwart bewusst zu sein und Seinen Frieden zu genießen (kursiv von mir).“ Man kann nicht einfach ignorieren, dass sie behauptet, eine göttliche Offenbarung weiterzugeben. Dieser Anspruch wirft zahlreiche Fragen auf und gibt Anlass zur Besorgnis, nicht zuletzt hinsichtlich der Lehre „Allein die Schrift“, die uns versichert, dass die Bibel allgenügsam ist, um uns in allen Glaubens- und Lebensfragen recht zu führen.
2. Sie geht davon aus, dass die Bibel allein nicht reiche und ungenügend sei
Das Buch Jesus Calling gibt es nur, weil Sarah Young eine tiefe Sehnsucht danach hatte, neben der Bibel noch mehr von Gott zu hören. In der Einführung schreibt sie, wie Jesus Calling entstand: „Im folgenden Jahr fragte ich mich, ob ich in den Zeiten, in denen ich vor Gott still wurde, auch Botschaften empfangen könnte. Ich hatte schon seit Jahren Gebetstagebücher verfasst, aber es war eine einseitige Kommunikation gewesen: Der Einzige, der hier sprach, war ich. Ich wusste, dass Gott durch die Bibel zu mir spricht, aber ich sehnte mich nach mehr. Immer mehr wollte ich hören, was Gott mir an einem bestimmten Tag persönlich zu sagen hat.“ Mit diesen wenigen Sätzen erzeugt sie eine unnötige Konkurrenz zwischen ihrer Offenbarung und dem, was die Bibel in 2. Timotheus 3,16-17 sagt: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ Von seinem Geist und Wesen ist ihr Buch biblisch nicht einzuordnen. Von der Bibel her gesehen ist es weder erforderlich noch gibt es einen Grund, ein solches Buch zu erwarten oder zu beachten.
3. Ihre tiefste Gotteserfahrung erlebte die Autorin durch eine Praktik, die Gott nicht gutheißt
Young empfiehlt nicht nur ihre Praktik des Hörens Gottes, sie geht sogar so weit, diese zur wichtigsten geistlichen Übung aufzuwerten. „Diese regelmäßige Praxis, Gott zuzuhören, hat meine Beziehung zu ihm viel stärker vertieft als irgendeine andere geistliche Übung. Deshalb möchte ich einige Botschaften, die ich von ihm bekommen habe, weitergeben. In vielen Teilen der Welt sehnen sich Christen danach, Jesu Gegenwart und seinen Frieden stärker zu erfahren. Die Botschaften, die ich in diesem Buch wiedergebe, sprechen dieses Bedürfnis an.“ Man beachte: Jesu Gegenwart und Seinen Frieden soll der Leser weder in der Heiligen Schrift noch mittels anderer Gnadenmittel suchen, sondern in den Botschaften, die sie in ihrem Buch weitergibt.
4. Ihre Inspiration schöpft Sarah Young aus vertrauensunwürdigen Quellen
In den ersten Ausgaben von Jesus Calling berichtet Young, dass sie das Buch God Calling [Gott, der ruft; andere deutsche Übersetzung von Dr. R. E. Koch: Ich rufe euch] entdeckte und dass sie versuchte, genauso auf Gott zu hören, wie es die Autorinnen des Buches praktiziert hatten. Sie beschreibt es als „ein Andachtsbuch, das zwei anonyme ‚Zuhörerinnen‘ geschrieben haben. Diese Frauen warteten mit Stift und Papier in der Hand still in Gottes Gegenwart und schrieben die Botschaften auf, die sie von ihm bekamen … Sechs oder sieben Jahre später wurde dieses kleine Taschenbuch für mich zu einem kostbaren Schatz. Es passte erstaunlich gut zu meiner Sehnsucht, in Jesu Gegenwart zu leben.“ Erstaunlicherweise wurde diese Information aus den jüngsten Ausgaben von Jesus Calling entfernt. God Calling ist ein ebenso problematisches Buch, das in den 1930er Jahren sehr erfolgreich war und nun im Kielwasser von Jesus Calling eine Wiederentdeckung erlebt. Manchmal ist es fast biblisch, an einigen Stellen regelrecht unbiblisch. Dennoch nennt sie das Buch einen Schatz und betrachtet es als nachahmenswertes Beispiel für ihre eigene Arbeit.
5. Haben ihre Offenbarungen weniger Gewicht als die Bibel?
Young gibt zwar zu, dass zwischen ihren Offenbarungen und der Bibel ein Unterschied besteht („Die Bibel ist selbstverständlich das einzige unfehlbare Wort Gottes; das, was ich schreibe, muss diesem unveränderlichen Maßstab gerecht werden.“); sie erklärt jedoch nicht, inwiefern sich ihre Aufzeichnungen von der Bibel unterscheiden. Jesse Johnson sagt: „Sie behauptet nicht, dass der Inhalt von Jesus Calling der Heiligen Schrift gerecht werden muss. Dieser Maßstab gilt auch für jeden Text in der Schrift [wobei jeder Bibeltext gegen andere Bibeltexte abgeglichen werden muss]. Am Ende gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem, wie wir laut Sarah Young Jesu Worte an sie und die Bibel einschätzen sollen. ,Jesu’ Worte an Sarah werden uns wortwörtlich in einem Andachtsbuch präsentiert, und wir sollen damit unsere täglichen Andachten halten.“ Wenn ihre Worte wirklich von Jesus stammen, wieso können sie dann weniger autoritativ oder weniger bindend als jedes Bibelwort sein?
6. Sie ahmt okkulte Praktiken nach
Die Art und Weise, in der Young ihre Offenbarungen von Jesus empfängt, hat einen okkulten Beigeschmack. „Ich beschloss, mit dem Stift in der Hand auf Gott zu hören und aufzuschreiben, was er meiner Meinung nach sagte. Als ich es das erste Mal probierte, war ich ziemlich unsicher, aber Gott sprach zu mir. Seine Botschaft war kurz, biblisch und treffend. Sie sprach Themen an, die in meinem Leben sehr aktuell waren: Vertrauen, Angst und Nähe zu Gott. Meine Antwort schrieb ich in mein Gebetstagebuch.“ Dies erinnert stark an eine Praktik, die als „automatisches Schreiben“ bekannt ist und in Wikipedia beschrieben wird als „eine angebliche psychische Fähigkeit, die es einer Person ermöglicht, schriftliche Worte durch unbewusstes Schreiben zu produzieren. Diese Worte werden einer unterbewussten, spirituellen oder übernatürlichen Quelle zugeschrieben.“ Ihre Inspiration war das Buch God Calling, bei dem noch deutlicher wird, dass seine Autorinnen sich in die Haltung eines offenen Geisteszustands begaben, in dem sie angeblich Botschaften von Gott empfingen. Diese Praktik ist etwas völlig anderes als der Empfang einer biblischen Botschaft, bei der Gott durch die Gedanken, die Persönlichkeit und sogar das forschende Nachdenken und Studium der biblischen Autoren wirksam war.
7. Ihr Schwerpunkt weicht von der Bibel ab
Worauf Sarah Young in Jesus Calling den Schwerpunkt legt, unterscheidet sich deutlich von dem, was in der Bibel im Zentrum steht. So spricht sie beispielsweise selten über Sünde und Buße und noch weniger von Christi Kreuzestod. Nach Aussage von Michael Horton „kann man den Inhalt ihrer Botschaft auf einen einzigen Punkt reduzieren: Vertraue mir mehr, indem du jeden Tag in Abhängigkeit von mir lebst, und du wirst meine Gegenwart genießen.“ Auch wenn dies keine unbiblische oder unangemessene Botschaft ist, führt sie doch von der Hauptzielrichtung der Bibel weg, die immer zum Evangelium Jesu Christi hinführt. Horton weiter: „Dass Christus für unsere Sünden starb, wird erstmals am 28. Februar erwähnt (S. 80). Den nächsten Hinweis (Jesu Gewand zu tragen) finden wir am 9. August (S. 259). Selbst in den Dezember-Texten geht es hauptsächlich darum, dass Jesus in unserem Herzen und im täglichen Leben gegenwärtig ist, jedoch ohne Bezug auf die historische Person Jesu und sein Werk.“
8. Ihre Sprache klingt anders als die Worte der Bibel
Es ist nicht zu leugnen: Der Jesus von Sarah Young klingt verdächtig nach einer westlich geprägten Frau mittleren Alters des 21. Jahrhunderts. Wenn hier tatsächlich Jesus spricht, dann müsste man erklären, weshalb dieser sich ganz anders als der Jesus in den Evangelien oder im Buch der Offenbarung anhört. Nirgendwo in der Schrift lesen wir Worte von Jesus (oder seinem Vater) wie diese: „Wenn deine Freude an mir so groß wird wie meine Freude an dir, bricht ein Feuerwerk himmlischen Jubels los.“ Oder: „Trage meine Liebe wie einen Mantel des Lichts, der dich vom Kopf bis zu den Füßen bedeckt.“ Oder wie diese: „Opfere mir diese kostbare Zeit. Das schafft einen heiligen Raum, einen Raum, der von meiner Gegenwart und meinem Frieden durchdrungen ist.“ Weshalb redet Jesus plötzlich so ganz anders?
9. Sie stiftet Verwirrung
Indem sie die geistliche Übung des Hörens Gottes erfindet und ihr dieser oberste Priorität einräumt, erzeugt sie Verwirrung darüber, welche Disziplinen Christen nach Gottes Anweisung praktizieren sollen. Michael Horton bringt es auf den Punkt: „Im reformatorisch geprägten Evangelikalismus geht man davon aus, dass Gott in seinem Wort zu uns spricht (der Pfeil zielt von Gott auf uns) und dass wir im Gebet mit ihm reden (hier zielt der Pfeil hin zu Gott). Jesus Calling hingegen verwechselt die Richtung dieser Pfeile, wobei der Unterschied zwischen Gottes Reden und unserer Antwort verschwimmt.“ Die von ihr entwickelte und empfohlene Praktik ist verwirrend und nicht hilfreich.
10. Ihr Buch wurde korrigiert
Die meisten Leute wissen nicht, dass Jesus Calling überarbeitet wurde. Die Korrekturen betrafen nicht nur die Einleitung, in der Sarah Young alle Hinweise auf das Buch God Calling löschte, sondern auch jene Worte, von denen sie behauptete, sie von Jesus empfangen zu haben. Dies lässt natürlich weitere Zweifel an der Glaubwürdigkeit der erhaltenen Offenbarungen aufkommen. Weshalb sollten Worte von Jesus überarbeitet werden? Hat Gott gelogen? Hat er sich geändert? Hat sie ihn missverstanden? Es bleibt einem nichts anderes übrig, als ihre angeblichen Offenbarungen in Zweifel zu ziehen. Folgende vom CARM-Institut (Christian Apologetics & Research Ministry) publizierte Gegenüberstellung macht eine wichtige Textveränderung deutlich:
2004 |
2011 |
23. AUGUST |
23. AUGUST |
Insgesamt ist klar zu erkennen: Jesus Calling ist ein Buch, das auf einer falschen Voraussetzung basiert. Es ist auf seine Weise gefährlich und verdient weder unsere Aufmerksamkeit noch unsere Zustimmung. Wirklich tragisch ist dabei, dass es Menschen von Gottes Gnadenmitteln wegzieht, die uns zufrieden stellen und erfüllen, wenn wir sie annehmen und nutzen.