Gandalf, Hiob und die Liebe Gottes
Vom 1.–3. Januar 2026 findet in Minden die Josia-Konferenz zum Thema „Hiobsbotschaft – Gott ungefiltert“ statt. Redner der Konferenz sind Boris Giesbrecht und Paul Koch. Eine Anmeldung ist hier möglich.
„Da antwortete der Herr dem Hiob aus dem Gewittersturm und sprach: Wer verfinstert da den Ratschluss mit Worten ohne Erkenntnis? Gürte doch deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, und du sollst mich belehren!“ (Hi 38,1–3)
Das ist einer der packendsten Abschnitte der Bibel. Gottes Worte an Hiob sind ernüchternd und herausfordernd. 36 Kapitel lang schweigt Gott in Gegenwart von Hiobs Tröstern und ihrer leidenschaftlichen Selbstverteidigung, die in Wirklichkeit eine Anklage gegen Gottes Gerechtigkeit und sein Wesen ist. Jetzt öffnet der Heilige seinen Mund und bringt Hiob zum Schweigen und zur Umkehr.
Oberflächlich betrachtet bekräftigt Gott hier lediglich seine Vollmacht und Überlegenheit über die Begrenztheit und Schwäche eines Menschen:
„Wo warst du, als ich den Grund der Erde legte? Sprich es aus, wenn du Bescheid weißt! Wer hat ihre Maße bestimmt? Weißt du das? Oder wer hat die Messschnur über sie ausgespannt? Worin wurden ihre Grundpfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als die Morgensterne miteinander jauchzten und alle Söhne Gottes jubelten?“ (Hi 38,4–7)
Es hört sich an, als würde ein alter Mann einen jungen Grünschnabel zurechtweisen: „Ich habe das schon gemacht, als du noch im Bauch deiner Mama warst!“ Gott wirkt hier ausgesprochen mürrisch.
Elterliche Vollmacht
Natürlich möchte Gott seine Macht und Erhabenheit zeigen. Das hat etwas Faszinierendes. Es ist, als würdest du auf den Klippen am Meer stehen. Du bist beeindruckt von der Gewalt der Wellen, die gegen die Felsen donnern, und von Ehrfurcht erfüllt. Aber das kann doch nicht alles sein, oder? Es scheint, als würde Gott auftauchen, seine Macht demonstrieren und Hiob für sein Jammern zurechtweisen, weil Gott nun einmal Gott ist, und damit hätte sich die Sache erledigt. Ist das wirklich alles, was Gott tut?
Eleonore Stump macht in ihrem großartigen Buch Wandering in Darkness auf den wohlwollenden, elterlichen Charakter der Machttaten Gottes im Buch Hiob hin.[1] Seine Schöpfungstaten bewirken, dass die Söhne Gottes vor Freude singen (vgl. Hi 38,7). Er verfährt mit dem Meer wie eine fürsorgende Mutter, indem er es in Windeln wickelt und ihm sagt, wohin es gehen darf und wohin nicht (vgl. Hi 38,8–11). Punkt für Punkt zeigt der Herr seine persönliche und machtvolle Fürsorge, für die gesamte belebte und unbelebte Schöpfung in Bereichen und Zeiten, die weit über Hiobs Vorstellungen hinausgehen.
Wenn man das so liest, überwältigt Gott Hiob nicht nur mit Macht, sondern lädt ihn vielmehr zu einem erweiterten Bewusstsein ein. Gott führt Hiob eine Welt vor, in der seine Macht mit Weisheit, Fürsorge und liebender Wahrnehmung zum Guten seiner Geschöpfe ausgeübt wird. Gott zeigt Hiob sozusagen seine eigene Perspektive, von der aus er seine Welt sieht und regiert.
Der enthüllte Gandalf
Aber was ist mit den Worten Gottes, die er am Anfang sprach? Geht er dabei nicht gewaltsam mit Hiob um? Ist er nicht zornig? Ist er nicht sogar empört und sarkastisch? Ja, aber das bedeutet keineswegs, dass er nicht mit barmherziger Freundlichkeit handelt.
In einem der ersten Abschnitte in Die Gefährten aus der „Herr der Ringe“-Reihe versucht Gandalf, Bilbo zu überreden, den Ring zurückzulassen. Bilbo aber zögert, weil er unter den Bannspruch gekommen ist. Als Gandalf ihn drängt, wird Bilbo streitlustig, ja sogar zornig auf Gandalf. Bilbo schreit: „Aber wenn du den Ring für dich haben willst, dann sag’s doch! … Aber du kriegst ihn nicht. Ich sage dir, ich gebe meinen Schatz nicht her.“[2] Dabei sucht seine Hand den Griff seines Schwerts.
Die Augen Gandalfs blitzen: „Jetzt werde ich gleich böse … wenn du das noch einmal sagst. Dann lernst du Gandalf den Grauen einmal anders kennen.“ Er tritt dem Hobbit einen Schritt näher und scheint dabei groß und bedrohlich zu werden. Sein Schatten füllt den kleinen Raum. An diesem Punkt wird Bilbo ängstlich. Er tritt furchtsam zurück und fragt sich laut, was über den alten Zauberer gekommen ist. Dann verteidigt er sich selbst gegen die Anklage des Diebstahls. Gandalf antwortet: „Ich will ihn dir nicht rauben, ich will dir helfen. Wenn du mir doch nur vertrauen würdest, wie früher!“
Bilbo hatte Gandalfs aggressive, energische Art als eine blanke Machtdemonstration missverstanden. In seiner Blindheit über den Ring klagt er Gandalf an und stellt seinen Charakter, seine Fürsorge und sein Anliegen infrage. Aber die Empörung der Liebe entfacht das Feuer Gandalfs. Ja, er ist zornig wegen der Torheit Bilbos. Immerhin dachte dieser, dass er ihn herausfordern könne, ja noch mehr: dass er ihn herausfordern müsse, und dass er ihm nicht vertraute. Gandalfs Zorn über die Anklage des Hobbits beweist seine empörte Liebe.
Empörte Liebe
Dies ist der Einblick von Eleonore Stump in die Herausforderung Gottes an Hiob. Gott ist auf Hiobs Seite und nimmt seine schlechten „Tröster“ in die Pflicht. Hiob ist der Einzige, der richtig von Gott gesprochen hat. Der Trost Gottes ist jedoch nicht der Trost eines sanften Trostpflasters. Es ist der feurige Trost eines Gegenangriffs. Manchmal ist das die einzige Möglichkeit, jemanden zu korrigieren, wenn er glaubt, dass sich niemand um ihn kümmert: empört und gekränkt zu sein, indem man ihn veranlasst, zu sehen und zu wissen, wie irregeleitet diese Annahme eigentlich ist.
Hiob bekommt nie eine direkte Antwort auf seine Fragen. Es wird ihm nicht mitgeteilt, wie Gott mit Satan umgeht, geschweige denn Gottes letztes Ziel, wenn er zulässt, was dieser tun möchte. Dagegen bekommt Hiob die einzige Sache, die er wirklich braucht: Gott selbst. Gott selbst kommt, um ihn zu konfrontieren, und er selbst kommt, um ihn zu trösten. Gott selbst kommt, um ihm sein Herz zu offenbaren: einen Einblick in seine Fürsorge und seine Herrschaft. Und darin liegt die liebevolle Zärtlichkeit von Gottes eindringlicher Zurechtweisung: Er behandelt Hiob wie jemanden, der seine Fürsorge und Aufmerksamkeit verdient. Er geht mit ihm um wie mit jemandem, der – so klein und verwirrt er auch sein mag – vom Herrn des Himmels und der Erde zutiefst geliebt wird.
1 Eleonore Stump, Wandering in Darkness: Narrative and the Problem of Suffering, Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 187–190.
2 Die Zitate stammen aus J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe, Bd. 1: Die Gefährten, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 53–54.