Was versteht man unter Exegese?

Eine kurze Einführung

Artikel von Kevin Gardner
28. Oktober 2025 — 5 Min Lesedauer

Heutzutage hören wir oft, dass niemand seinen Standpunkt über den eines anderen stellen sollte, dass niemand ein Monopol auf die Wahrheit hat und letztlich alles eine Frage der Perspektive ist. Diese Sichtweise wird sogar auf die Heilige Schrift angewandt, bis zu dem Punkt, dass der Sinn der Bibel völlig offen und unendlich formbar sei. Die reformierte Tradition hat diese Ansicht konsequent abgelehnt, aus dem einfachen Grund, dass die Schrift das Wort Gottes ist und Gott Wert darauf legt, wie sein Wort gelesen wird. Letztendlich muss die Schrift so gelesen werden, wie Gott es anordnet.

Exegese meint die Auslegung und das Verstehen biblischer Texte. Sie steht in enger Beziehung zur Hermeneutik, also den Grundsätzen, nach denen man an die Bibel herangeht. Exegese ist daher die Anwendung der Hermeneutik auf eine bestimmte Passage. Im Folgenden soll auf einige Prinzipien zur Auslegung der Bibel gemäß der reformierten Tradition eingegangen werden.

Die Bibel demütig auslegen

Die Bibel ist kein gewöhnliches Buch. Sie ist einzigartig: Gottes Wort, die einzige unfehlbare Richtschnur für Glauben und Leben. Wenn wir sie lesen, wollen wir hören, was der lebendige Gott uns sagt. Alle anderen Autoritäten – auch jene, die vorgeben, uns die richtige Auslegung zu lehren – sind der Schrift untergeordnet. Wir bemühen uns zu verstehen, was die menschlichen Verfasser sagen wollten, aber letztlich geht es darum, was Gottes Absicht damit war.

Wir stellen uns unter die Bibel, nicht über sie. Wenn wir auf eine Passage stoßen, deren offensichtliche Bedeutung wir als anstößig empfinden, versuchen wir nicht, sie wegzuerklären oder zu ignorieren. In Johannes 6 etwa spricht Jesus über die vorrangige Rolle von Gottes erwählender Gnade bei der Errettung. An dieser Lehre stießen sich schon damals viele Leute (vgl. Joh 6,66), und auch heute wird diese Aussage häufig relativiert. Wir müssen danach streben, die Lehre der Schrift so zu verstehen und anzunehmen, wie sie ist, nicht wie wir sie gern hätten.

Die Bibel treu auslegen

Die Bibel treu auszulegen bedeutet, den jeweiligen Abschnitt so zu lesen, wie er gelesen werden möchte. Das schließt ein, auf die jeweilige Gattung, sprachliche Bilder und den historischen wie literarischen Kontext zu achten. Diese Methode wird oft als historisch-grammatische Exegese bezeichnet. Indem sie sich auf die von dem Autor verwendeten Wörter und deren Bedeutung im Kontext konzentriert, versucht sie herauszufinden, was dieser vermitteln wollte.

Dazu muss man einige wichtige Fragen an den Text stellen, zum Beispiel: Wer ist der Verfasser? Was ist der Kontext? Was ist die Absicht? Was ist die Textgattung? Die Antworten auf diese Fragen finden sich oft im Text selbst, manchmal aber auch in Hilfsmitteln wie Kommentaren oder Bibellexika.

Wörter haben normalerweise mehr als eine Bedeutung oder Konnotation. Der Kontext hilft uns zu ermitteln, welche bestimmte Bedeutung eines Wortes von all seinen möglichen Bedeutungen (semantisches Spektrum) beabsichtigt ist (siehe zum Beispiel die verschiedenen Varianten, wie „Welt“ im Neuen Testament verwendet wird: Mt 4,8; 13,22; 25,34; Mk 4,19; Lk 2,1; Joh 1,29; 3,16; Apg 17,6; Röm 3,6; Gal 6,14; Eph 2,2). Kleine Verbindungswörter („darum“, „aber“, „stattdessen“) zeigen den Gedankengang auf. Auch die Grammatik eines Abschnitts kann auf eine bestimmte Betonung oder einen Schwerpunkt hinweisen (vgl. Lk 12,5).

Die Bestimmung der Textgattung kann uns dabei helfen, zu erkennen, was der Autor beabsichtigte. In der Bibel finden sich ganz unterschiedliche Formen – etwa Dichtung, Prophetie, apokalyptische Literatur oder Lehrtexte – und jede von ihnen hat ihre eigenen Merkmale, die bestimmen, wie ein Text zu verstehen ist. Poesie und Apokalyptik verwenden häufig Figuren und Bilder, die auf eine Bedeutung hinweisen, die über das Konkrete hinausgeht. Erzählungen, die über bestimmte Ereignisse berichten, können spätere Geschehnisse andeuten oder im Verlauf der Heilsgeschichte an Bedeutung gewinnen.

Wenn wir diese Aspekte des Textes betrachten, können wir besser verstehen, was er ursprünglich sagen wollte. Danach stellt sich die Frage, was er uns heute zu sagen hat. Dabei geht es darum, den Sinn des Textes im Licht des Kommens Christi zu erkennen. Jetzt, da Christus gekommen ist – wie sollen wir dieses Gebot oder diese Erzählung verstehen? Sollten wir, als neutestamentliche Gläubige, ein Versprechen sehen, an das wir glauben, ein Gebot, dem wir gehorchen, eine Warnung, die wir beachten, eine Wahrheit, die wir verstehen, oder einen Trost, den wir auf uns anwenden?

Die Bibel verantwortungsvoll auslegen

Da Gott der letztendliche Autor der Schrift ist, liefert er die endgültige Auslegung. Das bedeutet, dass die Schrift die Schrift auslegt. Das Westminster Bekenntnis des Glaubens stellt fest: „Die unfehlbare Regel der Auslegung der Schrift ist die Schrift selbst. Wenn deshalb eine Frage über den wahren und vollen Sinn einer Schriftstelle besteht, der nicht vielfältig, sondern nur einer ist, so muss er aus anderen Stellen, die klarer reden, erforscht und verstanden werden“ (1.9). Wir müssen oft andere Stellen der Bibel hinzuziehen, um schwierige Passagen zu erhellen. Die endgültige Auslegung der Schrift findet sich innerhalb der Schrift selbst, nicht in Berufungen auf andere Autoritäten wie Tradition, kirchliche Autorität oder persönliche Meinungen.

Das Westminster Bekenntnis besagt auch, dass „bei rechtem Gebrauch der gewöhnlichen Hilfsmittel“ die Botschaft der Schrift aufgedeckt werden kann (1.7). Die Heilige Schrift soll wie jedes andere Buch unter Verwendung der üblichen Grammatikregeln usw. gelesen werden, statt als Sprungbrett für Spekulationen, allegorische Interpretationen oder Ausflüge in den Bereich der Phantasie zu dienen. Es soll ernsthaft gelesen werden – mit „rechtem Gebrauch der gewöhnlichen Hilfsmittel“. Man kann die Bibel nicht leichtfertig behandeln und sie dann für unverständlich erklären.

Am Ende geht es darum, was die Bibel uns darüber zu sagen hat, wer Gott ist und was er in Christus für uns getan hat. Jeder Text ist bedeutungsvoll, aber seine Anwendung für uns ergibt sich aus unserer Einheit mit Christus. Uns wird nicht zwingend ein wohlhabendes Leben versprochen. Jeremia 29,11 etwa richtet sich mit der Hoffnung auf Segen ursprünglich an die Israeliten im Exil. Doch in Christus, dem wahren Israel, sind alle Verheißungen erfüllt und gelten auch uns (vgl. Eph 1,3–11). Dies ist die Gute Nachricht, und sie entfaltet sich auf jeder Seite der Bibel.