Was ist Hermeneutik?
„Strebe eifrig danach, dich Gott als bewährt zu erweisen, als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen braucht, der das Wort der Wahrheit recht teilt“ (2Tim 2,15). Diese Worte des Apostels Paulus an Timotheus erinnern uns an unsere Verantwortung, das Wort Gottes richtig auszulegen. Gott hat durch sein Wort zu uns gesprochen, und es ist von größter Bedeutung, dass wir verstehen, was er sagt. Deshalb brauchen wir eine fundierte Hermeneutik.
Hermeneutik ist die Wissenschaft und die Kunst der biblischen Auslegung. Sie ist eine Wissenschaft, weil es Regeln für das Verstehen der Schrift gibt – so wie es Regeln für das Autofahren gibt. Wenn man die Regeln nicht kennt, weiß man auch nicht, wie man richtig fährt. Doch über das bloße Kennen der Prinzipien hinaus muss man auch wissen, wann man sie anwendet. Darum kann die Hermeneutik auch zu Recht als eine Kunst bezeichnet werden. Die Schrift ist nicht einheitlich – sie enthält verschiedene literarische Gattungen und wurde über einen langen Zeitraum hinweg von vielen Autoren in unterschiedlichen Sprachen verfasst. Deshalb braucht es Urteilsvermögen, um zu erkennen, welche Auslegungsregeln auf einen bestimmten Text anzuwenden sind, um dessen beabsichtigte Bedeutung zu erfassen. Das ist letztendlich das Ziel der Hermeneutik: zu verstehen, wie man den Text interpretiert, um seine beabsichtigte Bedeutung zu finden.
Das Hauptanliegen bei der Auslegung der Bibel ist also, die vom Autor beabsichtigte Bedeutung zu finden. Eine leider allzu verbreitete Herangehensweise besteht darin, den Text zu lesen und dann zu fragen: „Was bedeutet dieser Text für mich?“ Auch wenn es richtig ist, den Text auf das eigene Leben anzuwenden, sollte dies niemals die erste Frage sein, die wir an die Schrift stellen. Vielmehr sollte die erste Frage lauten: „Was wollte der Autor vermitteln?“ Das Überspringen dieser Frage kann zu Missverständnissen und Fehlanwendungen des Textes führen. Im Folgenden werden einige grundlegende hermeneutische Prinzipien vorgestellt, die helfen, die beabsichtigte Bedeutung eines biblischen Textes zu entdecken.
Die historisch-grammatische Methode
In der Geschichte haben viele bekenntnistreue Christen – darunter auch die der reformierten Tradition – die sogenannte historisch-grammatische Methode verwendet, um die Intention des biblischen Autors zu erkennen. Diese Methode hat ihre Wurzeln in der antiken Schule von Antiochien, wurde in der Reformation stark genutzt und findet auch heute noch breite Anwendung in der Kirche. Sie fokussiert sich auf den historischen Kontext und die grammatischen Formen des Textes.
Was den historischen Kontext betrifft, sollte der Leser Fragen stellen wie: Wer ist der Autor? Wer war die ursprüngliche Zielgruppe? Gibt es kulturelle Anspielungen im Text, die einer weiteren Untersuchung bedürfen? Die grammatische Analyse umfasst das Studium der Bedeutung von Wörtern, das Verständnis syntaktischer Beziehungen und das Erkennen literarischer Strukturen des Textes. Wenn man diese Dinge sorgfältig untersucht, hilft das nicht nur, eine bestimmte Passage zu verstehen, sondern auch, deren Zusammenhang mit dem, was davor oder danach steht, zu erkennen. Welche Bedeutung es hat, den Text in seinem richtigen historischen und grammatischen Zusammenhang zu sehen, könnte man mit einem Satz zusammenfassen: Die drei wichtigsten Wörter bei der Bibelauslegung sind – Kontext, Kontext, Kontext.
Die historisch-grammatische Methode betont, dass die Schrift nach ihrem wörtlichen Sinn auszulegen ist. Dieser Ausdruck ist so lange hilfreich, wie wir verstehen, dass „wörtlich“ nicht bedeutet, die literarische Natur des Textes zu glätten. Die Bibel ist Literatur – sie enthält Redewendungen, Symbolik, Metaphern und andere literarische Mittel. Den Text „wörtlich“ zu verstehen, heißt also, diese Stilmittel richtig zu erkennen und sie entsprechend den Regeln der jeweiligen literarischen Gattung zu deuten. Wenn die Schrift also in poetischen oder prophetischen Texten symbolisch spricht, müssen wir sie symbolisch auslegen – andernfalls verfehlen wir die vom Autor beabsichtigte Bedeutung.
Die Analogie des Glaubens
Da die Bibel nicht nur menschliche, sondern auch einen göttlichen Autor hat, muss auch die Absicht des göttlichen Autors berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich ein grundlegendes hermeneutisches Prinzip: die Analogie des Glaubens oder Regel des Glaubens – nämlich, dass die Schrift sich selbst auslegt. Das Westminster Bekenntnis des Glaubens erklärt:
„Die unfehlbare Regel der Auslegung der Schrift ist die Schrift selbst. Wenn deshalb eine Frage über den wahren und vollen Sinn einer Schriftstelle besteht, der nicht vielfältig, sondern nur einer ist, so muss er aus anderen Stellen, die klarer reden, erforscht und verstanden werden.“ (1.9)
Neben der Feststellung, dass die Schrift nur einen Sinn hat (den oben definierten wörtlichen Sinn), erkennt das Bekenntnis – wie auch 2. Petrus 3,16 – an, dass manche Bibelstellen schwieriger zu verstehen sind als andere. Weil Gott sich nicht selbst widerspricht, wird auch sein Wort keine Widersprüche enthalten. Deshalb ist es notwendig, schwierige Bibelstellen im Licht klarer Stellen auszulegen.
Christus in der ganzen Schrift
Eine weitere hermeneutische Folge der göttlichen Autorschaft der Bibel ist, dass die Absicht des göttlichen Autors niemals im Widerspruch zur Absicht des menschlichen Autors steht – sie kann aber über dessen Bewusstsein hinausgehen. Daher erkennt das Westminster-Bekenntnis an, wenn es vom „wahren und vollen Sinn einer Schriftstelle“ spricht, dass Gottes spätere Offenbarung Licht auf seine frühere Offenbarung wirft.
Das Lukasevangelium bestätigt diese Wahrheit, wenn es die Begegnung des auferstandenen Jesus mit den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus beschreibt: „[Jesus] begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht“ (Lk 24,27). Nur ein paar Verse später, als er den elf verbleibenden Aposteln erschien, öffnete Jesus ihren Verstand, damit sie erkannten, „dass alles erfüllt werden muss, was im Gesetz Moses und in den Propheten und den Psalmen von mir geschrieben steht“ (Lk 24,44). Dieser explizite Verweis auf die dreifache Einteilung der hebräischen Bibel zeigt, dass Jesus beansprucht, dass jeder Teil der alttestamentlichen Schriften von ihm zeugt. Durch verantwortungsbewusste Typologie – besonders durch das Verfolgen von Themen und Mustern, die der göttliche Autor in seinem Wort verwoben hat – können wir erkennen, dass alle Wege der Schrift zu Jesus führen.