Warum wird Christus der Erstgeborene aller Schöpfung genannt?

Artikel von J. Ed Komoszewski und Robert M. Bowman Jr.
10. November 2025 — 9 Min Lesedauer

In Kolosser 1,15 bezeichnet der Apostel Paulus Gottes Sohn als „das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung“ (ELB). Im Laufe der Kirchengeschichte war der Ausdruck „der Erstgeborene aller Schöpfung“ einer der beliebtesten Beweistexte gegen die Göttlichkeit Christi. Aber was bedeutet er?

Konkurrierende Interpretationen

Dass sich der Ausdruck auf Jesus als den buchstäblich erstgeborenen Sohn aus den Milliarden von Geistessöhnen und -töchtern Gottes bezieht, die im Himmel lebten, bevor sie als Sterbliche auf der Erde geboren wurden, ist die offizielle Auslegung der Mormonen. Das wurde in einer Erklärung von 1916 durch die „Erste Präsidentschaft“ und das „Kollegium der Zwölf Apostel“ festgelegt (die beiden höchsten Gremien der Mormonen).

Zeugen Jehovas behaupten, dass „der Erstgeborene aller Schöpfung“ bedeutet, dass Christus „die erste Schöpfung durch Jehova Gott“ war. Sie lehren konkret, dass Christus in seinem vormenschlichen Zustand der Erzengel Michael gewesen sei. Die Zeugen Jehovas haben Kolosser 1,15 seit jeher als einen ihrer wichtigsten Belegtexte gegen die Göttlichkeit Christi hervorgehoben. Ebenso beruft sich Danny Dixon, der – ohne zu den Zeugen Jehovas zu gehören – auch für eine arianische Christologie eintritt, auf Kolosser 1,15–16, jedoch ohne Jesus mit dem Erzengel Michael gleichzusetzen.

Unitarier, welche die Dreieinigkeit Gottes ablehnen, verfolgen einen radikal anderen Ansatz bei der Auslegung von Kolosser 1,15. Wie Kegan Chandler betont, betrachten sie ihn jedoch weiterhin als „einen der stärksten Beweise gegen die Göttlichkeit Christi“. Weil Unitarier nicht glauben, dass Christus vor seinem menschlichen Leben existierte, können sie den „Erstgeborenen aller Schöpfung“ nicht als das zeitlich zuallererst geschaffene Geschöpf ansehen. So interpretiert Chandler den Vers:

„Die Aussage, dass Jesus ‚der Erstgeborene aller Schöpfung‘ (V. 15b) ist, ordnet ihn darüber hinaus eindeutig in den Bereich geschaffener Dinge ein. Die Bezeichnung ‚Erstgeborener‘ bedeutet einfach, dass er innerhalb dieser Gruppe herausragt und unter den übrigen Subjekten dieser Kategorie Vorrang hat.“

Abschließend sei noch erwähnt, wie der Kirchenleiter und Theologe der Oneness-Pfingstbewegung, David Bernard, den Ausdruck „der Erstgeborene aller Schöpfung“ interpretiert. Auch er bestreitet, dass Christus bereits vor seinem menschlichen Leben existierte, und interpretiert den Ausdruck daher so, dass Christus „der Erstgeborene der geistlichen Familie Gottes ist, die aus der gesamten Schöpfung herausgerufen ist“. Er sei „der Erste in Macht, Autorität und Vorrang, ebenso wie der älteste Bruder unter allen Brüdern Vorrang hat“. Diese Interpretation von Kolosser 1,15 durch die Oneness-Bewegung ähnelt trotz ihrer theologischen Unterschiede stark der unitarischen Interpretation.

Kolosser 1,15 im Kontext auslegen

Wörter haben je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen. Wenn wir verstehen wollen, was Paulus mit dem Ausdruck „der Erstgeborene aller Schöpfung“ gemeint hat, müssen wir ihn im Zusammenhang lesen. Das bedeutet, dass wir uns sowohl die Passage vor diesem Ausdruck als auch die Zeilen danach ansehen müssen. Hier ist die Aussage in ihrem Kontext:

„Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens erfüllt werdet in aller Weisheit und geistlichem Verständnis, um des Herrn würdig zu wandeln zu allem Wohlgefallen, fruchtbringend in jedem guten Werk und wachsend durch die Erkenntnis Gottes, gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu allem Ausharren und aller Langmut, mit Freuden dem Vater danksagend, der euch fähig gemacht hat zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht; er hat uns gerettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe. In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn. Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang hat.“ (Kol 1,9–18 ELB)

Dieser Abschnitt betont nachdrücklich die Beziehung Christi als des Sohnes zu Gott dem Vater. Beachte die Erwähnungen von „dem Vater“ (V. 12) und „des Sohnes seiner Liebe“ (V. 13). Zwischen beiden Erwähnungen sagt Paulus, dass der Vater die Christen für das „Erbe der Heiligen im Licht“ befähigt hat. Der Gedanke dabei ist, dass der geliebte Sohn des Vaters der Haupterbe dieses „Erbes“ des Vaters ist. Dennoch werden die in Christus Erlösten gnädig eingeladen, einen „Anteil“ an diesem Erbe zu erhalten. Das andere Schlüsselthema, das unseren Abschnitt einleitet, ist das des Reiches oder der Herrschaft: Wir sind aus der Gewalt (exousia) der Finsternis befreit und in das Reich (basileia) des geliebten Sohnes Gottes versetzt worden (V. 13–14).

In diesem Zusammenhang von Vater, Sohn, Reich und Erbe sollten wir das Wort „Erstgeborener“ (prōtotokos) verstehen. Obwohl die buchstäbliche Bedeutung des Wortes „das erste Kind, das von einem leiblichen Elternteil geboren wurde“, ist, hat das Wort in kultureller Hinsicht die Bedeutung Haupterbe des Vaters. Im alten Israel und im gesamten antiken Mittelmeerraum war der Haupterbe des Vaters üblicherweise der erstgeborene Sohn einer Familie. Dieser erbte den größten oder besten Teil des väterlichen Vermögens (und manchmal sogar alles davon). Im Zusammenhang mit dem vorangegangenen ausdrücklichen Verweis auf ein „Erbe“ und mit der Verwendung der Titel Vater und Sohn ist diese Bedeutung des Erstgeborenen als Haupterbe eindeutig der Sinn des Begriffs „Erstgeborener“. Als geliebter Sohn Gottes, des Vaters, regiert Christus das göttliche Königreich.

Der vermutlich wichtigste Text im Alten Testament, der diese Bezugnahme auf Jesus als den „Erstgeborenen“ prägt, ist Gottes Verheißung an David, dessen Königreich für immer über alle anderen Herrscher zu errichten: „Und ich will ihn zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten der Könige auf Erden“ (Ps 89,28). Der Titel „Erstgeborener“ hat somit eine klare messianische Bedeutung. So gebraucht den Begriff auch Paulus, wenn er sagt, dass der Messias (Christus) über die gesamte Schöpfung herrscht.

Paulus fährt am Ende von Vers 16 fort und sagt, alles sei durch ihn und zu ihm hin (für ihn) geschaffen worden. Dabei hat Paulus – anhand von drei ähnlichen Formulierungen – den Sohn von den geschaffenen Dingen unterschieden: Alle Dinge wurden „in ihm … durch ihn und für ihn“ (en autō … di’ autou kai eis auton) geschaffen. Der letzte Teil dieser Aussage über den Sohn entspricht weitgehend dem, was Paulus in seinen anderen Briefen über Gott sagt:

„Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen.“ (Kol 1,16b ELB)
„Durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge!“ (Röm 11,36 ELB)

Wenn jedoch alle Dinge in, durch und für den Sohn geschaffen wurden, dann gehört der Sohn selbst nicht zu den geschaffenen Dingen. So einfach ist das. Die Aussage von Paulus bedeutet also nicht, dass der Sohn das erste Geschöpf Gottes war, wie die Zeugen Jehovas behaupten. Wie Murray Harris hervorgehoben hat: „Hätte Paulus geglaubt, dass Jesus das erste Geschöpf Gottes gewesen wäre“, so hätte Vers 16 „weiter gelautet: ‚Denn alle anderen Dinge sind in ihm geschaffen worden.‘“

In Vers 17 unterscheidet Paulus erneut den Sohn von allen geschaffenen Dingen, indem er feststellt: „… und er ist vor allem.“ Paulus verwendet das Wort, das hier mit „vor“ (pro) übersetzt wird, an elf weiteren Stellen in seinen Briefen, immer mit der zeitlichen Bedeutung von „vor“ (Röm 16,7; 1Kor 2,7; 4,5; 2Kor 12,2; Gal 1,17; 2,12; 3,23; Eph 1,4; 2Tim 1,9; 4,21; Tit 1,2). Deswegen sind sich praktisch alle Kommentatoren einig, dass „er ist vor allem“ in erster Linie die Vorstellung ausdrückt, dass der Sohn vor allem Geschaffenen da war. Zweitens bedeutet die Formulierung auch, dass er Vorrang vor der gesamten Schöpfung hat, wobei diese zweite Vorstellung aus der ersten folgt oder von ihr impliziert wird. Die Behauptung der Unitarier, Paulus meine nur „Vorrang des Ranges statt Vorrang in der Zeit“, erweist sich nicht als haltbare Interpretation. Es handelt sich also um eine deutliche Aussage über die personale Präexistenz des Sohnes vor der Schöpfung. Diese Erkenntnis ist nicht nur für den Unitarismus ein Problem, sondern auch für die Bewegung nichttrinitarischer Pfingstler, die den Sohn ausschließlich als menschliche Manifestation des Vaters betrachtet.

Unter Gelehrten herrscht heute nahezu Einigkeit darüber, dass Paulus damit meint, dass „der Erstgeborene“ – als Erbe des Vaters – über „die gesamte Schöpfung“ herrscht. Dieser Genitiv, der eine Unterordnung ausdrückt, findet sich auch an anderen Stellen im Neuen Testament, beispielsweise wenn von Christus als von „dem Fürsten über die Könige der Erde“ (Offb 1,5) die Rede ist. Hierbei zählt Christus natürlich nicht selbst zu den irdischen Königen. Ebenso wenn Gott in Offenbarung 15,3 als „König der Völker“ (LUT) bezeichnet wird. Ein gutes Beispiel aus dem Alten Testament ist die Aussage, dass der König von Ägypten Joseph zum „Herrscher über alle seine Besitztümer“ machte (archonta pasēs tēs ktēseōs autou; Ps 104,21). Paulus’ Beschreibung des Sohnes als „der Erstgeborene aller Schöpfung“ entspricht der Aussage im Hebräerbrief, dass der Sohn „zum Erben über alles“ (klēronomon pantōn, Hebr 1,2) gesetzt wurde, wo im griechischen Original ebenfalls derselbe Genitiv verwendet wird.

Aufgrund derartiger Überlegungen übersetzen viele modernere Bibelübersetzungen den zweiten Teil von Kolosser 1,15 als „der Erstgeborene, der über der gesamten Schöpfung steht“ (NGÜ; vgl. NeÜ, HfA), während traditionelle Übersetzungen „der Erstgeborene aller Schöpfung“ (ELB; vgl. MENG, EÜ, ZB) verwenden.