Die ganze Welt und der ganze Mensch

Ein Plädoyer, Mission theologischer und Theologie missionarischer zu gestalten

Artikel von Benjamin Trachsel
24. Oktober 2025 — 8 Min Lesedauer

Ich lebe seit knapp einem Jahr in Südasien. Jeden Tag werde ich dort mit überwältigender Verlorenheit konfrontiert. Um mich herum leben mehr als fünf Millionen Menschen, von denen die meisten das Evangelium noch nie gehört haben – und es auch nie hören werden. Und dabei wohne ich nicht einmal in einer der größten Städte des Landes.

Wenn man so viel offensichtlicher Not und Verlorenheit ausgesetzt ist, ist es leicht, in Panik zu geraten und nur noch die Rettung der Welt im Blick zu haben. Es braucht dringend mehr Missionare, mehr Spenden, mehr Ressourcen. Aus der Perspektive der überwältigenden Verlorenheit ergibt es absolut Sinn, so schnell und so viele Christen wie möglich für die Außenmission zu mobilisieren – selbst wenn sie nicht gut vorbereitet oder qualifiziert sind. Es scheint sinnvoll, uns auf Statistiken und Zahlen über Unerreichte zu fokussieren, denn schließlich steht das Leben unsterblicher Seelen auf dem Spiel. Es erscheint logisch, Methoden und Strategien zu entwickeln, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu erreichen. Aus dieser Perspektive der überwältigenden Verlorenheit ergibt all das Sinn, und tatsächlich fordert Jesus seine Jünger auch auf:

„Geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker.“ (Mt 28,19a)

Aber es gibt noch eine zweite Perspektive. Wenn es nur dabei bleibt und der Fokus ausschließlich darauf liegt, die ganze Welt zu erreichen, übersieht man etwas Wichtiges: Gott geht es nicht nur darum, die ganze Welt zu retten, sondern den ganzen Menschen. Es geht nicht allein darum, Menschen vor der Hölle zu bewahren, sondern darum, sie möglichst schön und heilig zu machen für ihren Bräutigam:

„… damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.“ (2Tim 3,17)

Nicht nur die ganze Welt, sondern den ganzen Menschen

Der brillante presbyterianische Theologe J. Gresham Machen hat es im frühen 20. Jahrhundert in seinem Essay Christianity and Culture sehr treffend formuliert:

„Das Christentum muss nicht nur alle Nationen durchdringen, sondern auch das gesamte menschliche Denken. Der Christ kann daher keiner ernsthaften menschlichen Bestrebung gleichgültig gegenüberstehen. Alles muss in irgendeiner Weise mit dem Evangelium in Verbindung gebracht werden. Es muss entweder studiert werden, um es als falsch zu entlarven, oder um es für das Reich Gottes nützlich zu machen. … Die Kirche muss nicht nur danach trachten, jeden Menschen für Christus zu erobern, sondern auch den ganzen Menschen.“[1]

Damit macht er deutlich, dass wir als Christen sowohl ein Anliegen dafür haben sollten, dass möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt gerettet werden, als auch dafür, dass jeder einzelne Gerettete „ganz“ gerettet, d.h. geheiligt wird. Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, dass Menschen Christen werden. Vielmehr ist das Ziel, dass sie als Christen immer „christlicher“ werden und ihr ganzes Denken vom Evangelium durchdrungen wird. Das Ziel sind nicht nur möglichst viele Bekehrte, sondern möglichst heilige, deren Denken und Wesen immer mehr von Gottes Wort verändert und geprägt werden. So schreibt Machen weiter:

„Das Reich Gottes soll nicht nur in die Breite wachsen, sondern auch in die Tiefe.“[2]

Gresham Machen, der am Princeton Theological Seminary Neues Testament lehrte, war ein entschiedener Verfechter für die Wahrheit des Evangeliums. Er erlebte persönlich, was passiert, wenn Menschen aufs Missionsfeld geschickt werden, die theologisch auf wackeligem Boden stehen und das Evangelium verwässern. Um das zu ändern, gründete er 1933 ein neues Missionswerk. Er verstand nicht nur, dass Tiefe ohne Mission ungehorsam ist, sondern auch, wie gefährlich Mission ohne Tiefe ist.

Ein Herz für die Nationen ohne ein Herz für den Einzelnen ist ungesund, und das Gegenteil ist ebenso ungesund. Unser Ziel ist es, die ganze Welt und den ganzen Menschen für Christus zu gewinnen. Wir schauen auf die Unerreichten – und gleichzeitig auf den einzelnen Gläubigen in seiner Nachfolge.

Die Ortsgemeinde als Zentrum für Mission und Jüngerschaft

In seiner Weisheit hat Gott uns die Antwort gegeben, wie diese beiden Seiten zusammenkommen können: in der Ortsgemeinde. Durch sie werden Missionare ausgesandt (in die ganze Welt), und in ihr werden Menschen in Jüngerschaft und Heiligung begleitet (der ganze Mensch). Das Ziel des Missionars ist also letztlich die Gründung neuer Ortsgemeinden – und vor allem die Zurüstung einheimischer Leiter, die langfristig vor Ort bleiben, wiederum andere lehren (vgl. 2Tim 2,2) und damit sowohl die ganze Welt als auch den ganzen Menschen erreichen. Die Ortsgemeinde ist somit das Ziel und zugleich das Mittel für Mission.

Missionare mit theologischem Fundament

Als ich vor einigen Jahren einem anderen Missionar erzählte, dass ich als Vorbereitung für den Dienst im Ausland Theologie studieren wollte, schaute er mich verwundert an. Er war keine Ausnahme. Oft wird in der Missionsvorbereitung mehr Wert darauf gelegt, dass man einen beruflich nützlichen Abschluss hat, als auf eine fundierte theologische Vorbereitung. Basiswissen über die Bibel wird als ausreichend betrachtet.

Das war jedoch nicht immer so. Die meisten bekannten Missionare aus der Kirchengeschichte waren gleichzeitig solide Theologen: David Brainerd studierte Theologie in Yale, John Paton an der University of Glasgow, Jim Elliot am Wheaton College, die deutschen Missionare Bartholomäus Ziegenbalg und Johann Ludwig Krapf in Halle bzw. Tübingen. Auch die frühen Jahre des Princeton Seminary zeigen das. In den ersten Jahren gingen mehr als ein Drittel der Absolventen auf das Missionsfeld! Damals war es offensichtlich noch kein Widerspruch, Theologie zu studieren und in die Mission zu gehen.

Das heißt natürlich nicht, dass jeder Missionar einen Masterabschluss braucht. Aber es bedeutet, dass jeder Missionar das Wort Gottes und die Lehre über Gott (Theologie) gut kennen sollte. Lasst uns wieder dahin zurückkehren, Theologie wertzuschätzen, zu studieren und in unserem Dienst anzuwenden.

Theologen und Pastoren mit Herz für die Welt

Theologen und Pastoren leisten eine unglaublich wichtige Arbeit. Sie studieren Gottes Wort, investieren in ihre Gemeinden – und haben oft wenig Zeit, über Mission nachzudenken. Dennoch tragen sie eine Verantwortung dafür, Menschen vorzubereiten, auszusenden, zu begleiten und eine Gemeindekultur zu prägen, die Mission fördert.

Ich war zutiefst ermutigt, als ich vor einiger Zeit zwei deutsche Gemeinden besuchen durfte, die selbst erst vor Kurzem gegründet worden waren und dennoch von Anfang an einen festen Prozentsatz ihres Budgets für Außenmission reservierten.

Liebe Pastoren und Theologen, studiert Missiologie und Missionsstrategien. Befasst euch mit den aktuellen Themen, die Missionare bewegen. Mobilisiert Gemeindeglieder für Gemeindegründungen unter Unerreichten. Steht euren Missionaren in Entscheidungen und Herausforderungen bei.

Euch fällt es wahrscheinlich natürlicher, den einzelnen Menschen im Blick zu haben. Deshalb bemüht euch bewusst auch, die ganze Welt nicht aus den Augen zu verlieren. Entwickelt Pläne, wie Mission und Gottes Herz für die Nationen in eure Gemeinde einfließen können – in Predigten, Gebeten, Finanzen und im Aussenden von Arbeitern.

Von der Theorie zur Transformation

Wie wäre es, wenn wir aufhörten, Mission und Theologie als zwei ganz unterschiedliche Domänen zu verstehen? Wenn wir Mission mit Tiefe anstreben und Tiefe mit Mission? Wenn Missionare und Theologen einander zuhören, voneinander lernen und zusammenarbeiten – um die ganze Welt und den ganzen Menschen mit dem Evangelium zu erreichen?

Wie würde sich dieses Umdenken praktisch auswirken?

  • Weil die Verlorenheit der Welt real ist, senden Gemeinden Arbeiter aus, um die Nationen zu erreichen. Als Christen haben wir ein Anliegen für die Welt und insbesondere für die Unerreichten.
  • Weil die Heiligung des Einzelnen zählt, leiten Gemeinden ihre Mitglieder an, aufeinander Acht zu haben und Jüngerschaft zu leben. Jeder Christ (und Missionar) hat ein Anliegen für die Heiligkeit des Einzelnen.
  • Weil Mission und Theologie zusammengehören, lernen wir, theologisch korrekt über Mission zu denken – und stellen gleichzeitig sicher, dass unsere Theologie missional (nach außen gerichtet) ist.
  • Weil Theologie und Mission einander ergänzen, streben Missionare Einheit in Tiefe und Klarheit an. Sie suchen sich ein Team, das die eigenen theologischen und missiologischen Überzeugungen teilt, anstatt sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedenzugeben.
  • Als Christen kennen wir unsere persönliche Tendenz. Manche von uns haben Weltmission kaum im Blick, sondern versinken in ihrer Gemeindeblase oder ihrer theologischen Bibliothek. Andere reden und denken über nichts anderes nach als über Mission. Beides ist ungesund, und so gilt es, die eignen Neigung zu kennen und sich bewusst in die andere Richtung zu lehnen.

Aufbruch zu einer neuen Missionskultur

In den letzten Jahren hat sich viel getan: Gemeinden, Pastoren und Theologen haben sich verstärkt mit Mission beschäftigt und gehandelt. Gleichzeitig erlebe ich, dass unter vielen Missionaren ein neuer Hunger entsteht, von der Bibel her über Mission zu denken und Theologie wertzuschätzen. Auch wenn es noch oft daran scheitert, gemeinsam zu gehen und voneinander zu lernen – und noch zu oft übereinander statt miteinander geredet wird –, bin ich Gott dankbar für die Fortschritte. Wir sind auf einem Weg: die Nationen zu erreichen, theologisch fundiert zu arbeiten und dabei die Heiligung und Transformation des Einzelnen im Blick zu behalten.

Gott will nicht nur die ganze Welt retten, sondern den ganzen Menschen!

„Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker …“ (Mt 28,19a)
„…damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.“ (2Tim 3,17)

1 J. Gresham Machen, The Princeton Theological Review, Volume XI, Christianity and Culture, 1913, S. 6.

2 J. Gresham Machen, Christianity and Culture, S. 6.

Benjamin Trachsel liebt Jesus, seine Familie und Kaffee. Nachdem er und seine Frau in verschiedenen Gegenden der Welt gelebt haben, sind sie zurzeit Teil eines Gemeindegründung-Teams in Südasien, mit dem Fokus auf unerreichte Volksgruppen.