Timothy Keller über das Leben als Christ

Rezension von Velimir Milenković
23. Oktober 2025 — 8 Min Lesedauer

Wer Timothy Keller (1950–2023) als Pastor und Autor schätzt, kann auf eine schier unerschöpfliche Materialquelle zurückgreifen: Tausende Predigten, mehr als 30 Bücher, unzählige Artikel und Interviews. Doch wo soll man beginnen, wenn man Kellers Theologie ergründen möchte? Wie lässt sich dieser Berg an biblischen Auslegungen erklimmen, um einen umfassenden Überblick über Kellers Denken und Glauben zu gewinnen? Matt Smethurst ist genau dies mit seinem Buch Timothy Keller über das Leben als Christ: Die verändernde Kraft des Evangeliums gelungen. Smethurst, selbst Pastor und Autor, führt den Leser durch die zentralen Aspekte des christlichen Lebens, die Tim Keller wie kein anderer in seiner Generation nicht nur gepredigt und gelehrt, sondern – wichtiger noch – auch selbst verkörpert hat.

Große Themen in konzentrierter Form

Das Buch ist keine Biographie – Smethurst nimmt nur selten Bezug auf Kellers Leben und Erfahrungen. Es ist vielmehr ein Destillat von Kellers Theologie zu den grundlegenden Themen des Glaubenslebens. Dabei lässt Smethurst Keller häufig selbst zu Wort kommen; der Band ist durchzogen von Zitaten aus Predigten, Büchern, Artikeln und Interviews aus fast fünfzig Jahren. Smethurst arbeitet dabei äußerst gewissenhaft und belegt sämtliche Zitate im umfangreichen Endnoten-Teil.

Die beeindruckende Vielfalt an Themen, zu denen Tim Keller fesselnd gepredigt und wegweisende Bücher veröffentlicht hat, erfordert notwendigerweise eine Auswahl. In seinem Werk konzentriert sich Smethurst auf die grundlegenden Aspekte des alltäglichen christlichen Lebens. Die acht Themen des Buches umfassen die Zentralität von Jesus in der Bibel, Sünde, Gnade, Freundschaft, Arbeit, gerechtes Leben, Gebet und Leid. Smethurst widmet jedem dieser acht Themen ein eigenes Kapitel von durchschnittlich etwa 20 Seiten Länge. Im Vorwort vergleicht er sein Projekt mit einem „Best-of“-Album, das die größten Hits einer Band auf einer einzigen Scheibe zusammenbringt. Und genau so liest sich dieser Band: Wer mit Kellers Predigten vertraut ist, wird beim Lesen sofort die charakteristischen Themen, Argumente, Beispiele und Illustrationen wiedererkennen, die Keller in seinem unverkennbar gesprächsnahen Stil vorgetragen hat.

Dankbarer Blick ohne rosarote Brille

Matt Smethurst ist weder „Fanboy“ noch Kritiker Kellers, und das ist gut so. Er schafft es mühelos, die geistlichen Schätze aus Kellers Werk herauszustellen, ohne dabei den Menschen Tim Keller zu idealisieren. Smethurst ist wohltuend objektiv und trotzdem voller Dankbarkeit und Wertschätzung Keller gegenüber. Er macht schon im Vorwort deutlich, dass er nicht in allen ekklesiologischen Punkten mit dem New Yorker Pastor übereinstimmt. Schließlich ist Smethurst Baptist, im Unterschied zu Keller, der Presbyterianer war. Kontrovers diskutierte Aspekte von Kellers Denken werden jedoch nur in einem Fall verhandelt, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.

Timothy Keller über das Leben als Christ liest sich wie ein persönliches Gespräch, in dem Keller die Kerngedanken seiner Bücher prägnant zusammenfasst und die wesentlichen Aspekte verständlich erläutert. Die US-amerikanische Sprecherin und Autorin Joni Eareckson Tada schreibt in ihrer Empfehlung zum Buch treffend:

„Stell dir vor, du sitzt mit Tim Keller in seinem Wohnzimmer und stellst ihm all deine Fragen zum christlichen Leben. Genau diese Tür hat mein Freund Matt Smethurst mit diesem Buch für dich geöffnet. Beim Durchblättern der Seiten wirst du die tiefgründige Weisheit dieses geschätzten Pastors entdecken – Einsichten, die dir helfen, deinen Glauben in Familie, Beruf und Gemeinde lebendig zu praktizieren.“

Im Folgenden betrachte ich beispielhaft einige ausgewählte Kapitel:

Die ganze Bibel erzählt von Jesus

Das erste Kapitel „Ein einziger Held: Jesus Christus in der ganzen Bibel“ führt den Leser ein in eine zentrale Überzeugung Kellers: Jesus Christus ist Thema, Ziel und Erfüllung der gesamten Bibel. Von Ed Clowney lernte Keller, wie man Jesus aus der ganzen Schrift predigt. In nahezu jeder seiner Predigten zeigte Keller, wie der jeweilige Bibeltext seine Erfüllung in Jesus Christus findet. Jesus ist der bessere Adam, der Gott vollkommen gehorcht; er ist die „Arche“, die uns Zuflucht vor dem Gericht bietet; Jesus ist der bessere Hohepriester, der unsere Sünden sühnt; er ist der wahre David, der den übermächtigen Feind bezwingt, um sein Volk zu retten. Jesus ist nicht nur das eigentliche Thema der Bibel, sondern erfüllt auch alle ihre Verheißungen. Letztlich geht es nicht um uns, sondern um ihn. Der christozentrische Auslegungsansatz ist sicherlich das markanteste Merkmal von Kellers Predigten.

Götzendienst verstehen

Im zweiten Kapitel „Sünde auf den Grund gehen: Die Geschichte einer fehlgeleiteten Liebe“ untersucht Smethurst einen kontrovers diskutierten Aspekt aus Kellers Lehre: sein Verständnis von Sünde als Götzendienst. Der Autor gibt zu, dass er selbst dieser Idee anfangs skeptisch gegenüberstand. Ist Sünde tatsächlich eine „Frage der Anbetung“? Keller verharmloste Sünde keineswegs als bloße „Zielverfehlung“ – obwohl sie auch das ist, aber eben mehr als nur das. Kritiker warfen Keller jedoch vor, Sünde so zu erklären, dass sie für hippe New Yorker annehmbar klang. Kellers Kerngedanke war einfach: Menschen dienen dem, was sie anbeten. Wer statt Gott Götzen wie Geld, Status oder Sex verehrt, wird alles tun, um Vermögen und Ansehen zu mehren – notfalls auch rücksichtslos auf Kosten anderer. Während Kritiker Keller vorwarfen, er habe Sünde „intellektualisiert“, zeigt Smethurst auf, dass Keller damit in der Tradition von Augustinus und Luther steht, die Sünde als „ungeordnete Liebe“ bzw. als „Götzendienst“ betrachteten. Smethurst berichtet, wie seine anfängliche Skepsis gegenüber diesem Ansatz durch Kellers Theologie einem tieferen und „dreidimensionalen“ Verständnis von Sünde gewichen ist.

Geheimnis eines authentischen Glaubenslebens

Das siebte Kapitel „Dem Vater im Himmel antworten: Wie Gebet Intimität mit Gott ermöglicht“ widmet sich dem Gebet. Keller bezeichnet das Gebet als das einzige Kennzeichen, das den geistlichen Zustand eines Menschen eindeutig offenbart. Moralisches Leben, Bibelkenntnis, Gemeindedienst – all das können Außenstehende beobachten und daher kann es potenziell der Heuchelei dienen. Doch das innerliche Gebet, die persönliche, vertraute Begegnung mit Gott, bildet hier eine Ausnahme. Jeder Christ, so Keller, sollte sein Gebetsleben kritisch reflektieren, um ein klares Bild der eigenen geistlichen Ausrichtung zu gewinnen. Keller verbarg seinen eigenen Kampf um ein tiefes Gebetsleben nie. Obwohl Gebet das herrlichste Privileg eines Gotteskindes ist, bleibt es – vielleicht gerade deswegen – eine Herausforderung. Für Tim Keller machte das allabendliche Gebet mit seiner Frau Kathy den entscheidenden Unterschied. Das Ehepaar Keller war überzeugt: Ohne Gebet hätten sie weder ihren Dienst noch ihre Ehe bewältigen können. Doch Keller erhob nie mahnend den Zeigefinger: „Ihr müsst mehr beten!“ Stattdessen verdeutlichte er, was es bedeutet, dass wir in Christus als „Söhne Gottes“ angenommen sind – dass wir geliebte Kinder Gottes sind und unserem himmlischen Vater im Gebet persönlich begegnen dürfen. Wenn man Keller über Gebet sprechen hört, möchte man beten.

Wenn Leid zur Gnade wird

Im letzten Kapitel „Eine harte Gnade: Wie Leid uns zum Herzen Gottes treibt“ kommen wir schließlich zur großartigsten „Predigt“, die Tim Keller jemals gehalten hat: seinen letzten drei Lebensjahren, in denen er an Bauchspeicheldrüsenkrebs litt und der Krankheit im Mai 2023 erlag. In dieser Zeit kämpfte Tim Keller einen Kampf – doch dieser richtete sich nicht gegen die Krankheit, sondern gegen die Sünde, wie er selbst betonte. Sünde hindert uns daran, uns trotz Leid in Gott geborgen zu wissen. Sie lenkt unser Herz auf den eigenen Willen und stachelt uns gegen Gottes guten Willen auf. Leiderfahrungen sind nichts „Fremdes“ (vgl. 1Petr 4,12), sondern gehören in einer gefallenen Welt zum Leben. Keller erkannte: Keine Kultur und Generation hat Menschen so schlecht auf den Umgang mit Leid vorbereitet wie unsere heutige. Deshalb leuchten Christen wie Tim Keller, die trotz Krankheit Frieden erleben, heute so hell. Keller lehrte, dass Leid uns entweder in Gottes Arme treibt – oder von ihm weg. Nicht nur in seiner Theologie, sondern auch in seinen letzten Lebensjahren zeigte er, dass Leid ein schmerzvolles Geschenk Gottes ist, das uns – wenn wir es im Vertrauen annehmen – verändert und Gott tiefer erkennen lässt.

Ein Buch zum Wiederlesen

Timothy Keller über das Leben als Christ hat mich bewegt, im Glauben gestärkt und meinen Blick auf Jesus neu geschärft. Wie bereits erwähnt, ist es keine Biographie – es kann jedoch als ideale Ergänzung zu Collin Hansens Timothy Keller: His Spiritual and Intellectual Formation (Zondervan, 2023) gelesen werden. Gemeinsam vermitteln diese beiden Werke ein umfassendes Bild von Tim Keller als Person und seiner Theologie, was uns ein tieferes Verständnis seines geistlichen Erbes ermöglicht.

Ich will mich Paul David Tripps Empfehlung uneingeschränkt anschließen: „Read and reread this book!“

Buch

Matt Smethurst, Timothy Keller über das Leben als Christ: Die verändernde Kraft des Evangeliums, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2025, 22,90 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.

Velimir Milenković ist Mitgründer und -leiter des Apologetik-Werkes Tenet. Er lebt mit seiner Frau und ihren drei jugendlichen Kindern in München und dient als Ältester in einer freien christlichen Gemeinde. Velimir liebt Bücher und besitzt den Schwarzen Gürtel in Tsundoku – der Kunst, mehr Bücher zu kaufen, als man lesen kann.