Inwiefern befolgen Christen das Alte Testament und warum?

Artikel von Mike McGregor
10. Oktober 2025 — 9 Min Lesedauer

2008 versuchte ein Mann ein ganzes Jahr lang, sämtliche Gebote des Alten Testaments zu befolgen. Er bezeichnete sich als Jude (ähnlich wie ein China-Restaurant in Deutschland authentisch chinesisch ist) und versuchte, die Speisegesetze, die Reinheitsgesetze und natürlich die Zehn Gebote zu befolgen. Er ging sogar so weit, einen Ehebrecher mit einer Handvoll Kieselsteinen zu steinigen. („Die Bibel hat die Größe der Steine nicht genau festgelegt“, sagte er.[1])

Als Christen glauben wir, dass die Bibel Autorität hat, aber bedeutet das, wir sollten dem Beispiel dieses Mannes folgen?

Die Bibel ist grundsätzlich normativ

Der Theologe John Frame erklärt, dass die ganze Bibel grundsätzlich normativ ist, was jedoch nicht bedeutet, dass alle Schrift zu jeder Zeit wortwörtlich normativ ist.[2] So sind etwa Gesetze für Tieropfer in einem grundsätzlichen Sinne normativ, weil sie uns lehren, dass für unsere Sünden Sühne erforderlich ist und wir innere und äußere Buße zeigen sollten. Tieropfer sind jedoch heute nicht länger wortwörtlich normativ, weil wir nicht mehr verpflichtet sind, sie darzubringen. Die entscheidende Frage ist: Was führt dazu, dass bestimmte alttestamentliche Gesetze für Christen heute nicht mehr wortwörtlich normativ sind?

Der Hauptgrund dafür ist, dass Christus das Gesetz durch sein Leben und seinen Tod an unserer Stelle erfüllt hat. Außerdem hat Gott Veränderungen in der Heilsgeschichte herbeigeführt, die unsere Beziehung zu bestimmten Gesetzen verändern.

1. Die Erfüllung des Gesetzes durch Christus

In Matthäus 5,17 sagt Jesus: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen!“

Diese Erfüllung hat zwei verschiedene Bedeutungen: Zum einen bedeutet sie, dass Christus alle gerechten Anforderungen des Gesetzes erfüllt hat, damit er uns sein perfektes Leben zurechnen und uns vor dem Vater mit seiner vollkommenen Gerechtigkeit einkleiden konnte (vgl. 2Kor 5,21). Zum anderen bedeutet diese Erfüllung, dass Christus bestimmte Gesetze so erfüllt hat, dass sie für Christen nach seinem Tod und seiner Auferstehung hinfällig wurden.

Die offensichtlichste Kategorie des alttestamentlichen Gesetzes, die für uns hinfällig ist, ist das Opfersystem. Als Jesus verkündete: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten!“ (Joh 2,19), behauptete er, den Tempel zu ersetzen – den Ort, an dem Priester Opfer für Israel darbrachten. Der Verfasser des Hebräerbriefes erklärt, wie Jesus den Tempel als Hohenpriester und Opfer ersetzte:

„Jeder Priester steht da und verrichtet täglich den Gottesdienst und bringt oftmals dieselben Opfer dar, die doch niemals Sünden hinwegnehmen können; Er aber hat sich, nachdem er ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht hat, das für immer gilt, zur Rechten Gottes gesetzt“ (Hebr 10,11–12).

Christus hat das Opfersystem abgeschafft, indem er zum Opferlamm Gottes wurde, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.

Dass Jesus bestimmte alttestamentliche Gebote aufgehoben hat, ist jedoch nicht immer eindeutig. In Apostelgeschichte 10 erscheint Gott beispielsweise Petrus und erklärt alle Speisen für rein, wodurch er die alttestamentlichen Speisevorschriften aufhebt. Das mag willkürlich erscheinen, doch eine genauere Betrachtung zeigt, dass auch die Speisegesetze ihre endgültige Erfüllung in Christus finden. Manche Gesetze wurden von Gott aus historischen Gründen erlassen, darunter auch die Speisegesetze. Gott gebot diese Vorschriften seinem heiligen Volk, um es von den umliegenden heidnischen Völkern zu unterscheiden.[3] Im Neuen Testament unterscheidet die Christen hingegen der Glaube an Christus von anderen Menschen. Er verhilft ihnen schließlich zur Reinheit, wodurch die Speisegesetze erfüllt und hinfällig sind. Darüber hinaus unterscheiden sich Christen sogar noch deutlicher durch die Taufe, mit der sie ihren Glauben an Christus bezeugen.

2. Veränderungen in der Heilsgeschichte

Obwohl jede Veränderung des alttestamentlichen Gesetzes letztlich unter die Erfüllung in Christus fällt, gibt es mindestens einen weiteren Grund, warum bestimmte alttestamentliche Gesetze für uns Christen heute nicht mehr wortwörtlich umzusetzen sind. In 2. Mose 21,37 lesen wir: „Wenn jemand ein Rind stiehlt oder ein Schaf und es schlachtet oder verkauft, so soll er fünf Rinder für eines erstatten und vier Schafe für eines.“ Dieses Gebot ist grundsätzlich normativ, weil es uns lehrt, dass wir ein begangenes Unrecht wiedergutmachen sollen. Es lehrt auch eindeutig, dass Gott Diebstahl hasst (siehe das 8. Gebot). Aber dieses Gebot ist für uns heute nicht mehr wortwörtlich normativ, da die meisten von uns nicht in einer Agrargesellschaft leben, und – was noch wichtiger ist – unsere Gesellschaft keine Theokratie wie die Israels ist. Wir müssen uns auf die jeweiligen staatlichen Autoritäten verlassen, die Gott eingesetzt hat, um den Frieden zu halten und Gesetzesbrecher zu bestrafen (vgl. Röm 13,1–7).

Viele spezifische Gebote wie jenes in 2. Mose 21,37 finden sich im gesamten zweiten und dritten Mosebuch. Sie dienen als praktische Fallbeispiele für die Zehn Gebote, damit die Führer Israels wissen, wie sie die Zehn Gebote gerecht anwenden können. Diese spezifischen Fallbeispiele sind nach wie vor grundsätzlich normativ für uns, weil sie uns Gottes Gerechtigkeit zeigen und seinen Charakter offenbaren. Sie sind für Christen heute aber nicht wortwörtlich normativ, da Gott durch die Abschaffung der Theokratie eine bedeutende Veränderung in der Heilsgeschichte herbeigeführt hat.

Im Gegensatz zum alttestamentlichen Israel, das als Nation unter einem irdischen König lebte, sind wir Bürger des himmlischen Reiches Christi. Eines Tages wird Jesus seinen Richterstuhl einnehmen und eine vollkommene, ewige Gerechtigkeit aufrichten. In der Zwischenzeit hat Christus jedoch die staatliche Autorität und nicht die Kirche damit beauftragt, auf Erden für Gerechtigkeit zu sorgen. Daher sind die Abschaffung der Theokratie und die Errichtung des Reiches Christi nicht nur bedeutende Veränderungen in der Heilsgeschichte. Sie sind auch ein Teil davon, dass Christus das ganze Gesetz als vollkommener Prophet, Priester und König erfüllt und somit die Beziehung seines Volkes zum Gesetz verändert hat.

Was ist mit dem Wange-Hinhalten?

Die obigen Erklärungen könnten bei manchen Lesern Fragen zu Passagen wie Matthäus 5,38–40 hervorrufen, wo Jesus verkündet: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar.“

John Murray argumentiert, dass Jesu Worte nicht so interpretiert werden sollten, dass sie in allen Fällen von Ungerechtigkeit gegenüber uns selbst oder unserem Eigentum passiven Widerstand erfordern. Wie bei einigen anderen Lehren Jesu muss auch hier eine gewisse rhetorische Übertreibung berücksichtigt werden. Stattdessen betont er:

„Wenn wir verschiedenen Arten von Unrecht ausgesetzt sind, wenn unsere Rechte verletzt und unsere Freiheiten eingeschränkt werden, lassen wir uns nicht von rachsüchtigen Ressentiments leiten und unser Verhalten davon bestimmen.“[4]

Positiv ausgedrückt fügt Murray hinzu, dass Jesus von uns erwartet, „großzügig und nachsichtig zu sein, selbst gegenüber denen, die uns Unrecht zufügen“.[5] Anstatt dieses Gesetz zu ändern, das Gerechtigkeit für Übeltäter fordert, warnt Jesus vor dessen Missbrauch, indem er alle Christen auffordert, selbst denen gegenüber, die sie verfolgen, Nachsicht und Barmherzigkeit zu üben.

Ein noch eindeutigeres Beispiel, das uns zeigt, wie Jesus ein alttestamentliches Gesetz nicht abschafft, sondern korrigiert, findet sich in Matthäus 5,43–44, wo Jesus sagt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen.“

Das Gebot, unseren Nächsten zu lieben, stammt aus 3. Mose 19,18, aber das Gebot, unseren Feind zu hassen, findet sich nicht im Alten Testament. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass Jesus eine damals beliebte Lehre zitierte (und korrigierte), die das Alte Testament falsch darstellte.

Die Frage nach dem Warum

Schließlich müssen wir nicht nur verstehen, was wir befolgen, sondern auch, warum wir es befolgen, indem wir erkennen, wie Christus unsere Beziehung zum Gesetz grundlegend prägt.

Paulus schreibt in Römer 6,14, dass Christen nicht mehr länger „unter dem Gesetz“ stehen. Wieder hilft uns hier Murray, indem er argumentiert, dass Paulus hier von Menschen spricht, die nur das Gesetz haben.[6] Ohne Christus stehen wir unter dem Gesetz (d.h. unter seiner Autorität) und sind für alle Konsequenzen verantwortlich, die sich aus unserem Ungehorsam ergeben (vgl. Jak 2,10), aber in Christus stehen wir unter der Gnade. Als Christen unter der Gnade sind wir nicht gezwungen, ein Leben lang unter der erdrückenden Last der vollkommenen Erfüllung des Gesetzes zu leiden. Stattdessen werden wir durch Jesu Worte der Liebe dazu aufgefordert, auf dem Weg seiner Gebote zu gehen, weil er unsere Herzen dazu befreit hat (vgl. Ps 119,32).

Selbst die Gläubigen des Alten Testaments verstanden, dass Gehorsam gegenüber dem Gesetz durch Gnade erreicht wird, oder zumindest hätten sie das verstehen müssen (vgl. Röm 9,30–32). Aber auf dieser Seite des Erlösungswerkes Christi haben wir eine klarere Vorstellung davon, warum unsere Beziehung zum Gesetz unter der Gnade steht. Mose mag heiliger gewesen sein als wir, aber wir haben eine klarere Sicht auf Christus als er.

Die Bibel ist grundsätzlich normativ und erleuchtet den Weg zu Christus (vgl. Lk 24,27), aber nicht alles ist für Christen heute wortwörtlich normativ. Alle Schrift – auch das Alte Testament – ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit (vgl. 2Tim 3,16). Aber es ist wichtig zu wissen, wann und wie es anzuwenden ist.


1 Vgl. „My Biblical Year“, Relevant Magazine, 12.05.2008, online unter: https://relevantmagazine.com/faith/1454-my-biblical-year/ (Stand: 29.09.2025).

2 Vgl. John M. Frame, The Doctrine of the Christian Life, Phillipsburg: P & R Publishing, 2008, S. 201.

3 Vgl. R.C. Sproul, Acts, Wheaton: Crossway, 2010, S. 183.

4 John Murray, Principles of Conduct: Aspects of Biblical Ethics, Grand Rapids: Eerdmans, 1957, S. 175.

5 John Murray, Principles of Conduct, S. 175.

6 Vgl. John Murray, Principles of Conduct, S. 185–186.

Mike McGregor ist stellvertretender Pastor und Leiter der Studentenarbeit an der First Baptist Church in Durham, North Carolina (USA).