
Faszination frühe Christen
Christen, die Gottes Wort ernst nehmen, entdecken zunehmend neu, dass auch die frühen christlichen Zeugen der nachbiblischen Zeit uns etwas zu sagen haben. Sie sind nicht dem Wort Gottes gleichzuordnen. Sie sind fehlbar. Immerhin waren sie verglichen mit uns aber ein ganzes Stück näher dran an den Taten Jesu Christi und seiner Apostel auf der Erde.
Der Theologe und Sprachwissenschaftler Roland Werner ist als Mitgründer des Christus-Treff Marburg, als Vorsitzender der Lausanner Bewegung in Deutschland und in manch anderer Funktion bekannt. Er hat sich daran gewagt, die Faszination frühe Christen zu erklären, und mit diesem Buch eine Zusammenschau von biblischem Zeugnis und anderen frühen christlichen und außerchristlichen Quellen versucht.
Wenn Geschichte lebendig wird
Im Kapitel I („Fundamente“) zeigt er einleitend das „Anderssein“ der jungen Gemeinde im Kontrast zu ihrer Umwelt, um anschließend die verfügbaren Quellen zu erläutern. Werner geht dabei auf Quellen bis ungefähr zur konstantinischen Wende (312 n. Chr.) ein. Das letzte vorgestellte Werk ist hier die Kirchengeschichte von Eusebius, die aber vor allem als Quelle für die ersten 300 Jahre der nachchristlichen Zeit genutzt wird. Zu Wort kommen auch außerchristliche Quellen, die oft christenkritisch sind, wie etwa der fiktive Caecilius in der Streitschrift des Marcus Minucius Felix, aber auch relativ objektiv über die christliche Praxis berichten können, wie z.B. Plinius, Gouverneur von Bithynia, in seinem Brief an Cäsar Trajan.
Was die frühe Gemeinde unwiderstehlich machte
Im Hauptkapitel II „Faszination“ fasst Werner unter acht griechischen Begriffen zusammen, welche Merkmale die frühe Gemeinde attraktiv machten: Euangelion, Koinonia (Gemeinschaft), Metanoia (Umkehr), Didache (Lehre), Apologia, Martyria (Zeugnis), Diakonia, Basileia (Reich Gottes).
Jeweils schildert der Autor aus den benutzen Quellen besondere Charakteristika der frühen Christen, um zu jedem Merkmal einen besonderen „Fokus“ hinzuzufügen – meist eine oder mehrere Personen, die dieses Merkmal repräsentierten. So werden unter „Martyria“ „Perpetua, Felicitas und die ganz andere Welt der Märtyrer“ geschildert. Nach jedem „Fokus“ wird außerdem eine praktische Anwendung für heutige Christen versucht, etwa: „Was wir heute von Perpetua und Felicitas und ihren Gefährten lernen können.“
Wie die Geschichte die Gegenwart prägt
Kapitel III „Folgerungen“ unternimmt dann den systematischeren Versuch, Lehren für die gegenwärtige Christenheit abzuleiten – der Abwechslung halber nun unter acht lateinischen Überschriften: Veritas (Wahrheit), Communitas (Gemeinschaft), Identitas (Identität), Caritas (Liebe), Sanctitas (Heiligkeit), Auctoritas (Vollmacht), Testimonium (Zeugnis), Aeternitas (Ewigkeit). Dieses Kapitel ist sehr kurz (S. 229–234) und kann daher die äußerst relevanten Schlussfolgerungen nur kurz und manchmal nur zu allgemein anreißen.
Ergänzt wird diese systematische Betrachtung durch einen historischen Exkurs im Anhang. Dieser bringt noch einen Aufsatz über die Entwicklung der Beziehung von „Juden, Christen, Judenchristen“ in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Autor ist Guido Baltes, Theologe und Privatdozent an der Uni Marburg und wie Roland Werner mit dem Christus-Treff verbunden.
Warum das Buch überzeugt
Den großen Verdienst von Roland Werners Buch sehe ich darin, evangelikalen Christen Geschmack auf mehr aus den frühen christlichen und anderen frühen Quellen zu machen. Es gibt durchaus Christen, die in ihrer Praxis die lesenswerten Bücher nach der Bibel im besseren Fall in der Reformationszeit beginnen lassen, im schlechteren Fall da, wo die eigene Gemeindeströmung ihren Ursprung nahm – manchmal erst vor fünfzig, zwanzig oder nur fünf Jahren.
Der Autor greift auch nicht nur einzelne Belegstellen für seine Thesen heraus, sondern lässt frühe Schriften bisweilen ausführlich zu Wort kommen, wie etwa die „Didache“, Plinius, Clemens von Rom oder den „Brief an Diognet“. Da entstehen tatsächlich faszinierende Einblicke in die Welt der frühen Christen.
Es gelingt Roland Werner, bei wichtigen Themen den Bogen zu spannen von den biblischen Worten hin zu den Zeugnissen über die nachbiblische Praxis der Christen. Da erkennen wir dann beispielsweise, dass der Dienst an anderen Christen nicht nur von Jesus vorgegeben und von den Aposteln angeordnet wurde. Die frühen Christen erregten tatsächlich auch in den Jahrhunderten danach durch ihre Hingabe im Dienst füreinander und auch für Nichtchristen Aufsehen, bis hin zum Dienst an Pestkranken, der manchen Christen das eigene Leben kostete.
Roland Werner zeigt, dass die Christen gleichzeitig durch eine klar von der übrigen Gesellschaft unterscheidbare Ethik und durch ihren selbstlosen Dienst auffielen. Ein Fingerzeig für uns Christen heute!
Wo Vorsicht geboten ist
Der gute Wunsch, das Gesamtbild darzustellen, führt allerdings an einigen Stellen dazu, dass der Unterschied zwischen dem biblischen Zeugnis und dem Leben bzw. der Lehre der Christen in den Jahrhunderten danach nicht immer klar herausgestellt wird. Dass nun gerade im Kapitel über „Metanoia“ (Umkehr) der angehängte Fokus der Rolle von Frauen in der Gemeinde gewidmet ist, passt eigentlich nicht ganz. Da scheint dann wohl doch der Wunsch des Autors durch, sein eigenes (eher egalitäres) Verständnis zu bekräftigen.
Im gleichen Kapitel wird dargestellt, wie der Dienst als Soldat bald in der frühen Christenheit abgelehnt wurde. Ob allerdings der Satz „So standen also der Soldatenberuf und das Christensein grundsätzlich in einem scharfen Gegensatz“ (S. 136) so auch vom Neuen Testament her zu begründen ist, ist zumindest zu diskutieren.
Die Tatsache, dass auch frühe christliche Schriftsteller sehr bald nach der neutestamentlichen Zeit von biblischen Linien abwichen, wird (falls ich nicht etwas übersehen habe) nicht thematisiert. Als nur ein Beispiel sei die Betonung des einen Bischofs („monarchisches Episkopat“) pro Stadt durch Ignatius schon in der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts genannt, so z.B. in seinem Brief an die Gemeinde in Smyrna (8,2): „Wo immer der Bischof sich zeigt, da sei auch das Volk, so wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist. Ohne den Bischof darf man nicht taufen noch das Liebesmahl feiern; aber was immer er für gut findet, das ist auch Gott wohlgefällig, auf dass alles, was geschieht, sicher sei und gesetzmäßig.“ Das weicht offensichtlich von der neutestamentlichen Sicht auf Gemeindeleitung ab.
Weshalb sich die Lektüre lohnt
Roland Werners Werk verdient eine breite Leserschaft. Selten ist es jemandem so überzeugend gelungen, die Attraktivität der frühen Gemeinde für heutige Christen greifbar zu machen. Das Buch öffnet Türen zu einer oft vernachlässigten Epoche der Christentumsgeschichte und motiviert dazu, selbst intensiver in den Schriften der Kirchenväter zu lesen.
Dabei sollten Leser im Blick behalten, dass frühe christliche Zeugnisse – so wertvoll sie sind – ihre eigene historische Bedingtheit mitbringen. Werners Stärke liegt nicht primär in der Lösung hermeneutischer Streitfragen, sondern in der Darstellung gelebten Christentums. Leser werden das Buch bestimmt mit Gewinn lesen und hoffentlich selbst Geschmack an der reichen Tradition der frühen Kirche finden.
Buch
Roland Werner, Faszination frühe Christen – und ihre Strahlkraft für unsere Zeit, Basel: Fontis, 2025, 288 Seiten, 19,90 EUR.