Sola Gratia – Was „Errettung allein aus Gnade“ (nicht) bedeutet (#5)
Einleitung
Wie wird ein Mensch gerettet? Kaum eine Frage ist so grundlegend – und keine so entscheidend. Die Bibel beantwortet diese Frage mit großer Klarheit: „Bei dem HERRN ist die Rettung“ (Ps 3,9; Jona 2,10; Apg 4,12). Doch was bedeutet das konkret und heute? Welche Folgen hat das für unser Denken über Gott, den Menschen und das Evangelium?
Einer der zentralen Grundsätze der Reformation lautet sola gratia (allein aus Gnade). Diese Formel bringt eine tiefe biblische Wahrheit zum Ausdruck: Das Heil ist ein Geschenk Gottes – unverdient, nicht käuflich.
In dieser Artikelserie wollen wir uns mit den sogenannten „Lehren der Gnade“ beschäftigen – einer biblisch fundierten Zusammenfassung zentraler Aussagen über Gottes rettendes Handeln. Diese fünf Lehren werden oft zusammengefasst unter dem Akronym TULIP (deutsch: Tulpe). Im ersten Artikel ging es um das „T“ (Total Depravity, dt. Völlige Verdorbenheit); der zweite befasste sich mit dem „U“ (Unconditional Election, dt. Bedingungslose Erwählung). Das „L“, das für Limited Atonement steht, war Thema des dritten Artikels, während der vierte das „I“ (Irresistible Grace, dt. Unwiderstehliche Gnade) unter die Lupe nahm. Im letzten Artikel geht es um das „P“:
Perseverance of the Saints
Der fünfte Punkt der sogenannten TULIP-Lehre steht für das „P“ – Perseverance of the Saints, traditionell übersetzt mit „Ausharren der Heiligen“.
Warum diese Lehre oft missverstanden wird
Der Ausdruck „Ausharren der Heiligen“ wird häufig so verstanden, als hinge das Durchhalten im Glauben allein vom Menschen ab – als müsse der Christ sich krampfhaft an Gott festhalten, um nicht verloren zu gehen. Andere wiederum missverstehen die Lehre als Freibrief: „Einmal gerettet – immer gerettet.“ Hauptsache man hat sich irgendwann bekehrt – wie man danach lebt, ist zweitrangig.
Doch beides greift zu kurz – und verfehlt den Trost dieser Lehre. Die Bibel lehrt: Wahre Gläubige werden im Glauben bleiben – nicht weil sie stark sind, sondern weil Gott treu ist. Es ist Gott, der seine Kinder bewahrt, und genau deshalb werden sie auch ausharren.
Darum ist diese Lehre besser mit „Bewahrung der Gläubigen“ zu umschreiben. Denn das Ausharren ist eine Frucht der göttlichen Bewahrung, nicht menschliche Leistung.
Worum es im Kern geht
Die zentrale Frage lautet: Kann ein wahrhaft wiedergeborener Christ sein Heil verlieren? Manche sagen: Ja – wenn er schwer genug sündigt oder im Glauben nachlässt. Andere sagen: Nein – das Heil ist sicher, aber sie meinen damit oft nur eine frühere Entscheidung ohne aktuelle Frucht.
Die Heilige Schrift antwortet klar: Wer wirklich von Gott gerettet ist, wird auch sicher ans Ziel gelangen. Das Durchhalten im Glauben ist nicht ein individueller Kraftakt, sondern die Frucht der göttlichen Gnade. Das bedeutet nicht, dass der Gläubige passiv ist. Er ist aktiv – aber nur deshalb, weil Gott in ihm wirkt.
Man könnte auch sagen: Wir bleiben dran, weil wir bewahrt werden. Diese göttliche Bewahrung geschieht nicht ohne unsere Aktivität, aber sie geschieht auch nicht aufgrund unseres Tuns. Unsere Treue ist eine Antwort auf Gottes Treue.
Wie die Bibel die Frage beantwortet
Die Schrift bezeugt an vielen Stellen, dass Gottes Gnade den Gläubigen bis zum Ende trägt und vollendet. Einige der zentralen Aussagen Jesu und der Apostel machen dies unmissverständlich deutlich:
- Johannes 6,39: „Und das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich es auferwecke am letzten Tag.“
- Johannes 10,27–28: „Meine Schafe hören meine Stimme … und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht verlorengehen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“
- Philipper 1,6: „weil ich davon überzeugt bin, dass der, welcher in euch ein gutes Werk angefangen hat, es auch vollenden wird bis auf den Tag Jesu Christi.“
Diese Verse zeigen klar: Die Errettung ist ein Werk Gottes – begonnen in der Vergangenheit, wirkend in der Gegenwart, vollendet in der Zukunft. Das „Ausharren der Heiligen“ bedeutet deshalb vor allem: Gott bleibt treu. Seine bewahrende Gnade wirkt durch alle Höhen und Tiefen des Christenlebens hindurch.
Was die Lehre ablehnt
Die Lehre von der Bewahrung der Gläubigen wird manchmal verzerrt dargestellt, etwa in der populären Formel: „Einmal gerettet – immer gerettet.“ Zwar kann dieser Satz eine tiefe Wahrheit ausdrücken, doch er birgt die Gefahr, trügerische Sicherheit zu vermitteln. Wer ihn falsch versteht, könnte daraus schließen, dass jede Form echter Nachfolge überflüssig sei, wenn man sich einmal bekehrt oder ein Übergabegebet gesprochen habe.
Doch das Neue Testament warnt eindringlich vor solcher Passivität. Jesus sagt: „Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden“ (Mt 10,22). Die Apostel ermahnten die Gläubigen, „bei der Gnade Gottes zu bleiben“ (Apg 13,43), und sie warnten ernsthaft vor geistlichem Abfall (z.B. Hebr 6,4–6; Röm 11,22).
Es reicht nicht, dass jemand einmal „gläubig geworden“ ist – entscheidend ist, ob der Glaube jetzt lebendig ist. Wer also vom Glauben abfällt, hat das Evangelium entweder nicht verstanden, oder nie wahrhaft geglaubt, wie Johannes es ausdrückt (vgl. 1Joh 2,19).
Dabei schließt die Lehre nicht aus, dass Christen straucheln. Gläubige können fallen, zweifeln, geistlich kämpfen. Doch Gott lässt sie nicht endgültig los. Eine oft verwendete Analogie bringt es auf den Punkt: Ein Kind mag auf einem steilen Pfad die Hand seines Vaters loslassen, aber der Vater hält es fest. Unsere Sicherheit liegt nicht in der Stärke unseres Griffs, sondern in der Treue Gottes.
Worin der Trost dieser Lehre besteht
Die Lehre von der Bewahrung der Gläubigen schenkt tiefen Trost und echte Gewissheit. Sie zeigt: Unsere Errettung beruht nicht auf unserer Leistung, sondern auf Gottes Treue. Diese Gewissheit ist keine billige Beruhigung – sie ist ein starker Trost für das kämpfende Herz.
- Sie befreit von der lähmenden Angst, sein Heil wieder verlieren zu können.
- Sie ermutigt zu einem Leben in Heiligung, weil sie weiß: Gottes Gnade trägt durch.
- Sie fördert geistliches Wachstum, denn sie ruht auf der Zusage: „Der, welcher in euch ist, [ist] größer als der, welcher in der Welt ist“ (1Joh 4,4).
Gleichzeitig bewahrt diese Lehre vor geistlicher Selbstzufriedenheit. Sie ruft zur täglichen Nachfolge auf. Wer wahrhaft glaubt, wird auch fortlaufend glauben. Echtes Heil zeigt sich im beständigen Vertrauen und in der bleibenden Umkehr zu Gott (vgl. Hebr 12,1–3).
Der Christ lebt nicht in selbst gemachter Sicherheit, sondern in täglicher Abhängigkeit von der Gnade Gottes. Diese Gnade ist nicht schwach oder schwankend, sondern treu und tragfähig, wie es auch die wörtliche Übersetzung eines alten Glaubenslieds zusammenfasst: „Die Gnade, die uns bis hierher gebracht hat, wird uns auch nach Hause führen.“[1]
Zusammenfassung
Was auf den ersten Blick wie ein raues Wolfsfell erscheinen mag – sperrig, anstößig, schwer zu ertragen –, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als das tiefe, tröstende und heilende Wesen der Gnade Gottes. Die Lehren der Gnade sind weder einfach noch bequem. Sie verletzen unseren Stolz, stellen unsere Annahmen infrage und fordern uns heraus. Und doch liegt in genau dieser Demütigung der Trost: dass wir ganz von Gott abhängig sind – und dass er dennoch rettet.
Diese Lehren zeigen uns eine Gnade, die überrascht und erbaut, erschüttert und aufrichtet. Geboren in radikaler Verdorbenheit, erwählt ohne eigenes Zutun, erlöst durch ein wirksames Opfer, berufen durch unwiderstehliche Gnade und bewahrt bis ans Ziel – das ist keine theoretische Abhandlung, sondern die Geschichte unserer Rettung. Sie macht klein – aber sie erhebt den Blick zu einem großen Gott, dem allein alle Ehre gebührt. So bleibt uns nur mit David zu bekennen: „Bei dem HERRN ist die Rettung“ (Ps 3,9).
Die folgende tabellarische Übersicht fasst noch einmal prägnant die fünf Lehren der Gnade zusammen – samt ihrer biblischen Begründung, der abgelehnten Irrtümer und häufigen Missverständnisse.
Zentrale Frage | Biblische Antwort | Abgelehnte Lehre | Mögliche Verzerrungen | |
---|---|---|---|---|
Total Depravity ( |
Was ist der geistliche Zustand des natürlichen Menschen nach dem Sündenfall? (Einschränkung oder Unfähigkeit) | Der natürliche Mensch ist in seinem ganzen Sein von der Sünde betroffen und daher nicht fähig, von sich aus zu Gott kommen. (1Mose 2,16–17; Eph 2,1–3; Röm 3,10–12) | Der natürliche Mensch sei frei in seinem Willen, sich für Gott zu entscheiden. | Der natürliche Mensch sei so schlimm, wie er nur sein könnte, oder habe keine Verantwortung |
Unconditional Election ( |
Worauf gründet sich Gottes Erwählung bestimmter Menschen? (Vorherwissen oder Vorherbestimmung) | Gott hat in seiner Souveränität vor Grundlegung der Welt beschlossen, einige Menschen aus Gnade zu erwählen und andere nicht, sondern sie gemäß seiner Gerechtigkeit zu richten. (Eph 1,3–6; Röm 9,10–18; 1Petr 2,8) | Gott habe bestimmte Menschen erwählt, weil er voraussah, dass diese Menschen an Jesus glauben werden. | Gott erwähle willkürlich, verdamme Menschen in gleicher Weise, wie er bestimmte Menschen erwähle, oder verlange keine Antwort des Menschen. |
Limited Atonement ( |
Was bewirkt der Tod Jesu? (Mögliche Sühnung der Sünde oder tatsächliche, wirksame Sühnung der Sünde) | Jesus brachte am Kreuz ein vollkommenes Opfer, das für alle ausreichend ist (Reichweite), aber nur die Sünden der Erwählten sühnt (Wirkung). (Joh 10,14–15; 17,9; Eph 5,25; Hebr 9,28) | Jesus sei am Kreuz für alle Menschen gestorben, aber die Wirksamkeit des Opfers sei abhängig vom Glauben des Menschen. | Jesu Sterben am Kreuz habe abgesehen vom ewigen Heil keinen Wert für die Menschheit, sondern diene lediglich als Vorbild. |
Irresistible Grace ( |
Welche Rolle hat der Heilige Geist bei der Wiedergeburt? (Synergismus oder Monergismus) | Der Heilige Geist allein bewirkt die Wiedergeburt im Menschen, sodass dieser glauben kann, will und definitiv glauben wird (verändernde Gnade). (Joh 6,37; Röm 8,30; Eph 2,8–10) | Der Heilige Geist bereite das Herz des Menschen vor, sodass er glauben kann und – falls er es tut - die Wiedergeburt empfängt (vorauseilende Gnade). | Der Heilige Geist schalte den Willen des Menschen bei der Wiedergeburt aus. |
Perseverance of the Saints ( |
Wessen Treue sorgt ultimativ dafür, dass ein Christ bis zum Ende seines Lebens dranbleibt? | Gottes Treue besteht in der unaufhebbaren Verheißung des Heils und dem beständigen Wirken des Heiligen Geistes in den Erwählten. (Joh 10,27–30; Röm 8,35–39) | Das Durchhalten des Menschen hänge ultimativ von der Treue des Menschen ab, da Gott seine Treue davon abhängig mache. Gott halte am Menschen fest, solange der Mensch an ihm festhalte. | Gottes Treue erlaube Nachlässigkeit im Leben eines Gläubigen oder erübrige den Kampf gegen die Sünde. |