
Der Brief des Judas
Mit dem im Jahr 2024 erschienenen Kommentar zum Brief des Judas sind mittlerweile 17 der 27 neutestamentlichen Bücher in der Reihe der Historisch-Theologischen Auslegung (HTA) verfügbar. Heinz-Werner Neudorfer, Pfarrer i.R. der württembergischen Landeskirche, veröffentlicht mit diesem Kommentar sein viertes Werk in dieser Reihe. Im Jahr 2004 wurde diese durch seinen Kommentar zum 1. Timotheusbrief eröffnet, gemeinsam mit Gerhard Maiers Werk zum Jakobusbrief. Des Weiteren sind von Neudorfer der Titusbrief (2012) sowie der 2. Timotheusbrief (2017) kommentiert.
So funktioniert die HTA-Reihe
Die HTA-Reihe hat sich zum Ziel gesetzt, die neutestamentlichen Texte unter Berücksichtigung ihrer literarischen Eigenart, der historischen Situation und ihrer theologischen Anliegen zu erläutern. Neben der exegetischen Arbeit sollen dabei dezidiert auch Brücken in die kirchliche Gegenwart mit Verkündigung, Seelsorge und Diakonie geschlagen werden. Alle HTA-Kommentare gehen bei der Textauslegung nach demselben Schema vor – so auch hier im Judasbrief: Beginnend mit einer Übersetzung folgen Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form und Hintergründen, bevor dann eine Vers-für-Vers-Exegese durchgeführt wird, die dann in eine Zusammenfassung zu Ziel, Wirkungsgeschichte und Bedeutung für heute mündet.
Neudorfers Kommentar ist in zwei große Hauptteile gegliedert: Der ausführlichen Einleitung (S. 15–88) schließt sich die eigentliche Auslegung an (S. 89–273), die durch die o.g. Vorgehensweise charakterisiert ist. Ergänzt wird dies durch eine kurze Zusammenfassung, ein Literaturverzeichnis, Autorenverzeichnis, Stichwortverzeichnis und ein Verzeichnis griechischer Wörter (S. 275–295).
Wie bei anderen neutestamentlichen Briefen werden in der Forschung auch beim Judasbrief die Einleitungsfragen sehr kontrovers diskutiert. Neudorfer fokussiert sich aufgrund dessen nicht nur auf die klassischen Themen Autor, Adressaten, Zeit und Ort der Abfassung, sondern sieht diese in „ein Konglumerat eng miteinander verflochtener Einzelfragen“ gebettet (S. 15), die von ihm im Einleitungsteil vorrangig besprochen und gründlich dargelegt werden. Er geht dabei insbesondere der Frage nach, in welchem geistesgeschichtlichen Milieu die damaligen Leser lebten und welche möglichen Quellen der Verfasser des Briefes verwendete.
Die zentrale Botschaft von Judas
Neudorfer verdeutlicht, dass der Autor eine konkrete – und aufgrund von eingeschlichenen Gegnern eine schwierige – Situation seiner Adressaten vor Augen hatte. Diese waren von einem tief im Alten Testament verwurzelten Messiasglauben geprägt. Form und Sprache des Schreibens sind dabei nicht zufällig, sondern vom Autor „mit viel Überlegung kenntnisreich geplant“ (S. 33). Judas geht es nicht um die Kommunikation der Kernbestandteile des Evangeliums, mit denen die Leser bereits vertraut waren, sondern um die Stärkung einer durch Irrlehre bedrohten judenchristlichen – sprich messianischen – Gemeinde. Dabei geht es einerseits um den Umgang mit den Gegnern an sich, andererseits um die Begleitung der Gemeindemitglieder, die sich für deren falsche Lehren bereits geöffnet hatten. Neudorfer betont daher, dass es im Judasbrief um „Apologetik, Seelsorge und Gemeindeordnung“ geht (S. 44). Die Häufung von Imperativen legt dabei das Anliegen einer Verhaltensänderung bei den Lesern besonders deutlich nahe.
Die Frage nach den Gegnern im Judasbrief wird in der neutestamentlichen Forschung viel diskutiert und ist zentral für die Auslegung. Neudorfer kommt zum einen zu dem Schluss, dass diese keiner spezifischen Gruppe zugeordnet werden können und sieht wie auch andere die Gnostikerhypothese als überholt an. Zum anderen identifiziert er eine heterogene Kombination von lehrmäßigen, charakterlichen und ethischen Themen (dabei erkennt er Parallelen zu den paulinischen Korintherbriefen), sodass er die Gegner am ehesten im libertinistischen Antinomismus ansiedelt.
Die Situation hinter dem Judasbrief
Erst nach diesen grundlegenden Erwägungen wendet sich Neudorfer den Einleitungsfragen im engeren Sinn zu. Bei der Verfasserfrage hält er es für möglich, dass Judas aufgrund der Aussagen in V. 3 auf gewisse Weise für die Gemeinde zuständig war, jedenfalls hat das Schreiben eine Vorgeschichte und ist nicht spontan entstanden. Unter der Namensbezeichnung Judas versteht Neudorfer eine aus dem Neuen Testament bekannte Person. Er spricht sich dabei klar gegen eine pseudepigraphische Verfasserschaft aus und verweist auf das im Kanonisierungsprozess der Schrift wichtige Kriterium der Authentizität. Nach einer genauen Abwägung sieht er gute Gründe, den Bruder von Jesus, den Sohn von Joseph und Maria und Bruder von Jakobus, als Autor des Briefes zu identifizieren. Dabei verweist er auch auf Theo Heckel, der jüngst im NTD-Kommentar zu demselben Schluss gelangte. Bei der in Vers 1 genannten Autoritätsperson handelt es sich für Neudorfer um den Herrenbruder Jakobus.
Bei Aussagen zur Empfängerschaft ist Neudorfer zurückhaltend. Einige grundsätzliche Elemente hält er jedoch fest. Aufgrund der fehlenden Ortsangabe diskutiert er die Möglichkeit verschiedener geographischer Regionen und spricht sich am ehesten für die östliche Mittelmeerküste Israels oder Syriens aus. Jedenfalls ist für ihn klar, dass es eine Beziehung zwischen Autor und Adressaten gab und dass diese aufgrund der ausgeprägten jüdischen Inhalte im judenchristlichen Bereich verortet werden können. Definitiv ist der Brief dabei nicht an die eingedrungenen Gegner, sondern an die durch sie bedrohte Gemeinde gerichtet.
Die mit der Pseudepigraphie verbundene Spätdatierung, wie sie im deutschsprachigen Raum vielfach vertreten wird, lehnt Neudorfer ab. Er setzt die Abfassung nicht nur allgemein vor dem ersten jüdischen Aufstand an, sondern konkreter im Zeitraum der frühen 50er-Jahre bis in die frühen 60er-Jahre des ersten Jahrhunderts. Zum einen geht er davon aus, dass Judas’ Bruder Jakobus noch lebte (Todesjahr 62 n. Chr.), zum anderen datiert er den Judasbrief vor dem ebenfalls authentischen 2. Petrusbrief. Dabei erkennt er ähnliche Gemeindethemen, wie sie in den Paulusbriefen der 50er-Jahre zu finden sind. Da von Judas kein Aufenthalt außerhalb von Israel bekannt ist, lokalisiert er die Briefabfassung auch in diesen geographischen Grenzen, am ehesten wohl in Jerusalem.
Judas als Ermutiger und Ermahner
Den zweiten Hauptteil, die eigentliche Auslegung des Textes, untergliedert Neudorfer in sieben Abschnitte: Präskript (V. 1–2), Anlass und Absicht (V. 3–4), Beispiele für die Folgen von Gottlosigkeit (V. 5–7), Konsequenzen hinsichtlich der Irrlehrer (V. 8–13), Irrlehrer und Henoch-Tradition (V. 14–16), Aufgaben der Gemeinde (V. 17–23) sowie die Schluss-Doxologie (V. 24–25). Dabei erkennt er die Partizipialkonstruktion parakalon (V. 5) als Schlüssel für die Gesamtintention des Briefes: „Die Adressaten werden ermutigt, ermahnt, aufgefordert selbst aktiv zu werden, die Konflikte und Probleme in ihrer Gemeinschaft zu erkennen und im Sinne des Vf., damit aber zugleich im Sinne Gottes … zu handeln“ (S. 118). Ähnlich wie Frey deutet er daher den Judasbrief als Ermutigungs- und Mahnschreiben, das mit einem starken eschatologisch-apokalyptischen Akzent durchzogen ist. Aufgrund der eingeschlichenen Irrlehrer, die ein egozentrisch-ausschweifendes Leben führen, ist es für die Gemeinde unabdingbar, für ihren Glauben zu kämpfen. Die Gegner sind Gottlose, die den Geist nicht haben und Trennung bewirken. Das Urteil ist gefällt, es gibt keine Rettung mehr für sie, am Gericht kommt keiner vorbei. Der Gemeinde werden in ihrer bedrohlichen Lage Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, wobei Judas ihnen die Freiheit lässt, ihren eigenen Weg zu gehen. Neudorfer gelingt es dabei hervorragend, die Dramatik und die existenzbedrohende Gefahr der damaligen Situation herauszuarbeiten.
Zum Umgang mit schwierigen Stellen
Neudorfers Kommentar ist beständig von Besprechungen der vielfältigen intertextuellen Bezüge des Judasbriefs gekennzeichnet. Dies gilt für die alttestamentlichen Traditionen in V. 5–7 (Wüstenwanderung, Urzeit vor der Sintflut, Patriarchenzeit), das Apostelzitat in V. 18 sowie – in allererster Linie – für Rückgriffe auf die apokryphe Henoch-Literatur, sowohl was das Zitat in V. 14–15 als auch die Himmelfahrt des Mose in V. 9 betrifft. Neudorfer gelingt es, mögliche Parallelen zu beschreiben, sich aber nicht in Spekulationen oder Vermutungen über unklare Texte im Hintergrund zu verlieren. Auch für die Tatsache, dass Judas apokryphe jüdisch-apokalyptische Literatur positiv aufgreift, findet er überzeugende Erklärungen. Diese Schriften standen offenbar sowohl für Judas, der sie wertschätzte, als auch für die Adressaten, denen sie als Erbauungslektüre dienten, in hohem Ansehen und konnten Brücken zu deren Gedankenwelt schlagen (S. 167–170, 217–230).
Was wir heute von dem Brief lernen können
Im jeweils vierten Unterpunkt der einzelnen Auslegungsabschnitte versucht Neudorfer eine Übertragung auf die heutige Gemeindesituation. Dabei wird deutlich, dass er sich an dieser Stelle in einem gewissen Dilemma befindet, das er auch immer wieder so benennt: Die heutige Weltsicht der Gemeinden im aufgeklärten Westen ist von der des Judasbriefes sehr weit entfernt. Neudorfer bringt dies beispielsweise so zum Ausdruck: „Engel … sind (anders als früher!) für die meisten unserer Zeitgenossen kein Teil ihrer Lebenswirklichkeit“ (S. 212). Dies mag für die Zeitgenossen oder Kirchen in unserem unmittelbaren Umfeld gelten. Jedoch zeigt sich hier, dass das in weiten Teilen der Erde, insbesondere im globalen Süden, vorhandene Glaubensverständnis und das ausgeprägte Bewusstsein für die Realität der unsichtbaren Welt diesbezüglich näher an den biblischen Texten orientiert sind.
Für mich persönlich und für meinen Lehrdienst ist die HTA-Reihe mit die wertvollste deutschsprachige Kommentarreihe überhaupt. So bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die restlichen zehn neutestamentlichen Bücher (Lukas, Johannes, Apostelgeschichte, 2. Korinther, Galater, 2. Thessalonicher, Philemon, 1. Petrus, 2. Petrus, Hebräer) in naher Zukunft und in derselben Qualität den Weg zur Veröffentlichung finden.
Buch
Heinz-Werner Neudorfer, Der Brief des Judas, Historisch-Theologische Auslegung des Neuen Testaments, Holzgerlingen: SCM R.Brockhaus / Gießen: Brunnen, 2024, 295 Seiten, 50 EUR.