Walking Through Deconstruction

Rezension von Lars Reeh
18. September 2025 — 4 Min Lesedauer

Glaubenskrisen sind heute für viele eine Realität – und oft fehlen Orientierung und Begleitung in diesen herausfordernden Zeiten. Inmitten wachsender Diskussionen über Dekonstruktion und Zweifel am Glauben stellt sich die Frage: Wie können wir Menschen unterstützen, die mit ihrem Glauben ringen? Genau diesem Anliegen widmet sich Ian Harber (Jahrgang 1993) in seinem Buch Walking Through Deconstruction. Der Untertitel How to be a Companion in a Crisis of Faith bringt auf den Punkt, worum es geht: Wie können wir Weggefährten für Menschen in einer Glaubenskrise sein?

Zum Buch

Das Werk ist in zwei Hauptteile gegliedert: Im ersten Teil (Dekonstruktion) geht es unter anderem um Glaubensüberzeugungen und das Selbstbild, woraufhin in einem zweiten Teil (Rekonstruktion) unter anderem die Gemeinde und das Gottesbild behandelt werden.

Der Autor definiert Dekonstruktion in Kapitel 1 als Glaubenskrise bei Christen. Sein Anliegen ist es, dass diese Menschen liebevoll in diesem – ergebnisoffenen – schmerzhaften Prozess begleitet werden (non-anxious presence).

In Kapitel 2 wird eine „Wall“ beschrieben, womit eine Art geistlicher Grenzerfahrung gemeint ist, welche dann zur Krise (Kap. 3) führt, wodurch dann Glaube (Kap. 4), Gemeinde ( Kap. 5) und das Selbstbild (Kap. 6) hinterfragt werden. Gerade das sechste Kapitel gibt eine prägnante Darstellung des postmodernen Menschenbilds.

Im zweiten Teil präsentiert Kapitel 9 eine Sache, welche im gesamten De-/Rekonstruktionsprozess von besonderer Bedeutung ist: eine solide Theologie des Leids. Das Abschlusskapitel rundet die bereits angesprochenen Teile ab, indem es um das Zentrum geht, nämlich um Gott. Die Überschrift ist hier jedoch nicht ganz passend, da streng genommen ja nicht Gott selbst, sondern „nur“ das Gottesbild rekonstruiert wird.

Zum Ansatz

Da der Autor selbst von der Problematik betroffen war, ist es ihm ein Anliegen, Christen für die komplexe Thematik der theologischen Dekonstruktion zu sensibilisieren und ihnen eine Art Handreichung mitzugeben. Die Theologie des Buches ist reformatorisch, was nicht weiter überrascht, da der Autor u.a. für die Gospel Coalition schreibt (das Vorwort stammt von Gavin Ortlund).

Das rund 200 Seiten starke Werk hat eine gewisse Originalität, da es eine Mischung aus Apologetik und Seelsorge darstellt. Der Schreibstil ist flüssig, hat insgesamt ein mittel-hohes theologisches Niveau und es werden teilweise schöne Alliterationen verwendet. Obwohl das Anliegen berechtigt ist, finde ich die Umsetzung nicht vollständig gelungen. Dies hat inhaltliche und strukturelle Gründe.

Zum Inhalt

Aufgrund der Komplexität der Thematik definiert der Autor Dekonstruktion schlicht als Glaubenskrise. Dekonstruktion sei ein Prozess der Glaubenskrise in Bezug auf Theologie und Kultur. Hier hätte der Autor bei dem Thema etwas tiefer in die postmoderne Philosophie einsteigen können (immerhin wird Jaques Derrida erwähnt). Da er Dekonstruktion so weit fasst, ist im Laufe des Buches nicht immer klar, auf welchen Aspekt er sich in seinen Ausführungen gerade bezieht. Als Hauptgegner identifiziert er eine Art Kulturchristentum (churchianity), welches den Leuten eine oberflächliche Theologie und einen engstirnigen Lebensstil vermittelt habe und auf Anfragen und Zweifel mit Aversion und Aggression reagiere. Die Gläubigen, welche im Dekonstruktionsprozess sind, werden von Harber hauptsächlich als Opfer von fundamentalistischen Gemeinden gesehen. Hier nimmt der Autor öfter seine eigene Biographie als leidgeprüfter und von mancher Gemeinde enttäuschter Christ als Beleg. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass die Schilderung von Teilen seiner Familienbiographie als unlauter kritisiert wurde.[1] Er räumt zwar ein, dass Menschen manchmal Theologie dekonstruieren, weil sie an ihrer Sünde festhalten, aber sein Fokus liegt auf dem Dekonstruierenden als dem unverstandenen Opfer der Umstände. Hier hätte ich mir eine ausgewogenere Sicht der Dinge sowie eine klarere Abgrenzung zur Häresie gewünscht. Man denke zum Beispiel an den ersten Johannesbrief, wo es heißt:

„Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn wenn sie von uns gewesen wären, so wären sie bei uns geblieben. Aber es sollte offenbar werden, dass sie alle nicht von uns sind.“ (1Joh 2,19)

Zur Struktur

Das Buch setzt sich aus insgesamt dreizehn Kapiteln zusammen (7 Kapitel im ersten Teil; 6 Kapitel im zweiten Teil). Nur zwei Themenbereiche (Glaube und Gemeinde) werden in beiden Teilen des Buches aufgegriffen. Es wäre meines Erachtens besser gewesen, alle Schwerpunkte, welche man behandelt, aus Sicht von Dekonstruktion und Rekonstruktion zu beschreiben und Bezug aufeinander zu nehmen. Am allerbesten eignet sich dafür die a – b // a – b Struktur.

Ian Harbor hätte zum Beispiel im Kapitel „Glauben“ zuerst als Unterpunkt über die Dekonstruktion des Glaubens schreiben können (Fallbeispiel) und direkt danach über die Rekonstruktion (Hilfen und Begleitungsansätze). Wenn dies durchgängig im gesamten Buch anhand von realen Fallbeispielen durchexerziert worden wäre, hätte das Buch eine viel bessere Struktur gehabt.[2] Dieser kritische Punkt der Strukturierung ist bisher leider unterbeleuchtet geblieben.[3]

Da das Buch – laut Titel – eine Hilfe für Krisenbegleiter sein soll, kommt mir die gezielte Adressatenorientierung zu kurz. Das Buch Before You Lose Your Faith: Deconstructing Doubt in the Church ist meiner Meinung nach ein besserer Begleiter in Zeiten der Glaubenskrise; für den Begleiter und den Betroffenen.[4]

Buch

Ian Harber, Walking Through Deconstruction: How to Be a Companion in a Crisis of Faith, IVP, 2024, 280 Seiten, ca. 19,50 EUR.


1 Vgl. https://www.ianharber.com/ (Stand: 18.09.2025).

2 Ähnlich wie in Mark Driscolls, Death by Love: Letters from the Cross, Wheaton, IL: Crossway, 2008.

3 Vgl. Andrew Kelley, „Help Stop Deconstruction. Become a Non-Anxious Presence“, online unter: https://www.thegospelcoalition.org/reviews/walking-through-deconstruction/ (Stand: 18.09.2025).

4 Herausgegeben im Jahr 2021 von der Gospel Coalition. Hier hat Ian Harber übrigens ebenfalls ein Kapitel beigesteuert.