Hatte Marx recht mit seiner Religionskritik?

Artikel von Graham Cole
17. September 2025 — 9 Min Lesedauer

Der Weg zum Ruhm

Ist die Lehre von der herrlichen Ewigkeit Opium für die Massen? Karl Marx hätte das wohl so gesehen. Er argumentierte, dass Religion den Gläubigen dazu verleitet, sich auf die Aussicht auf das Jenseits zu konzentrieren und die diesseitige Welt zu vernachlässigen. Er schrieb: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“[1] Den Himmel beschrieb er als Fantasie.[2]

Es gibt einen amerikanischen Schlager, geschrieben 1911 von Joe Hill, in dem er das bekannte christliche Lied „Es erglänzt uns von Ferne ein Land“ aufs Korn nimmt. Im Englischen beginnt der Refrain mit dem Satz „In the sweet by-and-by“, den man in etwa als „O seliges Hernach“ übersetzen kann und der sich auf die himmlische Zukunft bezieht, nach der sich der Christ sehnt. Hill, der als Aktivist für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung kämpfte, verspottete diese Vorstellung und schrieb die Zeile um: „pie in the sky when you die“ – im Himmel gibt’s Kuchen, wenn du stirbst. Eine lächerliche Illusion.

Die Bibel jedoch bezeugt, dass Verherrlichung ein Prozess ist, der bereits in diesem Leben beginnt. Die Aussicht auf die himmlische Herrlichkeit motiviert den Glaubenden schon hier und jetzt zu einem gottgefälligen Leben. Die zukünftige Welt soll ihn zum Dienst in der jetzigen Welt anspornen. Verherrlichung ist beides, Prozess und Zukunftsaussicht – und als solche ein Werk des dreieinigen Gottes. Eine Vorrecht des Evangeliums.

Zwei Gegensätze der Verherrlichung

In Bezug auf die Verherrlichung und unsere Erfahrung in der Nachfolge Christi gibt es zwei Gegensätze zu beachten. Der erste hat mit dem Äußeren und dem Inneren zu tun. Wie wir gesehen haben, stellte sich der Apostel Paulus die Verherrlichung so vor, dass sie im Hier und Jetzt beginnt: von einer Herrlichkeit zur Nächsten (vgl. 2Kor 3,18). Das ist eine Sache des Glaubens, nicht des Sehens. Ich bin kein junger Mann mehr, und wenn man mich ansieht, sieht man kein herrliches Wesen. Paulus wusste um die Wahrheit dieses Gegensatzes und um das Bedürfnis des Christen nach Ermutigung. Er schrieb an die Korinther: „Darum lassen wir uns nicht entmutigen; sondern wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch der innere Tag für Tag erneuert“ (2Kor 4,16). Paulus lebte jedoch im Licht der Ewigkeit, und so schreibt er weiter:

„Denn unsere Bedrängnis, die schnell vorübergehend und leicht ist, verschafft uns eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, da wir nicht auf das Sichtbare sehen, sondern auf das Unsichtbare; denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ (2Kor 4,17–18)

Becket Cook, ein Bühnenbildner aus Hollywood, erlebte eine dramatische Bekehrung vom schwulen Atheisten zum gläubigen Anhänger Christi. Er ringt immer noch mit gleichgeschlechtlicher Anziehung, aber für ihn ist die Aussicht auf ewige Herrlichkeit mehr als ein Ausgleich für die zu Recht unerfüllten Wünsche. Er schreibt:

„Diese Verse [2Kor 4,17–18] sind immer ein Balsam für die Seele, wenn ich mit der Versuchung kämpfe. (Ja, das tue ich immer noch!) ... Es ist schwer, das ewige Gewicht der Herrlichkeit zu ergründen, aber ich weiß, dass es unendlich viel erfreulicher ist als jedes vergängliche Vergnügen auf dieser Erde.“[3]

Das zweite Paradox besteht darin, dass wir zwar von einer Herrlichkeit zur nächsten übergehen, gleichzeitig aber auch großes Leid erfahren können. Der Weg zur Herrlichkeit ist in der Tat christomorph – das heißt, spiegelt Christus, der als Menschensohn litt, bevor er in seine Herrlichkeit einging; und er warnte seine Jünger, dass auch sie Leiden erfahren würden. Beim Abendmahl sagte er in aller Deutlichkeit:

„Gedenkt an das Wort, das ich zu euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen; haben sie auf mein Wort [argwöhnisch] achtgehabt, so werden sie auch auf das eure [argwöhnisch] achthaben.“ (Joh 15,20)

Der Apostel Petrus verstand, worauf sein Meister hinauswollte: „Der Gott aller Gnade aber, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus, er selbst möge euch, nachdem ihr eine kurze Zeit gelitten habt, völlig zubereiten, festigen, stärken, gründen“ (1Petr 5,10).

Das beste Beispiel für einen Gläubigen, der diesen Weg beschreitet, ist der Apostel Paulus, und von all seinen Briefen offenbart sein zweiter Brief an die Korinther am deutlichsten den persönlichen Preis, den ihn die Nachfolge Christi kostete. Es ist bemerkenswert, dass Paulus so litt, dass er am Leben selbst verzweifelte: „Denn wir wollen euch, Brüder, nicht in Unkenntnis lassen über unsere Bedrängnis, die uns in [der Provinz] Asia widerfahren ist, dass wir übermäßig schwer zu tragen hatten, über [unser] Vermögen hinaus, sodass wir selbst am Leben verzweifelten; ja, wir hatten in uns selbst schon das Todesurteil“ (2Kor 1,8–9). Dennoch verstand er als gläubiger Mensch die Lehre aus dieser Erfahrung: „damit wir nicht auf uns selbst vertrauten, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt“ (2Kor 1,9). Später im selben Brief beschreibt Paulus genauer, was seine Leiden als Apostel mit sich brachten. Er musste die Behauptungen einiger Lehrer entkräften, die die Korinther beunruhigten und ihre Überlegenheit gegenüber Paulus behaupteten:

„Zur Schande sage ich das, dass wir so schwach waren. Worauf aber jemand pocht (ich rede in Torheit), darauf poche ich auch. Sie sind Hebräer? Ich bin es auch. Sie sind Israeliten? Ich auch. Sie sind Abrahams Same? Ich auch. Sie sind Diener des Christus? Ich rede unsinnig: Ich bin’s noch mehr! Ich habe weit mehr Mühsal, über die Maßen viele Schläge ausgestanden, war weit mehr in Gefängnissen, öfters in Todesgefahren. Von den Juden habe ich fünfmal 40 Schläge weniger einen empfangen; dreimal bin ich mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten; einen Tag und eine Nacht habe ich in der Tiefe zugebracht. Ich bin oftmals auf Reisen gewesen, in Gefahren auf Flüssen, in Gefahren durch Räuber, in Gefahren vom eigenen Volk, in Gefahren von Heiden, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren auf dem Meer, in Gefahren unter falschen Brüdern; in Arbeit und Mühe, oftmals in Nachtwachen, in Hunger und Durst; oftmals in Fasten, in Kälte und Blöße; zu alledem der tägliche Andrang zu mir, die Sorge für alle Gemeinden.“ (2Kor 11,21–28)

Und doch konnte er im selben Brief auch schreiben:

„Darum lassen wir uns nicht entmutigen; sondern wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch der innere Tag für Tag erneuert. Denn unsere Bedrängnis, die schnell vorübergehend und leicht ist, verschafft uns eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit.“ (2Kor 4,16–18)

In Anbetracht dieses zweiten Paradoxons ist in der ernsthaften Nachfolge kein Platz für unrealistischen Optimismus im Angesicht von Widrigkeiten, wie ihn in etwa die Lehre vom Wohlstandsevangelium vertritt. Ich habe mal den Satz gehört, dass die Kinder des Königs erster Klasse reisen. Wirklich? Johannes der Täufer wurde gefangen genommen und enthauptet (vgl. Mk 6,14–29), Jesus wurde auf schockierend grausame Weise am Kreuz hingerichtet (vgl. Mk 15,21–39) und Paulus schrieb über sein großes Leiden als Apostel (vgl. 2Kor 12,1–10). Doch Jesus ertrug das Kreuz im Licht der Freude, die auf ihn wartete (vgl. Hebr 12,2). Es liegt ewige Herrlichkeit vor uns – und das ist der Punkt: sie liegt noch „vor uns“. Mehr zu erwarten, als die Bibel verspricht, bedeutet, in eine überzogene Eschatologie zu verfallen, so als ob wir jetzt im Himmel wären – was natürlich nicht der Fall ist.

Aussicht, Prozess und Dienst

Die Aussicht auf die Herrlichkeit lässt den Gläubigen in der Gegenwart nicht träge werden. Marx irrte sich in Bezug auf soliden biblischen Glauben. Er könnte jedoch Recht gehabt haben, was die Art des kulturellen Christentums angeht, das er um sich herum erlebte. Wir sind ein Volk im Werden, wie wir im zweiten Korintherbrief gesehen haben. Und auch im Brief an die Kolosser weist Paulus uns erneut den Weg in dieser Frage:

„Wenn ihr nun mit Christus auferweckt worden seid, so sucht das, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ (Kol 3,1–4)

Paulus stellt den Kolossern die himmlische Wirklichkeit vor Augen, und die Verben „suchen“ (Kol 3,1) und „trachten“ (Kol 3,2) sind bedeutsam. Der Kern liegt in unserer Vereinigung mit Christus, denn wir sind gewissermaßen mit ihm gestorben und leben nun in ihm (vgl. Kol 3,3). Die Aussicht auf die Herrlichkeit mit Christus ist die daraus folgende Verheißung (vgl. Kol 3,4). All dies könnte darauf hindeuten, dass Marx recht hatte.

Doch Paulus setzt das Argument mit einer Metapher fort, um zu zeigen, dass das Streben nach dem Ewigen und das Ausrichten auf das, was oben ist, Konsequenzen für dieses Leben hat. Douglas Moo bemerkt zu Recht: „Gläubige ‚suchen das, was oben ist‘, indem sie sich bewusst und täglich den Werten des Himmelreichs verschreiben und nach diesen Werten leben.“[5] Aber wie genau sollen wir das anstellen? Das alte Selbst soll wie ein Gewand mit seinen sündigen Praktiken abgelegt werden (vgl. Kol 3,9). Paulus nennt eine ganze Reihe von Lastern (vgl. Kol 3,5–9): sexuelle Unmoral, Unreinheit, Leidenschaft, böses Verlangen, Habgier, Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung und obszönes Reden. Im Gegensatz dazu sollen die Kolosser ein neues Gewand aus göttlichen Tugenden anziehen (vgl. Kol 3,12–14): Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld – und vor allem Liebe. Paulus betont dabei, dass dieses An- und Ausziehen auf der himmlischen Dimension und Perspektive beruht. Das Schlüsselwort ist „daher“, das in Kolosser 3,5 steht: „Tötet daher [griech. oun] eure Glieder, die auf Erden sind“. Das Wort wird erneut verwendet, wenn Paulus sich in Kolosser 3,12 den gottgefälligen Tugenden zuwendet: „So zieht nun [griech. oun] an als Gottes Auserwählte, Heilige und Geliebte herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Langmut.“ Das zeigt, dass es für Paulus einen logischen Zusammenhang zwischen Kolosser 3,1–4 und dem Folgenden gibt.

Die Aussicht auf die himmlische Herrlichkeit ist kein Opium. Marx hat sich geirrt.


1 Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie. Einleitung“, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin: Karl Dietz Verlag, 1976, S. 378–391.

2 Marx, Zur Kritik.

3 Becket Cook, A Change of Affection. A Gay Man’s Incredible Story of Redemption, Nashville: Thomas Nelson, 2019, S. 148.

4 Douglas J. Moo, The Letters to the Colossians and to Philemon, Grand Rapids: Eerdmans, 2008, S. 246.

Graham Cole ist emeritierter Dekan und Professor für Biblische und Systematische Theologie an der Trinity Evangelical Divinity School, ordinierter anglikanischer Pfarrer und ehemaliger Principal des Ridley College. Er lebt mit seiner Frau Jules in Australien.