
Der unveränderte Stellenwert der Heiligen Schrift
Angesichts einer zunehmenden Infragestellung ursprünglicher Kernüberzeugungen innerhalb evangelikaler Werke und Gemeinden trafen sich im Frühjahr 2025 einige evangelikale Leiter und Vertreter evangelikaler Werke in Karlsbad, um im Rahmen der Konferenz „Jesus 25“ gemeinsam für die bleibende Bedeutung der Bibel als Gottes Wort und zentrale Kernwerte und theologische Positionen der evangelikalen Bewegung einzutreten. Die Organisatoren haben neben einem gemeinsamen Statement zeitgleich vier Konferenzbände veröffentlicht, die sich u.a. mit ethischen Fragestellungen, der Christologie und der Frage nach der Einheit der evangelikalen Bewegung beschäftigen. Der vorliegende erste Band (Der unveränderte Stellenwert der Heiligen Schrift) möchte zunächst eine allgemeine Orientierung im Umgang mit der Bibel geben und wirbt für ein festes Vertrauen in die Heilige Schrift. Frank Hinkelmann und Martin P. Grünholz haben als Herausgeber einige Beiträge zur Bibelfrage aus einem breiten Spektrum der evangelikalen Bewegung zusammengetragen.
Inhalt
Den Anfang macht Ulrich Parzany mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen vertrauensvollen und gehorsamen Umgang mit der Heiligen Schrift. Er beobachtet zurecht, dass zunehmend Jesus und seine Lehre gegen die Bibel ausgespielt werden und weist darauf hin, dass Jesus eine „leere Projektionsfläche“ wird, wenn sein Wesen und seine Lehre von der Schrift als verlässlichem Zeugnis über ihn abgekoppelt werden. Philipp Bartholomä beleuchtet kenntnisreich das Spannungsfeld „zwischen Anpassung und Abschottung“ und wirbt für die grundlegende Bedeutung der Schrift für die missionarische Strahlkraft einer Kirche. Weder Gemeinden, die sich von der Welt abschotten, noch Gemeinden, die sich dem Zeitgeist anpassen, können in der heutigen Zeit erfolgreich bestehen. Richtig verstandene Mündigkeit im Umgang mit der Heiligen Schrift führt nicht zur Dekonstruktion zentraler Glaubensinhalte, sondern fördert einen gesunden Glauben. Nicola Vollkommer und Tobias Kolb stellen heraus, dass gerade die Schrift resilient macht und die Schrift Lebensgrundlage der Kirche als „creatura verbi“ (dt. „Geschöpf des Wortes“) ist.
Die drei umfangreicheren Beiträge von Markus Till, Ron Kubsch und Matt Studer beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die Fragen der Bibelhermeneutik und des Inspirationsverständnisses. Markus Till fragt nach dem Verhältnis von Bibel und Gottes Offenbarung und stellt die verschiedenen in der Dogmatik üblichen Verhältnisbestimmungen vor. Dabei arbeitet er heraus, wie wichtig es ist, die ganze Schrift als Offenbarung, Gotteswort und Menschenwort zugleich, anzuerkennen. Die Bibel bezeugt nicht einfach nur Gottes Wort oder enthält es, sie ist Gottes Wort. Ron Kubsch gibt einen hilfreichen Überblick über die Entstehung der historisch-kritischen Methode in der Neuzeit und zeichnet wesentliche hermeneutische Weichenstellungen der Moderne und Postmoderne nach. Erhellend ist dabei insbesondere auch die Beobachtung, dass die Postmoderne in der Philosophie durch den „neuen Realismus“ inzwischen wieder eingeholt wird und sich somit in der Hermeneutik eine Trendwende hin zur Anerkennung eines vorgegebenen Textes zeigt. Kritik am Text fällt zwar dadurch bedingt oftmals moderater aus als noch zu Hochzeiten der Postmoderne, sie unterliegt aber weiterhin auch problematischen Vorannahmen, die Kubsch exemplarisch anhand der Ansätze von Siegfried Zimmer und Marius Reiser verdeutlicht. Matt Studer wiederum widmet sich vor allem der innerevangelikalen Diskussion um die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel und zeigt dabei eine breite Kenntnis sowohl des englischsprachigen als auch deutschsprachigen Diskurses, die Neugier weckt, weitere Bücher zur Thematik zu studieren.
Gerrit Hohage greift die eingangs von Ulrich Parzany problematisierte Entgegenstellung von Christus und der Heiligen Schrift wieder auf und fragt danach, welcher Christus denn eigentlich in der gegenwärtigen Theologie die Mitte der Schrift sei. Dabei arbeitet er anschaulich heraus, dass die verschiedenen Versuche, einen „historischen Jesus“ aus dem Schriftzeugnis herauszuschälen, allesamt dazu geführt haben, dass der Ausleger sich jeweils einen Christus nach seinem eigenen Bild und Gutdünken erschuf. Es ist also von entscheidender Bedeutung, die ganze Schrift als Zeugnis von Christus anzunehmen und nicht einzelne liebgewordene Vorstellungen von Christus und seiner Lehre gegen andere dazu in Spannung stehende Schriftstellen auszuspielen. Diese Beobachtung wendet er praktisch in der Auseinandersetzung mit dem ersten Band der von Thorsten Dietz und Tobias Faix verantworteten Transformativen Ethik an und zeigt konkret die Gefahren auf, wenn als ethische Maßgabe nur noch eine „virtuelle“ reduktionistische „Story“ Gottes und einige universale Prinzipien wie etwa die Nächstenliebe taugen, die konkreten biblischen Normen und Gebote aber allesamt einem starken kulturellen Wandel unterliegen und somit keine unmittelbare Bedeutung mehr haben sollen.
Diese grundlegenden hermeneutischen Beiträge werden ergänzt durch einen Überblick von John Wenham zur Geschichte und Vertrauenswürdigkeit des alttestamentlichen Kanons sowie einen spezifischen Beitrag zur Glaubwürdigkeit der biblischen Urgeschichte, in dem Reinhard Junker für ein historisches Verständnis der Urgeschichte und eine wörtlich verstandene 6-Tage-Schöpfung argumentiert. Rolf Hille fragt nach den verschiedenen Gestalten des Wortes Gottes und in welcher Art und Weise auch die Predigt Wort Gottes ist. Er erinnert an die Verantwortung des Predigers, als „Diener des göttlichen Wortes“ hinter den Predigttext zurückzutreten und Gottes Wort durch die eigene Person hindurchklingen zu lassen (lat. „per-sonare“).
Jens Binfet weitet abschließend den Horizont mit einem komprimierten Überblick über patristische (aus der Zeit der Kirchenväter stammende) Zugänge zur Heiligen Schrift und hält dabei bedeutende Gemeinsamkeiten mit heutigen bibeltreuen Ansätzen in der Hochschätzung der Heiligen Schrift fest, arbeitet aber auch herausfordernde Unterschiede heraus, die sich vor allem im sakramentalen Verständnis der Welt und auch in der Art und Weise der christologischen Exegese zeigen. Die Schriften der Kirchenväter zeugen auch von einer weniger wörtlichen Lesart der Bibel, in der beispielsweise die Schöpfungstage oftmals nicht als wörtliche 24 Stunden-Tage aufgefasst werden. Vergleicht man Junkers und Binfets Beitrag, wird anschaulich deutlich, dass die Hochschätzung der Heiligen Schrift als Gottes Wort nicht immer zu gleichen Auslegungsergebnissen führen muss. Hier spielen neben der Achtung der Bibel als Gottes Wort angesichts der Herausforderung sachkritischer Exegese auch weitere hermeneutische Prämissen eine Rolle.
Beurteilung
Insgesamt bekommt man als Leser dieses Sammelbandes eine gute erste Grundlage, für die Glaubwürdigkeit und Autorität der Heiligen Schrift einzustehen. Sowohl Theologen als auch theologische Laien können von den unterschiedlich anspruchsvollen Beiträgen profitieren. Der Spagat zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und allgemeinverständlichen Texten kommt dabei gelegentlich an seine Grenzen. Wer etwa als Student mit aktueller Forschungsliteratur konfrontiert ist, wird nicht überall eine Auseinandersetzung auf Höhe der Zeit vorfinden. Obwohl beispielsweise der Beitrag von John Wenham nach wie vor einen hilfreichen ersten Überblick zur Debatte um die Entstehung des Kanons gibt, sollte man im Blick haben, dass sich die Fachdiskussion inzwischen weiterentwickelt hat und man gerade als Student hier ergänzend aktuellere Werke zu Rate ziehen muss, um sich mit aktuellen Ansätzen auseinanderzusetzen und ihnen argumentativ begegnen zu können.
Hin und wieder trüben kleinere Fehler und Flüchtigkeiten das inhaltlich positive Gesamtbild. Aus philologischer Sicht problematisch erscheint im Beitrag von Reinhard Junker die wiederholte Interpretation des griechischen Aorists als Hinweis auf „ein spezielles Ereignis, vor dessen Eintritt ein anderer Zustand in der Schöpfung herrschte“ (S. 252, ähnlich auch S. 241). Der Aorist an sich kennzeichnet nicht die Einmaligkeit des Ereignisses oder den Bruch mit etwas vorher Geschehenen.[1] Junckers Auslegung muss deshalb im Ergebnis nicht falsch sein, aber sie ist nicht mit der Verwendung des Aorists begründbar, sondern muss aus dem gesamten Textzusammenhang erfolgen.
Gerrit Hohage setzt sich erfreulicherweise neben der Ethik von Dietz und Faix auch mit einer aktuellen Denkschrift der EKD zur Bibelhermeneutik auseinander, schreibt dabei aber das zweite Kapitel der Denkschrift „Christoph Marquardt“ zu (S. 169). Gemeint ist wohl Christoph Markschies, der zwar als Kirchengeschichtler einer der drei Vorsitzenden der erarbeitenden Kommission war, aber in der Denkschrift nirgendwo explizit als Autor oder Hauptverantwortlicher für das Kapitel genannt wird. Woher Hohage die Information nimmt oder ob er diese lediglich aus dem kirchengeschichtlichen Inhalt des Kapitels erschließt, ist nicht erkennbar.
Auf editorischer Ebene ist leider der abschließende Beitrag von Jens Binfet gänzlich untergegangen, da er versehentlich in den Beitrag von Rolf Hille integriert wurde und somit im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt ist und die Autorennennung lediglich im Vorwort der Herausgeber sowie im Autorenverzeichnis erfolgt. Im Falle einer Neuauflage sollte hier nochmals nachgebessert werden. [Hinweis der Red.: in der neuen Auflage u. in der Logos-Ausgabe ist dies bereits korrigiert.]
Fazit
Der Sammelband ermutigt dazu, sich von der Schrift herausfordern zu lassen und in den „Herausforderungen unserer Zeit“ weiterhin an der ganzen Schrift als Wort Gottes festzuhalten und sie nicht nur als Glaubenszeugnis oder in ihrer symbolischen Aussageabsicht, sondern auch historisch ernst zu nehmen, wo der Text einen historischen Anspruch erhebt. Dabei ist es erfreulich und ermutigend, wie bei allen Unterschieden im Detail die beitragenden Autoren gemeinsam für die Vertrauenswürdigkeit der Schrift eintreten. Der Leser bekommt viele wertvolle Gedankenanstöße und hilfreiche Argumente an die Hand und ist eingeladen, sich anhand der vielen weiteren Literaturhinweise tiefere Kenntnisse anzueignen.
Buch
Martin P. Grünholz und Frank Hinkelmann (Hg.), Der unveränderte Stellenwert der Heiligen Schrift: Christlicher Glaube in den Herausforderungen unserer Zeit, Bd. 1, Petzenkirchen: VGTG, 2025, 308 Seiten, 15,90 Euro.
1 Zu diesem grammatischen Fehlschluss vgl. Donald A. Carson. Stolpersteine der Schriftauslegung: Wie man sorgfältig und korrekt mit der Bibel umgeht. Oerlinghausen: Betanien, 2007. S. 65ff. Der Aorist hat standardmäßig zunächst konstatierend-komplexive Bedeutung und kann in Einzelfällen den Anfangs- oder Endpunkt einer Handlung ausdrücken, vgl. Heinrich von Siebenthal. Griechische Grammatik zum Neuen Testament. Brunnen/Immanuel-Verlag: Gießen/Basel, 2011. §194.