Sola Gratia – Was „Errettung allein aus Gnade“ (nicht) bedeutet (#2)
Einleitung
Wie wird ein Mensch gerettet? Kaum eine Frage ist so grundlegend – und keine so entscheidend. Die Bibel beantwortet diese Frage mit großer Klarheit: „Bei dem HERRN ist die Rettung“ (Ps 3,9; Jona 2,10; Apg 4,12). Doch was bedeutet das konkret und heute? Welche Folgen hat das für unser Denken über Gott, den Menschen und das Evangelium?
Einer der zentralen Grundsätze der Reformation lautet sola gratia (allein aus Gnade). Diese Formel bringt eine tiefe biblische Wahrheit zum Ausdruck: Das Heil ist ein Geschenk Gottes – unverdient, nicht käuflich.
In dieser Artikelserie wollen wir uns mit den sogenannten „Lehren der Gnade“ beschäftigen – einer biblisch fundierten Zusammenfassung zentraler Aussagen über Gottes rettendes Handeln. Diese fünf Lehren werden oft zusammengefasst unter dem Akronym TULIP (deutsch: Tulpe). Im ersten Artikel ging es um das „T“ (Total Depravity, dt. Völlige Verdorbenheit), das den Weg für das „U“ bereitet:
Unconditional Election
Das „U“ in TULIP steht für Unconditional Election, also die „bedingungslose Erwählung“. Doch was ist damit gemeint, und warum fällt es vielen Christen schwer, diese Lehre zu akzeptieren?
Warum diese Lehre oft missverstanden wird
Das Wort „bedingungslos“ ruft bei manchen Assoziationen hervor, die eher an Kapitulation erinnern als an Gnade. Am Ende des 2. Weltkriegs kapitulierte Deutschland bedingungslos. Das schließt jede Verhandlung aus. Es gibt kein „Ich tue dies, wenn du jenes tust.“ Der Unterlegene gibt alles auf; der Sieger diktiert die Bedingungen.
Ein Stück weit beschreibt dieses Bild auch das Wesen der Erlösung: Der Mensch bringt nichts mit, das Gott zur Erwählung veranlasst hätte. Die Initiative und das Handeln liegt allein bei Gott. Allerdings betont dieses Bild mehr die Macht als die Gnade.
Ein alternatives Wort für Unconditional Election ist souveräne Erwählung, weil sie Gottes souveräne Freiheit in Bezug auf das Heil betont. Diese Bezeichnung hat die göttliche Seite im Blick. Diese Souveränität Gottes in Bezug auf die Errettung wird auch Prädestination genannt, ein Begriff, der bei einigen Unbehagen auslöst. Allerdings kommt man als Bibelleser nicht um diesen Begriff herum. Jede Gemeinde muss irgendeine Form der Lehre von der Prädestination haben, denn die Bibel spricht davon (vgl. Eph 1 oder Röm 9). Die zentrale Frage lautet daher nicht, ob die Bibel Prädestination lehrt, sondern was sie darunter versteht.
Worum es im Kern geht
Die Diskussion um die Erwählung kreist um eine entscheidende theologische Weichenstellung: Worauf gründet sich Gottes Erwählung? Hat Gott Menschen zum Heil erwählt, weil er im Voraus sah, dass sie sich für ihn entscheiden würden (bedingte Erwählung)? Oder erwählt Gott allein nach seinem souveränen Ratschluss – unabhängig von jeglichen vorhergesehenen Werken, Glaubensakten oder menschlichen Entscheidungen (bedingungslose Erwählung)?
Diese Frage berührt unser tiefstes Verständnis von Gottes Wesen – insbesondere seiner Souveränität, seiner Gnade und seiner Gerechtigkeit – und prägt unser Verständnis von Erlösung unmittelbar.
Wie die Bibel die Frage beantwortet
Die Schrift lehrt: Gottes Erwählung gründet sich nicht auf eine vorhergesehene menschliche Reaktion, sondern allein auf seinen souveränen Willen und seine freie Gnade. Zwei besonders aussagekräftige Bibelstellen bestätigen dies:
„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jedem geistlichen Segen in den himmlischen [Regionen] in Christus, wie er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt … nach dem Wohlgefallen seines Willens“. (Eph 1,3–5)
Die Erwählung geschieht „vor Grundlegung der Welt“, also noch bevor der Mensch existiert oder handeln kann. Sie erfolgt „nach dem Wohlgefallen seines Willens“, nicht basierend auf zukünftigen Entscheidungen. Damit ist sie ein Akt göttlicher Freiheit, nicht menschlicher Leistung oder göttlicher Vorausschau.
„Nach dem Wohlgefallen seines Willens“ bedeutet dabei aber nicht, dass Gottes Entscheidungen willkürlich wären. Willkür bedeutet, ohne jeden Grund zu handeln. Doch in der reformierten Theologie heißt „bedingungslos“ lediglich, dass der Grund nicht im Menschen liegt. Gottes Handeln ist zielgerichtet – aber eben vollständig von seiner eigenen Gnade getragen.
„… als Rebekka von ein und demselben, von unserem Vater Isaak, schwanger war, als [die Kinder] noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten — damit der gemäß der Auserwählung gefasste Vorsatz Gottes bestehen bleibe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden …“ (Röm 9,10–11)
Diese Stelle macht klar: Gottes Erwählung hängt nicht von Werken ab, sondern „von dem Berufenden“. Noch vor ihrer Geburt, ohne dass Jakob oder Esau irgendetwas getan hätten, erwählte Gott Jakob – „damit der gemäß der Auserwählung gefasste Vorsatz Gottes bestehen bleibe“. Die Erwählung ist nicht Folge, sondern Ursache. Nicht weil Jakob gut war, wurde er erwählt, sondern damit deutlich wird: Gottes Plan beruht allein auf seiner Gnade.
Zugegeben, dagegen gibt es große Einwände: Manche verweisen auf eine bestimmte Auffassung von menschlicher Freiheit und andere auf eine bestimmte Auffassung von Gott, nämlich seine Gerechtigkeit. Paulus nimmt ausdrücklich den erwartbaren Einwand in Vers 14 vorweg und fragt: „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ Dann verwirft er diesen Gedanken entschieden. Dabei hätte er jetzt die Gelegenheit, klarzustellen, dass menschliche Verantwortung die göttliche Souveränität auflöst (er tut es aber nicht). Übrigens: Wenn die Lehre von der Erwählung aufgrund der Freiheit des Menschen hinterfragt wird, ist man in guter Gesellschaft mit dem Apostel Paulus.
An diesem Punkt ist es hilfreich, zwischen Gerechtigkeit und Gnade zu unterscheiden. Gott schuldet niemandem Gnade. Gnade, die geschuldet wird, ist keine Gnade. Die Gerechtigkeit legt eine Verpflichtung auf, aber die Gnade ist ihrem Wesen nach freiwillig und frei. Menschen meinen, dass Gott, wenn er einem Menschen Gnade schenkt, im Interesse der Fairness und Gerechtigkeit auch einem anderen Gnade schenken „müsste“. Das ist jedoch ein menschliches Verständnis von Gerechtigkeit. Gerade dieses „müsste“ ist dem biblischen Gnadenbegriff fremd. Die biblische Geschichte macht deutlich, dass Gott zwar nie ungerecht zu irgendjemandem ist, aber nicht alle Menschen gleich behandelt. Denn: Gnade, die geschuldet ist, ist keine Gnade mehr (vgl. Röm 11,6).
Was die Lehre ablehnt
Ein populärer Einwand lautet: Gott sieht voraus, wer sich bekehren wird – und erwählt dann auf dieser Grundlage. Doch dieses Verständnis kehrt die biblische Logik um. In dieser Sichtweise wird der Glaube zur Bedingung der Erwählung. Die Bibel lehrt jedoch: Der Glaube ist das Ergebnis der Erwählung, nicht ihre Ursache. Folgende Bibelstellen machen dies deutlich: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm 9,16); „nach dem Wohlgefallen seines Willens“ (Eph 1,5), also nicht nach dem Vorausblick auf unseren Glauben.
Wenn Erwählung auf dem zukünftigen Glauben des Menschen basiert, ist sie nicht mehr unverdient, sondern bedingt – und somit nicht mehr Gnade im eigentlichen Sinne.
Ein weiterer häufiger Einwand richtet sich gegen die sogenannte „doppelte Prädestination“. Der Begriff weckt Ängste: Hat Gott von Ewigkeit her einige Menschen aktiv zur Verdammnis bestimmt (so wie andere zur Erlösung)? Angesichts der Tatsache, dass die Bibel sowohl Erwählung als auch Verwerfung lehrt, können wir das Thema der doppelten Prädestination nicht vermeiden. Die Frage ist also nicht, OB die Vorherbestimmung doppelt ist, sondern WIE sie doppelt ist.
Es gibt tatsächlich unterschiedliche Auffassungen von doppelter Prädestination. Eine davon ist so beängstigend, dass viele die Verwendung des Begriffs „doppelte Prädestination“ ganz vermeiden. Sie fürchten eine Prädestination, bei der Gott sowohl aktiv Glauben als auch Unglauben wirkt. Ja, es ist eine Sache, von Gottes gnädiger Vorherbestimmung zur Erwählung zu sprechen, aber eine ganz andere, davon zu sprechen, dass Gott von Ewigkeit her verfügt hat, dass bestimmte Menschen zur Verdammnis bestimmt sind. In diesem Verständnis geht man davon aus, dass Gott, so wie er positiv in das Herz der Erwählten eingreift, um sie zum Glauben zu bringen, genauso negativ in das Herz der Verworfenen eingreift, um aktiv Unglauben zu wirken. Diese Sichtweise basiert auf einer symmetrischen Sicht der Prädestination. Sie sieht eine Symmetrie zwischen dem Werk Gottes in der Erwählung und seinem Werk in der Verwerfung. Man strebt ein exaktes Gleichgewicht zwischen beiden an. Man meint, dass diese Sichtweise sich mit Bibelstellen begründen lässt, in denen davon die Rede ist, dass Gott die Herzen der Menschen verhärtet habe (z.B. beim Pharao).
Obwohl die reformierte Theologie sicherlich an einer Art doppelter Prädestination festhält, lehrt sie, dass sie nicht völlig parallel sind. Die klassische reformierte Lehre unterscheidet hier sorgfältig: Ja, Gott greift aktiv in das Leben der Auserwählten ein, um ihnen Glauben zu schenken. Aber er geht passiv an den Verworfenen vorüber und überlässt sie ihrem selbstgewählten Zustand. Römer 9,18 sagt: „So erbarmt er sich nun, über wen er will, und verstockt, wen er will.“ Das Verstocken geschieht durch Enthaltung der Gnade, nicht durch das aktive Wirken von Sünde. Denn Jakobus 1,13 macht deutlich: Gott ist nicht der Urheber des Bösen, so wie es auch in den Dordrechter Lehrregeln im ersten Lehrstück in Artikel 15 festgehalten wird.
Ja, es gibt eine doppelte Prädestination – aber sie ist asymmetrisch: Bei den Erwählten greift Gott aktiv ein, verändert ihre Herzen, ruft sie unwiderstehlich zum Leben. Bei den Verworfenen lässt Gott sie in ihrem Zustand, überlässt sie ihrem eigenen Willen und lässt sie gerecht verstocken. Er tut das nicht durch das aktive Wirken von Sünde, sondern durch das Entziehen seiner Gnade (vgl. Jak 1,13; Röm 1,24).
Gott schenkt der einen Gruppe Barmherzigkeit und lässt der anderen Gerechtigkeit widerfahren. Beides ist gerecht – aber nur das eine ist Gnade.
Worin der Nutzen dieser Lehre besteht
Diese Lehre konfrontiert unser menschliches Gerechtigkeitsempfinden – aber sie offenbart eine größere, herrlichere Realität: Erwählung ist keine Belohnung, sondern Gnade. Und Gnade ist immer ein Geschenk. Das ist nicht theologische Spitzfindigkeit, sondern hat weitreichende geistliche Bedeutung: Sie ehrt Gott, denn so ist die Errettung ganz und gar sein Werk – zu seiner Ehre. Und diese Lehre fördert menschliche Demut: Niemand kann sich auf seine Entscheidung oder seinen Glauben berufen. Alles ist Gnade. Außerdem ist es eine tröstliche Lehre: Unsere Rettung ist sicher, weil sie auf Gottes souveränem Willen beruht, nicht auf unserer Leistung. Und nicht zuletzt ermutigt sie zur Heiligung: Gottes Erwählung garantiert nicht nur das Heil, sondern auch, dass alle Bedingungen des Glaubens und Lebens aus seiner Kraft erfüllt werden.
Auf den ersten Blick wirkt diese Lehre herausfordernd – auf den zweiten offenbart sie tiefsten Trost: Gott rettet nicht, weil du geglaubt hast – sondern du glaubst, weil er dich retten wollte. Deine Rettung hängt nicht an deinem Durchhalten – sondern an Gottes ewigem Vorsatz. Du wurdest nicht zufällig gefunden – du wurdest vor Grundlegung der Welt geliebt.
Diese Lehre führt zur Anbetung: „Wir lieben ihn, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1Joh 4,19).
Sie gibt Gewissheit: „Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen … verherrlicht“ (Röm 8,30).
Und sie führt zur Heiligung: „wie er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt, damit wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe“ (Eph 1,4).