Sola Gratia – Was „Errettung allein aus Gnade“ (nicht) bedeutet
Einleitung
Wie wird ein Mensch gerettet? Kaum eine Frage ist so grundlegend – und keine ist so entscheidend. Jeder Mensch sollte sie beantworten können. Die Bibel beantwortet diese Frage mit großer Klarheit: „Errettung kommt vom Herrn“ (Ps 3,9; Jona 2,10; Apg 4,12). Viele Christen würden diesem Satz zustimmen. Doch was bedeutet das konkret und heute? Welche Folgen hat das für unser Denken über Gott, den Menschen und das Evangelium?
Einer der zentralen Grundsätze der Reformation lautet sola gratia (allein aus Gnade). Diese Formel bringt eine tiefe biblische Wahrheit zum Ausdruck: Das Heil ist ein Geschenk Gottes – unverdient, nicht käuflich. Aber wird diese Aussage heute noch richtig verstanden? Oder ist sie zu einer frommen Redewendung geworden, die wir zwar bejahen, aber innerlich mit eigenen Vorstellungen füllen? Verschiedene Redewendungen kursieren in christlichen Kreisen, wie z.B.: „Wenn du einen Schritt auf Jesus zumachst, ist er dir bereits 1.000 Schritte entgegengekommen.“ Oder: „Einmal gerettet – immer gerettet.“ Aber stimmen diese Aussagen mit dem überein, was die Schrift wirklich lehrt? Oder führen sie – trotz biblischer Anklänge – in eine falsche Richtung?
In dieser Artikelserie wollen wir uns daher mit den sogenannten „Lehren der Gnade“ beschäftigen – einer biblisch fundierten Zusammenfassung zentraler Aussagen über Gottes rettendes Handeln. Diese fünf Lehren, oft zusammengefasst unter dem Akronym TULIP (deutsch: Tulpe), sind[1]:
- Total Depravity – Völlige Verdorbenheit
- Unconditional Election – Bedingungslose Erwählung
- Limited Atonement – Begrenzte Sühne
- Irresistible Grace – Unwiderstehliche Gnade
- Perseverance of the Saints – Ausharren der Heiligen
Auch wenn diese Lehren als „Lehren der Gnade“ bezeichnet werden, sind sie nicht immer als „gnädig“ empfunden worden. Vermutlich wird auch der eine oder andere Leser Einwände und Bedenken gegen diese Lehren haben.
Der englischer Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) beschrieb eben genau diese Lehre einst als Lamm im Wolfspelz: „grausam in den Formulierungen“, aber „voller Trost für den leidenden Einzelnen“.[2]
Doch nicht jeder erkennt beides. Manche sehen nur den Wolf: eine harte, unbarmherzige Theologie, die den Menschen kleinmacht. Wie viele haben sich abgestoßen gefühlt von der Lehre, dass der Mensch völlig verdorben sei – und den Trost vermisst, den sie birgt? Andere sehen nur das Lamm: eine tröstliche Zusage wie „einmal gerettet – immer gerettet“. Sie sehen den Trost, aber nicht die Herausforderung, Tiefe und Schärfe, die dahinterstehen.
Diese Spannung lädt uns ein, neu hinzuschauen. Nicht, um uns zu entscheiden, ob wir nur den Wolf oder nur das Lamm sehen wollen – sondern um beides zu erkennen: die unerbittliche Wahrheit über uns selbst und die überwältigende Barmherzigkeit Gottes.
Das Ziel dieser Reihe ist es daher nicht, ein theologisches System zu verteidigen, sondern biblische Wahrheiten neu zu entdecken. Dabei werden wir uns ehrlich mit Einwänden, Missverständnissen und modernen Verzerrungen auseinandersetzen. Es soll ein Impuls zum Nachdenken und eine Einladung sein, Gottes Gnade tiefer zu verstehen – und ihr ganz zu vertrauen.
Denn: Die Errettung ist das Werk des dreieinigen Gottes – vom Vater geplant, durch den Sohn vollbracht und durch den Heiligen Geist angewandt. Ihm allein gehört alle Ehre.
Total Depravity
Der erste Buchstabe des TULIP-Akronyms steht für „Total Depravity“, zu Deutsch: totale oder völlige Verderbtheit. Er beschäftigt sich mit der menschlichen Seite des Heilsgeschehens – mit unserem Zustand vor Gott nach dem Sündenfall. Doch was bedeutet diese Lehre wirklich – und was nicht?
Warum die Lehre oft missverstanden wird
Was denken manche Menschen möglicherweise, wenn sie die Beschreibung „totale Verderbtheit“ hören? Sie denken vielleicht: „Als Sünder sind wir so verdorben, wie wir nur sein können. Nichts, was wir tun, kann in irgendeiner Weise als gut, gütig oder edel bezeichnet werden.“
Kein Wunder, dass manche Menschen diese Lehre instinktiv ablehnen – besonders wenn sie an ihre liebe, aber nicht-gläubige Großmutter denken, die aufopfernd, großzügig und herzlich war. Erleben wir nicht täglich, dass auch Nichtchristen Gutes tun, sich für andere einsetzen und aufrichtig lieben? Diese Beobachtung ist nicht falsch, aber sie greift zu kurz.
Auch die Reformatoren wussten: Menschen im gefallenen Zustand können äußerlich Gutes tun. Sie können äußerlich die Gebote einhalten, freundlich, selbstlos oder wohltätig handeln. In welchem Sinn ist der Mensch also „total verdorben“?
Die Lehre von der totalen Verderbtheit meint nicht, dass der Mensch so schlecht ist, wie er nur sein könnte. Selbst Menschen mit schwerem moralischem Versagen zeigen punktuell liebevolles Verhalten.
Anstatt zu behaupten, wir seien so gefallen, wie wir nur sein können, sagt diese Lehre aus, dass jeder Teil von uns von der Sünde betroffen ist. Jeder Bereich unseres Menschseins – Verstand, Wille, Gefühl, Körper – ist von der Sünde betroffen. In diesem Sinn können wir tatsächlich nichts Gutes vor Gott tun. Daher ist es besser, von „radikaler Verderbtheit“ zu sprechen. Das Wort radikal leitet sich vom lateinischen radix ab, was „Wurzel“ bedeutet. Gemeint ist also: Die Sünde sitzt tief. Sie dringt bis in den Kern unseres Wesens vor.
Worum es im Kern geht
Im Kern geht es also um diese Frage: Was ist der geistliche Zustand des natürlichen Menschen nach dem Sündenfall? Ist der Mensch nur krank oder geistlich tot? Ist er noch in der Lage, sich aus sich selbst heraus Gott zuzuwenden?
Drei mögliche Sichtweisen stehen sich gegenüber:
- Der Mensch ist im Kern gut.
- Der Mensch ist geistlich krank.
- Der Mensch ist geistlich tot.
Die biblische Lehre vertritt klar die dritte Option.
Wie die Bibel die Frage beantwortet
Bereits der Sündenfall in 1. Mose 3 beschreibt nicht nur den Beginn, sondern auch die Konsequenzen menschlicher Rebellion gegen Gott. Unser Körper lässt uns im Stich, unser Augenlicht wird schwächer, unser Haar wird grau, unsere Kräfte schwinden. Wir werden krank, und am Ende sterben wir. Die Bibel sagt, dass all dies eine Auswirkung der Sünde auf unseren Körper ist, wobei sich jedoch die Macht der Sünde auch auf unser Herz, unseren Willen und unseren Verstand auswirkt. Wir können denken, aber unser Denken ist verzerrt. Die Erbsünde ist nicht lediglich die erste Sünde von Adam und Eva, sondern die bleibende Verderbnis, die seitdem die ganze Menschheit durchdringt. Paulus beschreibt diesen Zustand drastisch in Römer 3,10–12:
„Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“
Die Schrift beschreibt den natürlichen Menschen als geistlich tot: „Und auch euch hat er auferweckt, die ihr tot wart in euren Übertretungen und Sünden“ (Eph 2,1; Hervorhebung hinzugefügt). Dieser geistliche Zustand betrifft unser ganzes Wesen:
- Unser Verstand ist verfinstert (vgl. Röm 1,21).
- Unser Herz ist trügerisch und unheilbar krank (vgl. Jer 17,9).
- Unser Wille ist versklavt unter die Sünde (vgl. Joh 8,34).
Was die Lehre ablehnt
Die biblische Lehre der radikalen Verderbtheit widerspricht den Annahmen, dass …
- der Wille des Menschen vom Sündenfall unberührt geblieben sei.
- der Mensch von Natur aus neutral oder „offen für Gott“ sei oder dass es einen guten Kern inmitten des eigentlich bösen Herzens gebe, mit dem er sich für Gott entscheiden könne.
- der Mensch aus eigener Kraft zum Heil gelangen könne.
Jesus selbst lehrt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass ihn der Vater zieht“ (Joh 6,44).
Der Mensch kann nicht zum Vater kommen, weil er nicht will – und er will nicht, weil er geistlich tot ist. Sein Wille ist zwar funktional vorhanden, aber moralisch unfähig, das Richtige – nämlich Gott selbst – zu wählen.
Der Theologe Jonathan Edwards unterschied deshalb zwischen natürlicher Fähigkeit (Entscheidungsfreiheit) und moralischer Fähigkeit (Entscheidungsneigung).[3] Wir können zwar wählen – aber wir wollen nicht, was Gott gefällt. Selbst Calvin, oft als rigoroser Vertreter dieser Lehre gesehen, sprach dem Menschen die Entscheidungsfähigkeit nicht ab. Doch er fragte: „Warum sollte eine so kleine Sache mit einem so stolzen Titel wie ‚freier Wille‘ gewürdigt werden?“[4]
Worin der Trost dieser Lehre liegt
Zugegeben: Die Lehre von der radikalen Verderbtheit ist auf den ersten Blick ernüchternd, aber dennoch tief heilsam und befreiend. Denn sie zerbricht den menschlichen Stolz und schafft Raum für echte Demut. Sie macht Gottes Gnade wirklich zu Gnade, weil sie menschliches Verdienst ausschließt. Denn sie stellt klar, dass der Mensch keine Hilfe, sondern eine Neuschöpfung braucht (vgl. Joh 3,3). So führt sie zur Anbetung Gottes, der rettet, obwohl wir ihn nicht gesucht haben, und bewahrt das Evangelium davor, menschzentriert zu werden. Außerdem lässt sie Gott alle Ehre zukommen.
Die Lehre von der radikalen Verderbtheit ist also nicht der pessimistische Tiefpunkt dieser Wahrheiten, sondern der realistische Startpunkt echter Bekehrung: Nur wer erkennt, dass er geistlich tot ist, wird die Gnade Gottes als das erkennen, was sie wirklich ist: ein Wunder. Und nur wer weiß, dass er verloren ist, wird sich Christus voller Dankbarkeit zuwenden.
Und so bereitet das „T“ den Weg für das „U“ – die bedingungslose Erwählung, durch die Gott rettet, wen er will. Nicht weil wir ihn gesucht hätten, sondern weil er uns zuerst geliebt hat.
1 TULIP stellt eine Zusammenfassung der von der Synode von Dordrecht, Niederlande, verfassten „Dordrechter Lehrregeln“ von 1619 dar.
2 Vgl. https://www.desiringgod.org/articles/the-five-not-points-of-calvinism (Stand: 29.08.2025).
3 Jonathan Edwards, The Works of Jonathan Edwards, Vol. 1, Edinburgh: Banner of Truth, 1974, S. 156 ff.
4 Johannes Calvin, Institutio, II,2.4.