Ohne die Rechtfertigung ist das Evangelium keine gute Nachricht
Nach dem Buch Genesis ist der Fluch, der aus dem Sündenfall der Menschheit resultiert, allumfassend. Der Bruch zwischen Mensch und Gott (sowohl rechtlich als auch beziehungsmäßig) führte zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die Erde, die gegen menschliche Gewalt und Tod aufschreit, bringt ihre Früchte nur widerwillig hervor und seufzt nach Erlösung aus ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft. Und so beginnt die Geschichte hinter allen Geschichten der Bibel: Es entbrennt ein Krieg zwischen den Nachkommen der Schlange (bereits sichtbar bei Kain) und dem Nachkommen der Frau (ab Abel). Nicht mehr heilig, ohne eine heilige Berufung, nicht mehr in einem heiligen Land in Frieden und Sicherheit mit Gott – so lebt die königliche Familie „jenseits von Eden“.
Während Gott noch den Fluch ankündigte, verhieß er überraschenderweise eine zukünftige Erlösung und setzt darauf eine allgemeine Gnadenordnung ein, damit er dieses gnädige Versprechen in der Geschichte verwirklichen kann. Wenn Gott beispielsweise Abraham und Sara aus reiner Gnade als Eltern eines auserwählten Volkes bestimmt, setzt sich die Verheißung zunächst in einer typologischen Familie (über ethnische Nachkommen) fort und mündet schließlich in die einseitige und bedingungslose Ankündigung eines einzigen Nachkommen, der zum hinreichenden Mittler für alle Völker werden wird. Aus Saras unfruchtbarem Schoß kommt schließlich der verheißene Nachkomme Evas. Die reformatorische Theologie hat stets betont, dass die von Gott geschaffene Natur zwar gut, aber dennoch verdorben ist; die Verderbtheit ist in ihrem Ausmaß total (betrifft sie doch Herz, Verstand, Wille und Körper), nicht jedoch in ihrer Intensität (als ob das Ebenbild Gottes ausgelöscht werden könnte). Es gibt demnach erstmal gar keine Erfolgsaussichten für Christi gnädiges Erlösungswerk. Ohne die Wiedergeburt würde ihn kein Mensch auf der ganzen Welt willkommen heißen. Doch wie es der Calvinist Isaac Watts im Lied „Freue dich, Welt” ausdrückt, hat uns das Heilmittel „von allem Fluch befreit“ (engl. the remedy reaches „far as the curse is found“). Daher ist es zu kurz gegriffen, das Evangelium einfach nur als Lösung für eines unserer vielen Probleme zu betrachten. Dennoch sehen reformierte Theologen in der Rechtfertigung die Grundlage für die Heiligung und Verherrlichung der Gläubigen.
Der rote Faden der Heiligen Schrift
Christus selbst ist die Lösung für den allumfassenden Fluch. Er ist das fleischgewordene Evangelium. Er selbst sagte, er sei das verbindende Element der Heiligen Schrift (vgl. Lk 24,27; Joh 5,39), und von Irenäus wird überliefert, dass der Zusammenhang der Schrift in „Christus, dem Mosaik“ liegt, in dem jedes einzelne Teil seinen besonderen heilsgeschichtlichen Platz hat.
Die protestantischen Reformatoren und ihre konfessionellen Erben sagten, der Geltungsbereich der Schrift sei Christus, wie er in seinem Evangelium erscheint. Natürlich gibt es auch andere Themen, Gattungen, Nebenfiguren und Handlungsstränge, aber sie alle sind dieser einen Botschaft untergeordnet, die im Verlauf der Geschichte immer klarer hervortritt. Daher kann es nicht mehrere Evangelien geben, sondern nur eines – wenn auch mit vielen Facetten.
Die gute Nachricht ist ebenso allumfassend wie die schlechte Nachricht – sie ist sogar noch umfassender, denn sie verkündet nicht einfach eine bloße Rückkehr in einen unbefleckten Naturzustand. Vielmehr kündigt sie einen zukünftigen, vollendeten Zustand an, den außer unserem erhöhten Bruder Jesus kein Sterblicher je erfahren hat (vgl. 1Kor 2,9; Hebr 2,8–9).
Das sich in erzählender, poetischer, apokalyptischer, weisheitlicher und lehrhafter Literatur entfaltende Drama der Heiligen Schrift hat verschiedene Auslegungsdisziplinen hervorgebracht, darunter Bibelwissenschaft, Biblische Theologie und Systematische Theologie. Dies ist nur folgerichtig für die Auslegung, da die verschiedenen biblischen Texte eine kohärente historische Handlung erkennen lassen, deren Implikationen durch logische Verknüpfungen dargestellt werden können.
Ähnlich wie eine topografische Karte zeigt die biblische Theologie die Gipfel und Täler sowie die Bäche, die in den mächtigen Strom münden, der zu Christus führt. Die Systematische Theologie gleicht dagegen eher einer Straßenkarte und zeigt die inneren Zusammenhänge all der Segnungen auf, die wir in Christus haben. Einige der Spannungen bei der Definition des Evangeliums ergeben sich zweifellos daraus, ob man die erste (z. B. die Geschichte Israels) oder die zweite Perspektive (z. B. den „Heilsplan“) bevorzugt. Beide Ansätze sollten jedoch als untrennbar verbunden betrachtet werden.
Das Drama der biblischen Heilsgeschichte ist die Quelle der Lehre, die zur Doxologie und zur Nachfolge führt. Aus dem Drama erfahren wir beispielsweise, dass Christus gekreuzigt, begraben und am dritten Tag auferweckt wurde, gemäß der Schrift (vgl. 1Kor 15,3–4). Doch erst aus der Lehre geht die Bedeutung für uns hervor: „Der um unserer Übertretungen willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt worden ist“ (Röm 4,25). Wenn ich das Evangelium in einem Satz zusammenfassen müsste, könnte ich keinen besseren finden als diesen. Wir mögen das Haus des Evangeliums durch viele Türen betreten. Aber nur, wenn wir darauf vertrauen, dass uns die Rechtfertigung vor einem heiligen Gott schützt, können diese anderen Eingänge sichere Durchgänge sein – und nicht ein verwirrender und furchteinflößender Irrgarten.
Die Gute Nachricht der Rechtfertigung
So wie es viele erzählerische Nebenhandlungen gibt, die ein sich entfaltendes Drama unterstützen, so gibt es auch viele Lehren, die auf die überreiche Gnade hinweisen, die der Vater uns in Christus und durch seinen Geist erwiesen hat. Doch ohne die Rechtfertigung der Gottlosen werden selbst die majestätischsten Facetten für mich als Sünder zu einem verdammenden Gesetz.
Der souveräne Gott, der erwählt und Erbarmen hat, mit wem er will, kann nur furchteinflößend sein, wenn ich nicht die Gewissheit habe, dass ich allein durch den Glauben an Christus gerechtfertigt bin. Die Wiederkunft Christi in Herrlichkeit kann nur eine angstmachende Aussicht sein, wenn Jesus mir sagt, dass er im Endgericht die Schafe von den Böcken scheiden wird.
Wie kann es für mich eine gute Nachricht sein, dass der Heilige Geist mich allmählich in das Bild Christi verwandelt, wenn ich doch weiß, dass dieses in mir begonnene gute Werk in diesem Leben nie vollendet sein wird? Ohne die Gewissheit, dass ich vor Gott bereits für gerecht erklärt bin und der Thron des Gerichts für mich zu einem Thron der Gnade geworden ist, ist die unheilvolle Aussage, dass ohne die Heiligung niemand den Herrn sehen wird (vgl. Hebr 12,14), nur eine Drohung für mich.
Eine rein kreuzzentrierte Theologie kann die heilsbringende Bedeutung der Menschwerdung des Wortes nicht hinreichend erklären. Die Inkarnation allein beseitigt nicht das Hindernis, Gemeinschaft mit Gott haben zu können. Wir brauchen ebenso die Auferstehung und die Himmelfahrt. Die Auferstehung beweist nicht nur die Göttlichkeit Jesu, sondern ist auch ein weiterer Aspekt seines Erlösungswerks. Darüber hinaus ist die Himmelfahrt Christi nicht bloß ein Ausrufezeichen hinter der Auferstehung, sondern eine weitere Etappe zur Vollendung der Erlösung. Durch all diese Ereignisse im Leben Christi wird denjenigen, die mit ihm vereint sind, vergeben und sie werden gerechtfertigt, geheiligt und verherrlicht.
Gerade deshalb kann das Evangelium natürlich nicht auf die Rechtfertigung reduziert werden. Aber abgesehen von dieser Tatsache – dass unsere Schuld Christus angerechnet und seine Gerechtigkeit uns zugerechnet wird – gibt es keine gute Nachricht! Wenn die Gerechtfertigten den Rest der guten Nachricht hören, freuen sie sich; aber wenn diese weiteren Segnungen das Problem der objektiven Schuld vor Gott ersetzen sollen, werden sie zu einem ganz anderen Evangelium.
Christus ist zwar der Sieger über die bösen Mächte, doch der Grund seines Triumphs bestand darin, die gegen uns gerichtete Schuldschrift auszulöschen, die durch Satzungen uns entgegenstand, indem er sie ans Kreuz nagelte (vgl. Kol 2,14–15). Jesus kam, um den Tod zu vernichten. Aber wie? Der Tod liegt letztlich nicht in den Händen Satans und seiner Schergen. Er ist eine von Gott für unseren Verrat verhängte gesetzliche Strafe: „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz“ (1Kor 15,56). Wenn die Anklage aufgehoben ist, ist auch das Urteil aufgehoben – der Teufel hat keine rechtliche Grundlage mehr, uns im Grab festzuhalten (vgl. V. 57). Das ist die gute Nachricht!