Durch das dunkle Tal der Fehlgeburt
Mein Körper bebte vor Schluchzen. Die Krankenschwestern konnten nicht anders, als mich jedes Mal, wenn sie das Krankenzimmer betraten, an der Schulter, der Hand oder am Fuß zu drücken. Irgendwann hatte ich so lange so heftig geweint, dass eine von ihnen das Bedürfnis verspürte, zu sagen: „Alles wird gut, meine Liebe.“ Sie muss gedacht haben, es sei wegen der Unterleibsschmerzen, der Blutungen oder der bevorstehenden Operation. „Ich weiß“, flüsterte ich. „Aber ich vermisse unser Baby.“
So rücksichtsvoll sie auch waren, fiel es dem Personal schwer, meine Traurigkeit zu verstehen. Vielleicht kann das niemand, der ein ungeborenes Kind als „Überreste des Fötus“ bezeichnet. Sie schienen jedes Mal befremdet wegzuschauen, wenn mein Mann und ich unser Baby als das bezeichneten, was es war: unser Baby.
Aber jetzt war unser Baby nicht mehr da, und mit ihm auch die geregelten Atemzüge und klaren Gedanken. Hatte ich das verursacht? Ich hätte mich mehr schonen sollen. War es Sünde? Ich war in letzter Zeit so ungeduldig und schroff. Wenn ich nur nicht ... Wenn ich nur ...
Nie zuvor befand ich mich in einem solchen Tal der Trauer.
Unser größtes Bedürfnis im Tal der Trauer
Unerklärliche Trauer, verzweifelte Fragen, nachwirkende Schwangerschaftshormone – in den Tagen und Wochen nach einer Fehlgeburt wird der Glaube einer Mutter oft auf eine harte Probe gestellt, da wir Schmerzen empfinden, die wir kaum verstehen können. Wir haben unser Kind verloren – aber wer war dieses Kind? War es ein Mädchen oder ein Junge? Hatte es Mamas Nase oder Papas Augen? Wir werden nie ihr erstes Wort hören, nie erfahren, was sein Lieblingsessen ist, ihr nie das Lesen beibringen und ihm nie beim Laufen zusehen können. Ein Großteil unseres Schmerzes rührt daher, dass wir ein Geschenk erhalten haben, aber so wenig Zeit hatten, es auszupacken, zu halten und zu lieben.
Stattdessen tauchen viele Fragen auf. Wenn sie unbeantwortet bleiben oder nur durch unseren Schmerz beantwortet werden, können sie uns von dem entfernen, was Gott uns in Christus sein möchte. Anstatt uns an ihn als „den Vater der Barmherzigkeit und den Gott allen Trostes“ (2Kor 1,3–4) zu klammern, beginnen wir uns zu fragen, wer er ist, wo er ist, was er tut – und warum unser Baby nie seinen ersten Atemzug machen durfte. Gott, den wir an dem Tag, als wir den positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielten, als souverän, gut und uns nah empfanden, fühlt sich plötzlich unerreichbar an. Wir beginnen, ihn aus der Ferne misstrauisch zu beäugen. Wir hatten gedacht, er sei unser guter Geber. Nimmt er uns stattdessen gefühllos, was wir haben?
Aber der Gott, an dem wir so schnell zweifeln, meldet sich noch viel schneller zurück. Über viele Jahrhunderte hat er ein Buch hinterlassen, das nicht nur voller wahrer Worte steckt, sondern das uns auch Trost und Kraft schenkt. Es geht darin um ihn selbst. Egal wie viele Tränen wir vergießen, Mütter, die sich an seine Worte klammern, können an Gott, dem ewigen Leben und der Frömmigkeit festhalten (vgl. 2Petr 1,3). Es gibt wirklich keinen besseren Weg durch das Tal der Fehlgeburt.
Worte, die Hoffnung schenken
Wie eine Mutter nach einer Fehlgeburt kannte auch der Verfasser der Klagelieder den Schmerz des Verlustes. Vor seinen Augen verwüsteten die Babylonier Jerusalem. Er sah, wie Kinder von den Angreifern fortgeschleppt wurden. Er sah, wie Israels Herrscher flohen. Er sah, wie Jung und Alt nach Brot suchten – und mit leeren Händen dastanden, eingehüllt in die Asche der zerstörten Stadt. Schließlich konnte er den Anblick nicht mehr ertragen und weinte.
Doch selbst als sein Blick verschwamm und sich ihm der Magen umdrehte, hielt er innerlich an etwas fest – etwas, das viel standhafter war als Salomos Tempel:
„Dieses aber will ich meinem Herzen vorhalten, darum will ich Hoffnung fassen: Gnadenbeweise des Herrn sind’s, dass wir nicht gänzlich aufgerieben wurden, denn seine Barmherzigkeit ist nicht zu Ende; sie ist jeden Morgen neu, und deine Treue ist groß!“ (Klg 3,21–23)
Trotz seines unermesslichen Schmerzes kann er sagen, dass er „Hoffnung fassen“ will. Wie ist das möglich? Weil er sich an das „darum“ klammert – an die Wahrheit von Gottes unendlicher Liebe, Barmherzigkeit und Treue. Er ruft sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Jedes Mal, wenn der Schmerz ihn überwältigt und ihm zuflüstert, wie Gott jetzt zu sein scheint, richtet er seinen Blick auf das, wie Gott sich „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps 90,2) gezeigt hat.
Liebe trauernde Mutter, wie viel größer ist dein Zugang zur Wahrheit und damit zu Gott selbst? In der Bibel lesen wir Worte, die Gott für uns gesprochen hat (vgl. 2Tim 3,16). Jedes einzelne ist wahr (vgl. Spr 30,5) und bringt Licht (vgl. Ps 119,130). Stell dir vor, wie weit der Verfasser der Klagelieder in seinem Leid gegangen wäre, um nur ein einziges Exemplar der vollständigen Bibel zu besitzen, die wir heute in den Händen halten dürfen. Und doch war schon diese eine Wahrheit für ihn genug. Sollte die ganze Bibel da nicht für uns reichen?
Selbst wenn Tränen unseren Blick trüben, Hormone unsere Gefühle durcheinanderbringen und Trauer unsere Gedanken beschwert – der Weg zur Wahrheit steht offen. Sie führt uns immer zu Gott, ihrer Quelle. Was wir im Nebel von Verlust und Schmerz nicht sehen können, können wir lesen. Die Bibel ist voller Worte, die Hoffnung schenken (vgl. Röm 15,4).
Darum ist es gut, unsere Zeit und Kraft auf Abschnitte zu richten, die unsere dunkelsten Fragen berühren. Hat Gott auch die Kontrolle über Fehlgeburten? Wenn ja, was tut er damit – und kann er dann wirklich gut sein? Darauf wünschte ich mir oft eine klare Antwort. Für den Moment lasse ich euch die Bibelstellen da, die mir selbst Halt gegeben haben – vielleicht helfen sie auch euch: Hiob 1, Jesaja 48, Psalm 91 und 119 sowie Römer 8.
Nicht über, sondern zu Gott sprechen
Trauer kann nicht nur unsere Gedanken trüben, sondern uns auch die Worte fürs Gebet nehmen. Wenn wir uns von Kindern verabschieden müssen, die wir nie im Arm gehalten, gefüttert oder angekleidet haben – die wir aber unbeschreiblich geliebt haben –, spüren wir vielleicht kaum den Wunsch, uns an den zu wenden, der sie nach unserem Empfinden entweder „nicht verschont“ hat oder „nicht retten konnte“. Wir verkriechen uns in unser Schneckenhaus, weil wir der Lüge glauben, dass Gott entweder gleichgültig oder ohnmächtig sein muss.
Doch selbst wenn wir nicht glauben können, ist Gott bereit, uns durch sein Wort zu helfen. In unseren dunkelsten Stunden können wir nicht nur uns selbst mit der Bibel zusprechen, sondern sie auch als Gebet vor Gott bringen. Wenn uns die Worte fehlen, können wir einfach das Buch aufschlagen, das uns tausend Möglichkeiten zum Beten schenkt.
Ein Beispiel dafür sind die Klagelieder. In Kapitel 3,21–23 erinnert sich der Autor daran, dass Gottes Barmherzigkeit „jeden Morgen neu ist“, und wendet sich sofort an Gott: „Deine Treue ist groß.“ Er atmet die Wahrheit erst tief ein, um sie dann in einem Gebet auszuatmen. Wir müssen nicht meinen, dass das eine leichte Übung für ihn war. Er schreibt direkt davor:
„Er ließ meine Zähne sich an Kies zerbeißen, hat mich niedergedrückt in die Asche. Ja, du hast meine Seele aus dem Frieden verstoßen, dass ich das Glück vergaß. Und ich sprach: Meine Lebenskraft ist dahin, und auch meine Hoffnung auf den HERRN!“ (Klgl 3,16–18)
Er spürt also, wie ihn der Schmerz von Gott wegzieht – genau wie wir. Denn Verzweiflung spricht oft lieber über Gott als zu Gott. Eine Gewohnheit, der wir im Leid widerstehen lernen müssen. Denn wer nur über Gott nachdenkt, ohne mit ihm zu reden, treibt oft unbemerkt von ihm weg.
Gerade hier kann uns die Bibel zurückführen zu der vertrauten Sprache des Gebets, die wir jetzt dringender brauchen als je zuvor. Ob wir eine Passage wie in den Klageliedern zu einem eigenen Gebet machen, einen Psalm Vers für Vers beten oder eine Bitte aus dem Neuen Testament übernehmen: Gott hat alles vorbereitet, damit trauernde Mütter auch mit tränennassen Augen zu ihm sprechen können. Was für eine Liebe wird doch sichtbar! Wenn uns die Worte fehlen, leiht er uns seine eigenen.
Allezeit bei mir
Wenn wir durch das Tal der Fehlgeburt gehen, ist unser Schmerz kein guter Anführer. Überlassen wir uns dem Schmerz, wird er uns kaum eine biblische Sicht auf Gott und Leiden zeigen. Stattdessen versucht die Trauer, unsere Wahrnehmung der Realität zu beeinflussen. Sie drängt unsere Herzen zu Zweifel, Misstrauen oder Groll.
Doch wir müssen den Weg zurück in Gottes Hände nicht aus eigener Kraft finden – weder durch unsere Gefühle, Überlegungen oder Vernunftschlüsse. Sein Wort gilt. Wir dürfen es lesen und beten. Und so bahnt sich langsam ein Weg durch das Tal. Auch wenn unser Bauch nicht mehr wächst und keine Ultraschalltermine mehr anstehen, gibt es einen Weg, den Verlust nicht nur zu ertragen, sondern daran zu wachsen: „von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt“ (vgl. Mt 4,4).
Kein Tal ist so tief, dass Gott uns dort nicht erreichen könnte. Wenn wir Jesus kennen, brauchen wir nur sein Wort zu öffnen – und entdecken, dass er die ganze Zeit bei uns ist: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“ (Ps 23,4).
Liebe Mütter, so können wir gemeinsam lernen, uns nicht von der Angst bestimmen zu lassen. Stattdessen gehen wir auf das zu, von dem wir wissen: Genau das braucht unsere Angst am meisten – die Gemeinschaft mit Gott, in der wir durch sein Wort gestärkt werden.