Was war vor dem Anfang?

Vier Sichtweisen auf Gott (und das Leben)

Artikel von Glen Scrivener
6. August 2025 — 8 Min Lesedauer

A.W. Tozer schreibt in seinem Buch Das Wesen Gottes, dass unsere Auffassung von Gott das Bedeutendste ist, das es über uns zu sagen gibt. Weiter schreibt er: „Aufgrund eines verborgenen Gesetzes der Seele neigen wir dazu, unserem geistigen Gottesbild nachzustreben“ (S. 10).

Tozer hat recht: Es ist unvermeidlich, dass wir durch das geformt werden, was wir als das Höchste, Reinste, Beste erachten. Es ist dabei unerheblich, ob wir an den Gott der Bibel, an Odin oder an Mächte mit säkularer anmutenden Bezeichnungen wie Schicksal, Physik oder Finanzen glauben. Wir haben alle einen „Gott“ und anhand dieses „Gottes“ richten wir uns in der Welt aus. Dasselbe gilt allerdings auch andersherum. Ja, unser geistiges Gottesbild formt unsere Wünsche und Entscheidungen, aber unsere Wünsche und Entscheidungen formen auch unser Gottesbild. Es liegt in der Natur des gefallenen Menschen, dass wir Gott nach unserem Bild schaffen, da unser Geist in den Worten von Johannes Calvin „eine Werkstatt von Götzenbildern“ (Institutio, I,11.8) ist. Wir erschaffen uns in unserer Vorstellung geeignete Götter und handeln entsprechend.

Das können wir sowohl auf kultureller als auch auf persönlicher Ebene beobachten. Ist dir je aufgefallen, dass kriegerische Völker kriegerische Götter anbeten? Philosophen stellen sich Gott als den ultimativen Denker vor. Hippe Freigeister träumen hingegen von entspannten Göttern. Es ist, als wäre der Himmel ein riesiger Spiegel. Ich behaupte, die göttliche Realität zu erblicken, während ich in Wahrheit nur mich selbst sehe. Ich spreche vielleicht von „Gott“, aber ich meine MICH – in Großbuchstaben. Das bedeutet, dass ein Reden über Gott zwar nötig, aber immer auch fehlerbehaftet ist. Wie können wir zur Wahrheit gelangen?

„Im Anfang“

Um deinem Gottesbild auf die Spur zu kommen, kann die Antwort auf die folgende Frage hilfreich sein: Was glaubst du, war „im Anfang“ –  vor den Menschen, Planeten und Protonen? Wenn du die Geschichte des Universums so weit wie möglich zurückspulen könntest, was würdest du dann vorfinden?

Ich glaube, dass es im Wesentlichen vier mögliche Antworten auf diese Frage gibt. Sie schließen einander nicht aus, sie können sich überlappen. Bei jedem Menschen spielen folgende vier Möglichkeiten aber in unterschiedlicher Kombination in seine Vorstellung der ultimativen Realität mit hinein:

1. Nichts

Auf die Frage „Was kam vor dem Universum?“ werden viele antworten: „Nichts. Das Universum ist alles, was es gibt!“ Obwohl diese Antwort so weit verbreitet ist, lohnt es sich dennoch, darüber nachzudenken, dass sie alles andere als offensichtlich ist.

Stell dir das Nichts einmal vor. Keinen dunklen Abgrund. Keine weite Leere. Kein leeres Grundstück, auf dem der Kosmos erbaut werden könnte. Nein, einfach nichts. Die vollkommene Verneinung. Nichts. Überhaupt nichts! Und dann wird aus nichts plötzlich alles – ohne Grund. Wenn man darüber nachdenkt, wäre dies das außergewöhnlichste Ereignis von allen. Ich glaube als Christ an die jungfräuliche Geburt von Jesus, aber das wäre die jungfräuliche Geburt des Kosmos – und das sogar ohne eine Jungfrau! Das ist der ultimative Zaubertrick: kein Ass im Ärmel, kein Ärmel, kein Zauberer, keine Erklärung. Nur pure Zauberei, aus dem Nichts.

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass ein solches Wunder möglich ist – welche Schlussfolgerung müssten wir daraus ziehen? Was würde dies für den Sinn des Lebens bedeuten, wenn wir alle aus dem Nichts hervorgegangen sind? Vielleicht sollen auch wir versuchen, aus Nichts etwas zu machen. Es ist jedoch schwer, daraus nicht zu folgern, dass am Ende doch alles sinnlos ist.

2. Chaos

Vielleicht ist letzten Endes alles auf den Zufall zurückzuführen. Vielleicht sind Kräfte am Wirken, die frei von jeglicher Logik herumwirbeln. Wir hören häufig „wissenschaftliche“ Versionen dieser Theorie – mit Explosionen und wilden Zufällen. Zudem gibt es auch religiöse Versionen dieses Ansatzes, voller launischer Götter und endloser Kämpfe. In beiden Varianten – sowohl der wissenschaftlichen als auch der spirituellen – ist die Menschheit ins Kreuzfeuer dieses Durcheinanders geraten und dort gestrandet. Manche haben Glück, manche nicht, alle werden in das Chaos verwickelt.

Wenn das die ultimative Geschichte der Welt wäre, was wäre dann der Sinn des Lebens? Im Wesentlichen wäre es ein Überlebenskampf.

3. Kräfte

Hierbei handelt es sich um eine beliebte Alternative zur Chaosgeschichte. In ihr wird die Realität beherrscht durch weit entfernte höhere Mächte – in Stein gemeißelte Naturgesetze sozusagen. Wenn das der Fall ist, lässt sich unsere Psychologie auf Biologie herunterbrechen, die sich auf Chemie herunterbrechen lässt, die sich auf Physik herunterbrechen lässt – Moleküle, die wie Billardkugeln aufeinandertreffen.

Auch religiöse Menschen können an diese Erklärung glauben. Sie neigen sehr leicht dazu, sich Gott als allmächtigen Einzelgänger in vollkommener Abgeschiedenheit vorzustellen. Der Gott der Isolation ist ganz einfach Macht und Stärke. Nachdem der Schöpfungsakt vollzogen war, besteht nun die Möglichkeit zur Liebe, aber sie wird ausschließlich und immer sekundär zu seiner Macht sein. Und so ist das Leben in diesem Universum letztendlich Sklaverei.

Aber so sieht Jesus die Dinge nicht. Laut Jesus war am Anfang Liebe.

4. Liebe

Wenn du und ich über „den Anfang“ sprechen, ist es reine Spekulation. Wenn Jesus über „den Anfang“ spricht, ist es ein Augenzeugenbericht. Jesus sagt, dass er dabei war. In der Nacht vor seinem Tod betete er: „Vater … du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt“ (Joh 17,24).

Jesus drückt damit aus, dass er älter als das Universum ist – so alt wie der Vater, zu dem er betet. Er zeichnet das Bild einer ewigen Quelle der Liebe und Freude, die vom Vater zum Sohn sprudelt. Im Anfang war nicht nichts, kein Chaos, nicht diverse Mächte, sondern ein gewaltiger Wasserfall aus Liebe und Freude. Im selben Atemzug betet Jesus, dass die, die ihm nachfolgen, auch an diesem Leben der Liebe teilhaben sollen: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast“ (Joh 17,24).

Das ist ein atemberaubendes Bild der ultimativen Realität. Und es bestätigt das, was wir im tiefsten Inneren bereits intuitiv erahnen. Wir können alle spüren, dass Liebe das Größte ist. Mit Jesus können wir jedoch wissen, warum sie das Größte ist: Weil Gott, der Größte von allen, selbst Liebe ist. Was wäre infolgedessen der Sinn des Lebens? Unseren Platz in dieser Liebe zu finden und sie dann weiterzugeben.

Der Himmel ist offen

Tozer hat Recht. Unser Gottesbild ist das Wichtigste, das es über uns zu sagen gibt. Wenn wir denken, dass die ultimative Realität im Grunde nichts ist, ist das Leben sinnlos. Wenn sie Chaos ist, ist das Leben ein Kampf. Wenn Kräfte die ultimative Realität sind, ist das Leben Sklaverei. Deshalb ist es entscheidend für den wahren Gott, sich zu zeigen. Göttliche Offenbarung ist unsere einzige Rettung vor menschengemachten Göttern und einer trostlosen Auffassung des Lebens. Und deshalb sind wir ewiglich dankbar dafür, dass am Jordan der Himmel geöffnet wurde.

„Und als Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser; und siehe, da öffnete sich ihm der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabsteigen und auf ihn kommen. Und siehe, eine Stimme [kam] vom Himmel, die sprach: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ (Mt 3,16–17)

Hier ist der gewaltige Wasserfall der Liebe: Der Vater ist voller Freude über seinen Sohn und füllt ihn mit dem Heiligen Geist. Wenn du zurückspulst und alle Dinge zurückdrehst auf „im Anfang“, kannst du nie zu einer Stelle vor dieser Liebe kommen. Wenn du in die ewige Zukunft vorspulst, kannst du nie zu einer Stelle nach dieser Liebe gelangen. In Jesus haben wir ein Gottesbild, das mit nichts verglichen und durch nichts verbessert werden kann. Es besteht eine perfekte Einheit vor und hinter dem Universum: Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Christus ist außerdem auch nicht einfach nur gekommen, um uns dies zu zeigen. Der perfekte Sohn Gottes verbindet sich in der Taufe mit uns, damit wir uns mit ihm verbinden können. Er ist mit uns in Solidarität vereint, sodass wir uns mit ihm vereinen können. Im Wasser der Taufe sind wir eingeladen, mit Jesus zu stehen – unter einem offenen Himmel. Wir sehen, was Jesus sieht, und wir hören, was Jesus hört. In Christus empfangen wir seinen Geist als unseren Geist. Wir empfangen seinen Vater als unseren Vater. Und die Liebe der Ewigkeit wird zu unserer Liebe.

Jeder hat eine Art Gott. Wir glauben alle, dass irgendetwas das Beste ist. Und dieses Etwas formt alles, was wir tun, sagen, fühlen und denken. Somit ist die Frage nicht: Haben wir einen Gott? Die Frage ist: Welche Art von Gott haben wir? Mit Jesus sehen wir in den Himmel hinein – und der Blick ist atemberaubend.