Generation Angst

Rezension von Daniel Vullriede
31. Juli 2025 — 9 Min Lesedauer

Dass die Digitalisierung einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft hat, ist bekannt. Trotzdem ist nicht immer klar: Auf welche Art prägt das Digitale uns konkret? Und welche Alternativen würden unser Leben besser machen? Jonathan Haidt arbeitet als Professor für Sozialpsychologie an der New York University und forscht zu der Frage, wie die psychischen Grundlagen von ethischen Vorstellungen sowie von moralischen Emotionen entstehen oder sich verändern. In Generation Angst nimmt er dazu Familien, die junge Generation und die digitalisierte Gesellschaft in den Blick. Das Sachbuch gliedert seine zwölf Kapitel in vier Teile, die ich hier thematisch behandeln möchte.

Eine verrückte Vorstellung

Am Anfang lädt Haidt zu einem Gedankenexperiment ein: Wie wäre es, wenn ein visionärer Milliardär alle Kinder weltweit einladen würde, bei der Kolonisierung des Mars mitzumachen? Nun ja, das wäre ein extrem riskantes Projekt. Kein Elternteil würde seine Einwilligung für ein solches Massenexperiment geben.

Haidts These lautet jedoch, dass unzählige Eltern im Grunde etwas Ähnliches taten, als sie ihre Kinder den ausgeklügelten Angeboten und Online-Plattformen unterschiedlicher Tech-Konzerne überließen. In der weiteren Einleitung erklärt der Autor seine Kernthesen und zentrale Begriffe, auch einige Schlüsselargumente und Vorschläge für einen besseren Umgang mit dem Digitalen.

Wer keine Zeit hat, das komplette Buch zu lesen, wird bereits von dieser Einleitung enorm profitieren.

Besondere Entwicklungen

Teil 1 des Buches beschreibt die Entwicklung der seelischen Verfassung von jungen Menschen in den vergangenen 25 Jahren. Dabei lässt sich in den Statistiken ein internationaler Trend feststellen, nämlich dass Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen seit dem Jahr 2010 nachweislich zugenommen haben. Dies fällt mit der Masseneinführung von internetfähigen Mobiltelefonen zusammen, mit denen Teenager ihr soziales Leben immer weiter in das Digitale verlagert haben.

Teil 2 beschreibt ausführlich, wie sich die Erziehung in der westlichen Welt verändert hat. Haidt denkt hier sehr grundsätzlich: Im Gegensatz zu Tieren entwickelt sich der Mensch anfangs recht langsam, wobei die Einflüsse von Natur und Kultur ineinandergreifen. Junge Menschen befinden sich biologisch und psychologisch gesehen in einer sensiblen Phase, in der sie ihre Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst erst noch festigen müssen. Wenn sich aber die sozialen Kontakte und das Erlernen von allerlei notwendigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf internetfähige Geräte verlagern, dann wird es problematisch.

Der Professor ist davon überzeugt, dass eine spielbasierte Kindheit noch immer am besten dazu beiträgt, Kinder und Heranwachsende zur Reife anzuleiten und für das Leben fit zu machen.

Spannend ist Haidts These, dass Kinder „antifragil“ seien. Dazu hilft eine Veranschaulichung: Bäume, die ausschließlich in einer geschützten Umgebung wachsen, fallen eines Tages durch ihr Eigengewicht um. Tatsächlich brauchen sie Widerstand und Gegenwind, um Druckholz zu bilden, um ein stabiles Wurzelwerk zu entwickeln und gesund zu wachsen. Auf ähnliche Weise sollten Kinder eigene Grenzen austesten, von Rückschlägen lernen und einen robusten „Entdeckermodus“ entwickeln, so der Professor. Dies wird sie zu reifen Persönlichkeiten formen und auf das reale Leben vorbereiten. Umgekehrt seien die Überfürsorglichkeit vieler Eltern und ihr übertriebener Wunsch nach Sicherheit bzw. nach einem Minimum an Problemen kontraproduktiv. Wieso? Weil sie so den Kindern und Teens wichtige Erfahrungen vorenthalten. In diese Leerstelle sind dann leider auch die digitalen Technologien getreten, die die junge Generation in ihrer sensiblen Entwicklungsphase quasi „neu verdrahten“.

Neue Denk- und Lebensmuster

Teil 3 handelt von genau dieser Neuverdrahtung und beschreibt, auf welche Weise sich eine smartphonebasierte Kindheit durchgesetzt hat. Dass Heranwachsende täglich viele Stunden mit ihrem Smartphone verbringen, hat greifbare Folgen, von denen der Autor vier hervorhebt:

  1. Soziale Deprivation: Jugendliche verbringen weniger Zeit von Angesicht zu Angesicht mit ihren Freunden.
  2. Schlafmangel: Junge Leute schlafen heute nachweislich weniger und schlechter, was sich negativ auf ihre psychische Gesundheit, ihre Beziehungen und ihren Alltag auswirkt.
  3. Zerstückelung von Aufmerksamkeit: Für junge Leute ist es zunehmend mühsam, sich über eine längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren.
  4. Abhängigkeit: Während sich ihr Gehirn noch entwickelt, übernehmen Heranwachsende problematische Gewohnheiten, die ihnen persönlich, ihrer sozialen Entwicklung und ihren Familien schaden.

Außerdem geht Haidt darauf ein, weshalb Mädchen bei intensiver Nutzung primär unter den sozialen Medien leiden, während Jungs besonders im Bereich von Videospielen und Pornographie problematische Verhaltensmuster entwickeln.

Obwohl der Autor sich als Atheist bezeichnet, kommt er am Ende von Teil 3 auf die spirituelle Dimension des menschlichen Lebens zu sprechen. Hier argumentiert er recht pragmatisch: Seiner Überzeugung nach brauchen Menschen heilige, reine oder erhabene Dinge und Erfahrungen, die über sie selbst und ihr Leben hinausragen. Diese Sphäre bereichere das menschliche Leben, komme aber in der digitalisierten Gesellschaft massiv zu kurz, so Haidt. Konkret empfiehlt er sechs Praktiken, mit denen Menschen das eigene Leben verbessern und digitalen Prägekräften entgegenwirken können:

  1. Gemeinschaftliche Erlebnisse von Heiligkeit
  2. Die Körperlichkeit wahrnehmen und z.B. durch gutes Essen, Sport, Arbeit und synchrone Aktivitäten mit anderen Menschen fördern
  3. Innehalten, Schweigen und Konzentration üben
  4. Selbstvergessenheit fördern und Egozentrik verringern
  5. Nachsicht mit anderen Menschen trainieren
  6. In der Welt und Natur neu Ehrfurcht finden

Existentiell gedacht und doch ziemlich geradeaus schreibt der Professor:

„Da ist ein Loch, ein Leerraum in uns allen, den wir füllen wollen. Wenn er nicht mit etwas Noblem und Erhabenem gefüllt wird, dann wird ihn die moderne Gesellschaft rasch mit Müll vollpumpen. Das ist schon so, seit das Zeitalter der Massenmedien angebrochen ist, doch die Müllpumpe wurde in den 2010er-Jahren hundertmal leistungsfähiger. Es kommt darauf an, welchen Dingen wir uns aussetzen.“ (S. 269)

Einen besseren Weg wählen?

Abschließend widmet sich Teil 4 von Generation Angst der Frage, welche sinnvollen Veränderungen man angehen sollte. Haidt spricht sich insbesondere für gemeinschaftsorientierte Entscheidungen aus, die dann langfristige Veränderungen begünstigen. Dazu unterbreitet er Vorschläge für die Politik und Unternehmen, wie auch für Schulen und Eltern. Die sind teilweise sehr allgemein gehalten, leiten aber zum Handeln an. Hinter allem steht der Gedanke:

„Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind, nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken. Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit. Die Große Neuverdrahtung der Kindheit von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler.“ (S. 361)

Ausführliche Endnoten und ein Literaturverzeichnis bieten noch weiteres Material zur Vertiefung.

Ein wichtiges Buch

Jonathan Haidt greift eine globale Problematik auf. Dabei fragt er nach Ursachen, beschreibt Hintergründe und bietet überlegte Impulse für die Praxis. Beim Lesen fällt auf: Seine Argumentation ist in der Regel abwägend und überzeugend, offene Fragen benennt er relativ transparent. Dabei ergänzen Graphiken und Statistiken wichtige Passagen, was seinen Ausführungen eine zusätzliche Nachvollziehbarkeit verleiht. Ebenso findet sich am Ende jedes Kapitels eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte.

Das Buch ist gut lesbar, ohne dass der akademische Anspruch dahinter verloren geht. Wegen der Brisanz und Dringlichkeit des Themas wirken einige Abschnitte zugegeben etwas kernig formuliert, aber nie polemisch.

Der Autor schreibt in erster Linie als Sozialwissenschaftler mit einem Blick auf die Entwicklungen in Familie und Gesellschaft im globalen Westen. Weder spricht er neuen Technologien ihre Vorteile ab, noch will er pauschal jegliche Technologie verbannen. Dennoch benennt er sehr kritische Punkte und erklärt nachvollziehbar, warum sich viele junge Menschen heute nur unter großen Schwierigkeiten in der Welt zurechtfinden. Dabei ermutigt Haidt seine Leser dringend zu Verhaltensänderungen und zu verantwortungsvoller Eigeninitiative. So gesehen ist das Buch ein exzellenter Augenöffner. Inmitten einer Kultur der Digitalität wirbt es für ein Leben in Reife, Freiheit und Verantwortung.

Generation Angst und christliche Gemeinschaft

Wer sollte Generation Angst zur Hand nehmen? Insbesondere Eltern und Jugendleiter, christliche Pädagogen und Seelsorger, aber auch Pastoren und Gemeindeälteste können von dem Buch profitieren, indem sie die vielen guten Impulse für sich prüfen und für ihren Alltag weiterentwickeln. Dabei können kluge Ressourcen von christlichen Autoren (vgl. Brett McCracken, Samuel D. James, Tony Reinke, Sam Allberry, Nancy Pearcey) eine zusätzliche Hilfe sein, um bei dem Thema gemeinsam umzudenken und gemeinsam gute Veränderungen anzugehen. Auch werden aufmerksame Leser nach der Lektüre so manche Hindernisse für Katechese und Gemeindebau besser verstehen, die ein smartphonebasiertes Aufwachsen heutzutage mit sich bringt.

Für Christen ist Haidts Plädoyer eine grundsätzliche Erinnerung an ihr Menschsein: Niemand ist eine Insel. Wir brauchen einander. Doch Technologie kann unseren Hunger nach Annahme, nach Gemeinschaft und Sinn nicht stillen. Ja, es braucht verkörperlichte, synchrone Kommunikation in realen Begegnungen und dazu die stabile Zugehörigkeit zu einer menschlichen Gemeinschaft. So war das Leben von Anfang an gedacht. Ganz egal, wie sehr die Welt sich in Zukunft noch ändern wird – wir Menschen sind und bleiben Geschöpfe des Schöpfers in einer schönen, aber erlösungsbedürftigen Schöpfung.

Was folgt aus dem Ganzen? In erster Linie eine Frage, die sich uns in den Weg drängt: Wie können Christen und Ortsgemeinden heute die junge Generation (und nicht nur sie) positiv prägen und vom Evangelium her fördern, ohne vor der Riesenwelle der Digitalität einfach nur in Deckung zu gehen – oder unbedarft mitzuschwimmen?

Und vielleicht bleibt auch schon nach der Lektüre dieses Beitrags ein Gedanke besonders hängen. Wie wäre es, darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen – in der Familie, mit Freunden oder in der Gemeinde? Gerade als Christen dürfen wir uns daran erinnern lassen, dass wir echtes Leben und tiefe Gemeinschaft letztlich in der Beziehung zu dem dreieinigen Gott und zu anderen Menschen finden. Vielleicht ist es an der Zeit, sich Schritt für Schritt aus der digitalen Komfortzone herauszuwagen – hinaus in die Welt und zu den Menschen, im festen Vertrauen darauf, dass Gott uns dabei gütig und weise an die Hand nehmen wird. Es lohnt sich.

Buch

Jonathan Haidt, Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen, Hamburg: Rowohlt, 2024, 448 Seiten, 26,00 EUR.