Was ist Gebet?
Gebet wird nirgends in der Bibel ausdrücklich definiert, aber im Grunde geht es beim Gebet ums Bitten. Dies wird beispielsweise im Vaterunser (vgl. Mt 6,9–13) deutlich, wo Jesu Jünger ihn bitten, sie das Beten zu lehren. Jesus gibt ihnen an dieser Stelle einen Rahmen, wie sie für Gottes Wirken bitten sollen, damit er sein Reich baut, seinen Namen groß macht und ihnen, seinen Dienern, vergibt und Kraft schenkt. Ihr Bitten ist somit geprägt von Gottes bereits vorigem Handeln. Einfach ausgedrückt bedeutet beten, Gott zu bitten, das zu tun, was er in seiner Gnade schon zugesagt hat.
Das Gebet ist in der Bibel kein Allgemeinbegriff, der eine vage geistliche Aktivität beschreibt, sondern es ist fest verwurzelt im Wesen und Handeln Gottes. Johannes Calvin betont dies in seiner Erörterung über das Gebet in Unterricht in der christlichen Religion (III,20.1):
„Wie der Glaube aus dem Evangelium erwächst, so werden wiederum durch ihn unsere Herzen bereitet, Gottes Namen anzurufen (Röm. 10,14). Das gleiche hat [der Apostel] allerdings schon etwas vorher ausgeführt: Er spricht da von dem ‚Geist der Kindschaft‘, der das Zeugnis des Evangeliums in unserem Herzen versiegelt (Röm. 8,16), und sagt dann, dieser Geist richte auch unseren Geist darauf, so daß er nun wagt, Gott seine Gebetswünsche vorzulegen, er erwecke in uns ein ‚unaussprechliches Seufzen‘ (Röm. 8,26) und rufe mit Zuversicht: ‚Abba, lieber Vater!‘ (Röm. 8,15).“
Theologisch gesehen lädt uns Gott demnach durch das Evangelium dazu ein, an der Dreieinigkeit teilzuhaben. Dies geschieht durch das Einssein mit Christus, was beinhaltet, Gott, den Vater, zu bitten, bestimmte Dinge für uns zu tun, basierend auf der Tatsache, dass wir jetzt mittels der Adoption durch den Glauben an Jesu Sohnschaft teilhaben. Diese wiederum kommt uns durch die Kraft des Geistes zu. Die wiederholte Aufforderung zum Bitten in Matthäus 7,7–11 macht das sehr deutlich, insbesondere in der Zusicherung am Ende: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ (Mt 7,7) und „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben versteht, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten.“ (Mt 7,11). Dieses Bitten ist vom Evangelium geprägt und gelenkt, das heißt von dem, was Gott bereits zugesichert hat, für sein Volk zu tun. In der Regel richtet sich das Bitten durch den Sohn und in der Kraft des Geistes an den Vater.
Das Gebet im Alten Testament
Diese Auffassung des Gebets, d.h. Gott um das zu bitten, was er bereits versprochen hat, spiegelt sich fast an allen Stellen des Alten Testaments wider. Von 1. Mose 4,26 an, wo man anfing, „den Namen des HERRN anzurufen“ (1Mose 4,26), sind die Gebete von Gottes Volk im Wesentlichen vom Evangelium geprägt und wenden sich an Gott, damit er seine Verheißungen erfüllt.
Als Abraham und seine Familie beteten, baten sie Gott, zu seinen Bundesverheißungen zu stehen. Daher betet Abraham (törichterweise), dass Ismael sein Erbe sein möge (vgl. 1Mose 17,18). Sowohl der namenlose Diener Abrahams als auch Isaak selbst beten für Erfolg bei der Brautsuche in 1. Mose 24–25. Und in 1. Mose 32,10–13 betet Jakob auf einprägsame Weise zu dem „Gott meines Vaters Abraham und Gott meines Vaters Isaak, HERR, der du zu mir gesagt hast: Kehre zurück in dein Land und zu deiner Verwandtschaft, und ich will dir wohl tun!“ (V. 10). Dabei beruft er sich auf Gottes Verheißung, „deinen Samen [zu] machen wie den Sand am Meer, der wegen der Menge nicht zu zählen ist“ (V. 13). Jakob versteht das Gebet ganz klar als solches, Gott zu bitten, das zu tun, was er verheißen hat, was beinhaltet, ihn zu beschützen, damit sich die Verheißungen an seinen Großvater Abraham erfüllen können. Diese grundlegende Perspektive wiederholt sich in fast jedem Gebet der nachfolgenden Seiten.
2. Mose beginnt mit einem ähnlichen Gebet (vgl. 2Mose 2,23–25). Über die ganze Reise vom Sinai bis ins Land hinein sind die Austausche zwischen Mose und Gott vom Anliegen geprägt, dass Gott das vollbringt, was er verheißen hat (vgl. z.B. 4Mose 14,13–20). Josua macht da weiter, wo Mose aufhört (Jos 7,6–9). Das spiegelt sich im Gebetszyklus um Erlösung inmitten des Gerichts in Richter wider (siehe z.B. Ri 3,15). Gebet ist nie weniger (und selten mehr) als die Bitte an Gott, das zu tun, was er verheißen hat.
Das wird noch deutlicher, wenn man die „bekannten Gebete“ des Alten Testaments betrachtet. Hannas Gebet, als Gott ihre Unfruchtbarkeit beendete, konzentriert sich überraschenderweise nicht auf ihr eigenes Kind, sondern auf Gottes Zusage, in unserer Welt zu wirken, indem er einen Erlöser schickt (vgl. 1Sam 2,1–10). Als Salomo bei der Einweihung des Tempels betet (vgl. 1Kö 8), konzentriert er sich bemerkenswerterweise nicht auf die Ziegel und den Mörtel, sondern auf Gottes fortschreitendes Wirken in der Welt. Selbst wenn Hiskijas Gebete sich auf sein eigenes Unglück konzentrieren, verweist ihn Gott in seiner Antwort gnädig auf den Fortschritt seiner Pläne in der Welt. In ähnlicher Weise befassen sich die Gebete in Daniel 9 und Nehemia 9 kaum mit den Lebensumständen oder Bedürfnissen der einzelnen Betenden. Es sind vielmehr Rufe an den HERRN, seine Verheißungen auf der Bühne der Weltgeschichte weiter zu verwirklichen. Selbst die angsterfüllten „Bekenntnisse“ des Jeremia (vgl. z.B. Jer 12,1–12) rühren von der Tatsache her, dass Gott offenbar nicht tut, was er versprochen hat.
Das Buch der Psalmen leistet einen besonderen Beitrag zur Theologie des Gebets in der Bibel. Viele der Psalmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich direkt und persönlich an Gott wenden (siehe z.B. Ps 3,1; 4,1; 5,1 usw.). Zahlreiche dieser Psalmen sind davidisch und befassen sich zumindest anfangs mit den Anfechtungen des Gesalbten Gottes. Bei jedem davidischen Psalm, der ein Gebet ist, handelt es sich in erster Linie um sein Gebet. Bei näherer Betrachtung sind sowohl Davids Erlebnisse als auch die Art und Weise, wie er auf diese Erlebnisse reagiert, nicht dazu gedacht, die Allgemeinheit des Lebens auf dem Planeten Erde für die Menschen zu erfassen. Es geht vielmehr um die intensive Realität des Lebens als Gottes „Messias“, derjenige, der im Zentrum von Gottes Plänen auf der Erde und folglich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Gottes Feinden steht. Die Psalmen beten zu wollen, ohne dies zu berücksichtigen, ist ein Fehler! Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Im Psalter selbst gibt es auch eine Reihe von Gebeten, die vom Volk des Messias gebetet werden. Es fleht Gott an, das zu tun, was er sowohl den Patriarchen als auch seinem gesalbten König versprochen hat (siehe Ps 77; 103; 130). In diesem Sinne werden die Gebete des Messias zu den Gebeten des Volkes des Messias. Die „Lehre“ des Psalters über das Gebet ist also komplexer als oft angenommen, aber auch stärker mit der übrigen alttestamentlichen Lehre über das Gebet verwoben, als man meinen könnte. Das grundlegende Verständnis des Gebets in den Psalmen spiegelt sich in der Art und Weise wider, in der der König/Messias betet: Er bittet Jahwe, seine Verheißungen zu erfüllen. Dieses Grundverständnis des Gebetes findet sich auch in den Gebeten des Volkes des Messias wieder, das immer wieder darum bittet, dass Gott den ultimativen davidischen König sendet, sein Reich errichtet und die Völker zu ihm zieht.
Am Ende des Alten Testaments wird das Bedürfnis, zu Gott zu rufen und ihn anzuflehen, damit er handelt, sehr deutlich. Die Chronikbücher enthalten beispielsweise zehn weitere spezifische Gebete als die entsprechenden Abschnitte in den Königebüchern. In jedem Fall konzentrieren sich die Gebete darauf, Gott zu bitten, sein Werk in der Welt zu tun. Oder anders ausgedrückt: Die Gebete sind vom Evangelium geprägt.
Das Gebet im Neuen Testament
Es ist nicht verwunderlich, dass wir genau dasselbe Muster im Neuen Testament wiederfinden. Das Gebet, das durch das Evangelium ermöglicht und vom Evangelium geprägt ist, wirkt weiterhin auf genau dieselbe Weise.
Für Jesus besteht das Gebet im Wesentlichen darin, seinen Vater zu bitten, das zu tun, was er verheißen hat. Das „Vaterunser“ in Matthäus und Lukas ist die Vorlage für das Gebet des Neuen Bundes. Die einzelnen Bitten in Matthäus 6,9–13 (und Luk 11,2–4) sind allesamt Anliegen, die sich nahtlos in die offenbarten Absichten und Verheißungen Gottes in der bisherigen Schrift einfügen. Das Bitten als Antwort auf das Evangelium ist das Herz des Gebets. Wir können uns auf die erfreuliche Wahrheit stützen, dass wir laut Jesus keine Angst haben müssen, um etwas Falsches zu bitten. Vielmehr sind wir befreit, zu bitten in dem Wissen, dass unser Vater uns nichts geben wird, was uns schadet (vgl. z.B. Luk 11,5–13). Jakobus warnt allerdings davor, an Gottes Bereitschaft zu zweifeln, seine Verheißungen einzuhalten, wenn wir ihn bitten (vgl. Jak 1,5–6). Ebenso wenig dürfen wir versuchen, Gott etwas abzuringen, wenn er es nicht will (vgl. auch Luk 18,1–8, wo Gott dem ungerechten Richter entgegengesetzt wird, der erst durch hartnäckiges Drängen zum Handeln bewegt wird). Im Gegenteil: Wir dürfen all unsere Sorgen auf ihn werfen (vgl. 1Petr 5,7, was das Gebet zumindest einbezieht), im Wissen, dass sich Gott durch das Evangelium bereits dazu verpflichtet hat, unsere Gebete zu erhören.
Jesus stellt dies in der doppelten Verheißung von Johannes 14,13–14 unmissverständlich klar: „Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht wird in dem Sohn. Wenn ihr etwas bitten werdet in meinem Namen, so werde ich es tun.“ Der Zusammenhang macht deutlich, dass Jesus von Gottes offenbarendem Wirken spricht, durch das den Menschen die Augen geöffnet werden, damit sie seine Herrlichkeit erkennen. Als solche, die eingeladen sind, den Vater ebenso anzusprechen wie Jesus selbst (ihn „Abba, Vater“ zu nennen, vgl. Röm 8,15 und Gal 4,6), werden wir ermutigt, im Einklang mit seiner Mission und seinem Auftrag zu beten – nämlich das Werk zu tun, das der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Joh 14,10).
Wir werden nun als Söhne und Töchter ermutigt, Gott zu bitten, das zu tun, was er im und durch den Sohn verheißen hat, indem wir „im Namen Jesu beten“ (vgl. 2Kor 1,2; Eph 5,2). Im gesamten biblischen Zeugnis wird das Gebet stets als Bitte verstanden, dass Gott das tut, was er verheißen hat – sei es, den Messias zu senden und sein Königreich zu errichten oder die Gemeinde des Herrn Jesus Christus bis zu seiner Rückkehr weiter zu bauen. Im Wesentlichen sollen wir dafür beten, dass Gott sein Werk des Neuen Bundes durch das Evangelium vollbringt, nämlich durch sein Wort und durch seinen Geist.
Folgerungen
Dies wird bestätigt durch die konkreten Gebete, zu denen uns das Neue Testament ermutigt (Gebete, von denen wir mit Zuversicht erwarten dürfen, dass Gott sie erhört). Wir dürfen gewiss sein, dass Gott antworten wird…
- wenn wir darum beten, dass Gott sich selbst verherrlicht (vgl. Mt 6,9; Joh 17,5)
- wenn wir um Vergebung bitten (vgl. Mt 6,12; 1Joh 1,9; Jak 5,13–20)
- wenn wir darum beten, Gott besser kennenzulernen (vgl. Joh 17,3.24–26; Eph 1,15–22)
- wenn wir um Weisheit bitten (um zu erkennen, wie wir für Gott leben sollen, vgl. Jak 1,5–6)
- wenn wir um Kraft bitten, gehorsam zu sein und für Gott zu leben (vgl. Eph 3,14–21; Mt 6,11.13)
- wenn wir für die Ausbreitung des Evangeliums beten (vgl. Luk 10,2; Apg 4,27–29; Kol 4,3)
Gott verspricht, diese Gebete zu erhören, weil es in ihnen um das Werk des Evangeliums geht. Es sind allesamt Bitten, dass Gott sein Werk des Neuen Bundes durch sein Wort vollbringt.
Wir sollten auch bedenken, dass das Gebet eines Tages nicht mehr nötig sein wird. Das Gebet ist eine gnädige Gabe Gottes für das Leben in einer gefallenen Welt. In der neuen Schöpfung werden alle Verheißungen Gottes in Christus erfüllt sein. In seiner unmittelbaren Gegenwart wird kein Rufen zu ihm mehr nötig sein. Stattdessen wird es nur noch das ewige Genießen seiner Gegenwart geben (vgl. Offb 21,22–27).
Weiterführende Literatur
Auslegung
- D.A. Carson, A Call to Spiritual Reformation, Ada, MI: Baker Academic, 2015.
- J. Gary Millar, Calling on the name of the Lord: A Biblical Theology of Prayer, London: IVP Academic, 2016.
- Tim Chester, The Message of Prayer, London: IVP Academic, 2003.
Historische und Biblische Theologie
- D.A. Carson, Lernen zu beten: Geistliche Erneuerung durch Gebet, Waldems: 3L, 2017.
- Edmund Clowney, „Prayer”, in: New Dictionary of Biblical Theology, London: IVP Academic, 2000.
- Graham Goldsworthy, Prayer and the Knowledge of God, London: IVP Academic, 2004.
- Johannes Calvin, Unterricht der christlichen Religion, (siehe Buch III XX), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022.
Andachten
- Derek Thomas, Praying the Savior’s Way, Ross-shire: Christian Focus, 2001.
- J.I. Packer, Praying, London: IVP Academic, 2009.
- Paul Miller, A Praying Life, Carol Stream, IL: NAV Press, 2017.
- R.C. Sproul, Bringt Gebet etwas?, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2025.
- Timothy Keller, Beten: Dem heiligen Gott nahekommen, Gießen: Brunnen 2025.
- William Philip, Why we Pray, Wheaton, IL: Crossway, 2015.
Onlinequellen
- Andrew Wilson, „Why the Lord’s Prayer is So Offensive“, online unter: https://www.thegospelcoalition.org/article/why-lords-prayer-is-so-offensive/ (Stand: 26.06.2025).
- Don Whitney, „Pray the Bible“, online unter: https://vimeo.com/127494951 (Stand: 26.06.2025).
- Graham Goldsworthy, „A Biblical-Theological Perspective on Prayer“, online unter: https://www.trinitypacific.org/wp-content/uploads/sbjt_104_goldsworthy.pdf (Stand: 27.06.2025).
- R.C. Sproul, „Does Prayer Change God’s Mind?“, online unter: https://learn.ligonier.org/articles/does-prayer-change-gods-mind (Stand: 27.06.2025).
- Richard Gaffin, „The Poverty of Prayer“, online unter: https://wm.wts.edu/listen/the-poverty-of-prayer (Stand: 27.06.2025).
- Sinclair Ferguson, „Teach Us to Pray: The Model Prayer“, online unter: https://www.sermonaudio.com/sermons/fpc-011007 (Stand: 26.06.2025).
- Sinclair Ferguson, „The Lord’s Prayer“, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=6QRoxXMCLDs (Stand: 27.06.2025).
- Sinclair Ferguson, „What Is the Prayer of Faith?“, online unter: https://learn.ligonier.org/articles/prayer-faith (Stand: 27.06.2025).
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