Reformatorische Theologie: Was steckt dahinter?

Rezension von Boris Giesbrecht
17. Juli 2025 — 9 Min Lesedauer

Theologische Grabenkämpfe – viele Christen kennen sie: hitzige Diskussionen über Lehrfragen, Abgrenzungen zwischen Denominationen, manchmal auch gegenseitiges Unverständnis. Vor diesem Hintergrund weckte der Titel Reformatorische Theologie: Was steckt dahinter? sofort mein Interesse. Die Rückseite des Buches verspricht dann auch, „den Leser in einem fairen, gewinnenden und überzeugenden Ton herauszufordern“. Dieses Buch will auf die beobachtete Entwicklung reagieren, dass die reformatorische Theologie in den letzten Jahrzehnten verstärkt Einzug in vielen freikirchlichen Gemeinden gehalten hat. Als Leser mit reformatorischem Hintergrund frage ich mich: Wird dieses Versprechen eingelöst? Und wie gelingt der Blick auf die reformatorische Theologie aus einem theologischen Kontext, der historisch und geistlich ganz anders geprägt ist?

Der Autor und sein Anliegen

Der Autor, Stephan Isenberg, ist in den Brüdergemeinden verwurzelt und seit Jahren als Lehrer und Referent im brüdergemeindlichen Kontext aktiv. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, die sich mit theologischen und biblischen Themen auseinandersetzen (u.a. zur Heilsgewissheit). Neben seiner vollzeitlichen Tätigkeit im EDV-Bereich ist er Mitgründer und Mitredakteur der Internetseite www.soundwords.de, die sich dem Bibelstudium widmet und eine Vielzahl von Artikeln, Audios und Videos zur Verfügung stellt. Er betreibt außerdem die evangelistische Seite www.fbibel.de.

Der Untertitel Persönliche Beobachtungen von Stephan Isenberg mit einem Vorwort von Benedikt Peters signalisiert: Hier geht es weniger um eine systematisch-theologische Abhandlung im akademischen Sinne als um eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Tatsächlich: Isenberg schreibt mit einem erkennbaren Anliegen. Er will den geistlichen Reichtum seiner eigenen Glaubensprägung sichtbar machen – und ihn in den Dialog mit reformatorischem Denken bringen.

Es verlangt Mut, sich inmitten tief verwurzelter theologischer Grabenkämpfe und historischer Spannungen mit kontroversen Fragen auseinanderzusetzen. Allein diese Bereitschaft, sich dem Dialog zu öffnen und unbequeme Fragen aufzugreifen, verdient Anerkennung. Besonders lobenswert ist Isenbergs klare Betonung in den Vorbemerkungen, dass Theologie keine bloße Theorie bleibt, sondern ganz konkret das Leben prägt. Er erinnert daran, dass jedes Handeln im Denken beginnt und damit auch die theologischen Überzeugungen tiefgreifende Auswirkungen auf den Alltag und die Glaubenspraxis haben. Daher lohnt sich die Auseinandersetzung mit theologischen Themen. Erfreulich ist auch, dass Isenberg trotz seiner kritischen Perspektive zu Beginn und auch im Abschlusskapitel Gemeinsamkeiten mit der reformatorischen Lehre anerkennt und damalige sowie heutige Theologen reformatorischer Prägung für Hingabe, Treue und Einsatz wertschätzt.

Zwei ganz unterschiedliche Lehrsysteme

Im Buch gliedert Stephan Isenberg seine Ausführungen an zentralen Themen brüdergemeindlicher Theologie. So widmet er sich unter anderem der Unterscheidung von Israel und Gemeinde, der Hermeneutik prophetischer Schriften, dem Neuen Bund sowie kontroversen Themen wie der Entrückung vor der Drangsal, dem Tausendjährigen Reich, der begrenzten Sühne und der doppelten Prädestination. In jedem Kapitel beginnt Isenberg mit einer kurzen Darstellung der reformatorischen Lehrmeinung zu dem jeweiligen Thema. Anschließend stellt er dieser seine eigene brüdergemeindliche Position gegenüber, wobei er stets versucht, seine Sicht durch biblische Argumente zu untermauern. Dieses Vorgehen erlaubt dem Leser, sowohl die reformatorischen Grundsätze als auch die kritischen Anmerkungen und Alternativvorschläge des Autors nachzuvollziehen und miteinander zu verbinden.

Im Verlauf des Buches wird deutlich, dass die Unterschiede zwischen reformatorischer Theologie und der vom Autor vertretenen Sichtweise nicht nur einzelne Lehrfragen betreffen, sondern tiefer liegen – nämlich in der grundlegenden Art, wie die Bibel gelesen und ausgelegt wird. Es handelt sich um unterschiedliche hermeneutische Zugänge, die bereits auf der Ebene der Schriftinterpretation zu finden sind. Hier wird die Zuordnung in Bundestheologie einerseits oder dem Dispensationalismus andererseits deutlich. Immer wieder betont Isenberg daher zurecht, dass die theologischen Lehren nicht isoliert betrachtet werden können, sondern eng in Zusammenhang stehen: Eine bestimmte Sichtweise in einem Bereich zieht notwendigerweise Konsequenzen in anderen Bereichen nach sich. Dieses systemische Denken zeigt, wie stark die jeweiligen Gesamtsysteme verwoben sind – und wie eine abweichende Prämisse an einem Punkt das ganze Lehrgebäude beeinflussen kann. Genau hier wird der eigentliche Bruch zwischen den theologischen Traditionen greifbar. Meines Erachtens zeigt Isenberg mit diesem Buch insgesamt zurecht auf, dass es sich dabei um die Schlüsselfragen handelt, die jeweils unterschiedlich beantwortet werden: Was ist die Hermeneutik beim Lesen der Bibel? Was ist die Beziehung zwischen den Bünden? Wie ist das Verhältnis von Israel zur Gemeinde? Was ist das Reich Gottes?

Die Darstellung der reformatorischen Sicht

Konnte das Buch meine Erwartungen erfüllen? Als jemand, der sich selbst dem reformatorischen Lager zuordnet, habe ich das Buch mit dem Wunsch gelesen, sowohl Verständnis für eine andere Perspektive zu gewinnen, als auch die eigene korrekt dargestellt zu sehen. Am Ende habe ich den Eindruck, die Perspektive eines Autors aus der Brüderbewegung kennengelernt zu haben, ohne aber mein eigenes Verständnis in der Darstellung der reformatorischen Position wiederzufinden.

Ein Grund dafür ist womöglich die fehlende Beschreibung, was unter „reformatorischer Theologie“ eigentlich zu verstehen ist. Ist reformiert und reformatorisch dasselbe? Eine klare Gegenüberstellung mit Bekenntnisschriften der Reformationsbewegung wäre nützlich gewesen. Bekenntnisse wie der Heidelberger Katechismus oder das Westminster Bekenntnis hätten eine hilfreiche Grundlage geboten, um die behandelten Themen theologisch fundiert und repräsentativ darzustellen. Sie fassen die reformatorische Lehre systematisch zusammen und bieten einen verbindlicheren Maßstab als die teils selektive Bezugnahme auf einzelne Theologen. Insgesamt konzentriert sich die Auswahl der theologischen Bezüge stark auf Vertreter wie Wayne Grudem und R.C. Sproul sowie gelegentlich noch Martyn Lloyd-Jones, wodurch die Vielfalt reformatorischer Stimmen und Traditionen nur unzureichend abgebildet wird. Statt lediglich ausgewählte Stimmen zu zitieren, hätte eine Auseinandersetzung mit den Bekenntnissen geholfen, die Positionen der Reformation differenzierter und verlässlicher zu erfassen – gerade im Blick auf kontroverse Themen wie Prädestination, Gesetz und Evangelium oder den Neuen Bund. Zwar greift der Autor in der Sabbatfrage explizit auf das Westminster Bekenntnis zurück (S. 15 und S. 106), doch handelt es sich dabei ausgerechnet um einen Bereich, der innerhalb der reformatorischen Perspektive selbst umstritten ist – was eine vertiefte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen umso wichtiger gemacht hätte.

Ein weiterer Grund liegt in der Kürze, mit der die reformatorischen Positionen oft dargestellt werden. Zwar gesteht der Autor auch immer wieder selbst ein, dass es innerhalb der reformatorischen Welt unterschiedliche Sichtweisen gibt. Doch diese Vielfalt bleibt in der Ausarbeitung häufig eher angedeutet statt ausgeführt.

Die Größe der Kluft zwischen Brüdern und Reformierten

Auch aus einem anderen Grund lässt mich das Buch eher fragend zurück: Ist der Unterschied zwischen der Brüderbewegung und der reformatorischen Theologie wirklich so grundlegend, wie es hier teilweise den Anschein hat? Das Buch Die Brüder und die Lehren der Gnade[1] bietet in dieser Hinsicht aufschlussreiche Einblicke. Es zeigt, dass die Gründer der Brüderbewegung in Fragen der Errettung der reformatorischen Theologie wesentlich näher standen, als es den Anschein beim Lesen des hier rezensierten Buches hat. Diese Gemeinsamkeiten treten in Isenbergs Darstellung jedoch in den Hintergrund.

Dazu kommt, dass einige der im Buch behandelten Themen – etwa die Frage nach dem Zeitpunkt der Entrückung – sich nicht einfach als Gegensatz zwischen reformatorischer Theologie und Brüderbewegung einordnen lassen. Vielmehr handelt es sich dabei um Debatten, die auch innerhalb des dispensationalistischen Spektrums selbst geführt werden. Die Vielfalt der Positionen gerade zu endzeitlichen Fragen zeigt, dass es nicht nur zwischen den theologischen Lagern Unterschiede gibt, sondern auch innerhalb der beiden Strömungen keine einheitliche Sicht existiert.

Wichtige reformatorische Lehren

Auch inhaltlich sehe ich Anlass zur kritischen Rückfrage an die Darstellung der reformatorischen Position. Dies betrifft unter anderem den Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Gottes Souveränität und menschlicher Verantwortung. Der Autor erweckt stellenweise den Eindruck, die reformatorische Theologie löse dieses Spannungsverhältnis zulasten der menschlichen Verantwortung auf. Doch genau das ist nicht der Fall: Vielmehr betont die reformatorische Theologie, dass Gottes souveränes Eingreifen unverzichtbar ist, damit ein Mensch seiner Verantwortung vor Gott nachkommen kann.

Die abschließende Einschätzung des Autors, die reformatorische Theologie trage kaum dazu bei, den „unergründlichen Reichtum“ des Evangeliums erfahrbar zu machen, sehe ich kritisch und kann sie aus meiner eigenen theologischen Perspektive nicht teilen.[2] Solche Urteile werden meines Erachtens der geistlichen Tiefe und der historischen Wirkungskraft der Reformation nicht gerecht. Besonders irreführend erscheint mir die Formulierung, die Reformation habe die Gläubigen in eine Stellung „vor Adam“ zurückversetzt (S. 122) oder ihre Theologie „verleihe dem Christentum einen gesetzlichen Charakter“ (S. 116). Diese Aussagen sind nicht nur irreführend, sondern auch theologisch verkürzt. Sie verkennen das reformatorische Ringen um die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die befreiende Kraft der Gnade, wie sie etwa bei Luther und Calvin zentral zum Ausdruck kommt. Auch aus reformatorischer Perspektive ist die Neuschöpfung nicht einfach eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes von Adam vor dem Sündenfall, sondern vielmehr eine Vollendung und Überbietung dieses Zustandes.

Der Autor selbst räumt ein: „Es wird für den in diesen Fragen geübten Leser wohl kaum große Neuigkeiten geben. Der Wert liegt mehr in der kurzen und hoffentlich prägnanten Zusammenstellung wichtiger Themen.“ Immer wieder verweist er auf weiterführende Ausarbeitungen, etwa auf seiner Website oder in seinem Buch Der vergessene Reichtum. Und mit Blick auf Suchende oder Unentschlossene formuliert er hoffnungsvoll: „Der unentschiedene oder fragende Leser mag in dieser Lektüre einige wesentliche Punkte finden, die es wert sind, tiefer erforscht zu werden.“ Aus reformatorischer Sicht bleibt dabei jedoch der Wunsch, dass fragende Leser zusätzlich auch zu Überblickswerken greifen, die reformatorische Positionen aus erster Hand oder in ihrer ganzen Tiefe darstellen – etwa auf Basis der historischen Bekenntnisschriften oder in repräsentativen Einführungen in die reformierte Theologie.

Fazit

Trotz der genannten Kritikpunkte bietet das Buch eine anregende Perspektive – besonders für Leser aus der Brüderbewegung oder jene, die ihre Sichtweise besser verstehen möchten. Isenbergs detaillierte Schriftbezüge zeigen, warum diese Tradition für ihre Bibelfestigkeit geschätzt wird – auch wenn manche Schlussfolgerungen aus reformatorischer Sicht weiterer Diskussion bedürfen. Wer jedoch eine fundierte und ausgewogene Darstellung, wie reformatorische Theologie biblisch begründet werden kann, erwartet, wird ergänzend auf reformatorische Bekenntnisschriften oder einführende Literatur zurückgreifen müssen.[3] Zugegeben: Es war auch nicht die Zielsetzung des Autors, Andersdenkende zu überzeugen.

Buch

Stephan Isenberg, Reformatorische Theologie: Was steckt dahinter?, Lychen: Daniel-Verlag, 127 Seiten, 9,90 EUR.


1 Mark R. Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade: Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre?, Bielefeld: CLV, 2019.

2 John Owens Buch Die Herrlichkeit Christi könnte ihr als Gegenbeleg angeführt werden.

3 Z.B. Benjamin L. Merkle, Discontinuity to Continuity: A Survey of Dispensational and Covenantal Theologies, Bellingham, WA: Lexham Press, 2020.