Kevin DeYoung über Heiligung: „Es ist wichtiger, wohin man geht, als wo man steht“

Artikel von Kevin DeYoung
14. Juli 2025 — 12 Min Lesedauer

Vor einigen Jahren, nicht lange nach meiner Ordination, stieß ich auf 1. Timotheus 4,15. Diese Stelle war für mich sowohl tröstlich als auch etwas entmutigend. Ich hatte diesen Vers nicht zum ersten Mal gelesen, aber es war das erste Mal, dass Gott mir die Augen für seine Bedeutung für mein Leben und meinen Dienst öffnete.

Die meisten Pastoren sind mit 1. Timotheus 4,16 vertraut: „Hab acht auf dich selbst und auf die Lehre.“ Das ist das Leitbild für unseren Dienst: Über unser eigenes Leben und die Lehre zu wachen. Ich kannte Vers 16, Vers 15 hingegen hatte ich nicht besonders beachtet: „Dies soll deine Sorge sein, darin sollst du leben, damit deine Fortschritte in allen Dingen offenbar seien!“ Mir fiel der letzte Teil über die Fortschritte ins Auge. In Kapitel 3 legt Paulus hohe Anforderungen an Älteste und Diakone fest. Und dann fordert er den jungen Timotheus in Kapitel 4 auf, „den Gläubigen ein Vorbild im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Geist, im Glauben, in der Keuschheit“ zu sein (1Tim 4,12). Ist das nicht etwas heftig? „Hey, Timotheus, ich weiß, dass du gerade erst dein Theologiestudium abgeschlossen hast, aber ich will, dass du in so ziemlich jedem Bereich deines Lebens ein Vorbild bist.“ Das kann einem Angst machen. Doch dann kommt der Satz über den Fortschritt in Vers 15. Offenbar bedeutet bei Paulus, „ein Vorbild zu sein“, nicht, „alles beim ersten Mal richtig zu machen“.

Vers 15 kann als Ermutigung oder Entmutigung verstanden werden. Ich war entmutigt, weil ich mir vorstellte, dass die Menschen in fünf Jahren erkennen würden, wie wenig reif, fähig und gottesfürchtig ich damals war. Der Gedanke, später auf mein jetziges Ich zurückzublicken und froh zu sein, dass ich nicht mehr ganz derselbe bin, ist schon etwas bedrückend. Vor allem soll Vers 15 jedoch ermutigen. Er bedeutet, dass ich ein Ältester sein und mit meinem Leben ein Beispiel geben kann, ohne bereits ganz „fertig“ zu sein. Ich darf wachsen. Ich darf reifen. Ich darf heiliger werden, als ich es jetzt bin. Mein Verhalten und meine Lehre können sich entwickeln. Fortschritt ist nicht nur etwas, was Gott von mir erwartet, sondern auch etwas, was er mir erlaubt.

Das bringt uns zu einem der wichtigsten Axiome von Heiligkeit: Wenn es um Heiligung geht, ist es wichtiger, wohin man geht, als wo man steht. Die Richtung zählt mehr als die Position. Dein zukünftiger Fortschritt sagt mehr aus als deine gegenwärtige Lage. Also Kopf hoch: Wenn du noch nicht so heilig bist, wie du es gerne wärst, kann Gott trotzdem mit dir zufrieden sein, weil du in die richtige Richtung gehst. Aber sei auch gewarnt: Wenn du nicht mehr so heilig bist, wie du es einmal warst, wird Gott von deinen früheren Triumphen weniger beeindruckt sein, wenn du in den letzten Monaten nichts anderes getan hast, als aufzugeben.

Es ist natürlich leichter gesagt als getan, seine Fortschritte im Streben nach Heiligkeit zu messen. Zunächst einmal sollte man nicht täglich seine geistliche Temperatur messen. Fortschritte werden über Monate und Jahre hinweg festgestellt, nicht nach Minuten und Stunden. David Powlison vergleicht Heiligung mit jemandem, der mit einem Jo-Jo die Treppe hinaufgeht. Es gibt viele Höhen und Tiefen, aber letztlich lässt sich Fortschritt beobachten. Hänge dich also nicht an der Frage auf, ob der Dienstag heiliger war als der Mittwoch. Betrachte deine Entwicklung in den letzten fünf Monaten oder besser noch in den letzten fünf Jahren. Das gilt übrigens auch für die Einschätzung anderer. Kritisiere nicht voreilig den geistlichen Fortschritt anderer, ohne zu wissen, wie weit sie gekommen sind und in welche Richtung sie unterwegs sind.

Das führt zu einem weiteren Punkt: Scheue dich nicht, das geistliche Thermometer jemand anderem zu geben. Vers 15 geht davon aus, dass andere Christen unsere Fortschritte bemerken werden. Ein ehrlicher, kritischer Freund kann unsere geistliche Gesundheit oft besser einschätzen als wir selbst. Er sieht unsere allgemeine Entwicklung, während du vielleicht nur den heutigen Misserfolg wahrnimmst. Wir sollten bedenken, dass fast alle Heiligen bezeugen, dass sie mehr von ihrer Gottlosigkeit erkennen, je näher sie Gott kommen. Es ist normal, sich weniger heilig zu fühlen, während man heiliger wird. Wenn man sich der Sünde in seinem Leben bewusster wird, ist das normalerweise ein Zeichen für das heiligende Wirken des Geistes, nicht für seinen Rückzug. Wenn es darum geht, die eigene Heiligung zu erkennen, ist es nicht immer das Beste, sich auf die eigene Einschätzung zu verlassen. Frage deinen Partner, deinen Mitbewohner, deinen Vater, deinen Pastor oder deinen besten Freund: Kannst du Fortschritte bei mir sehen?

Buße als Lebensstil

Wenn das Streben nach Heiligkeit Fortschritt bedeutet – mit Höhen und Tiefen, mit Siegen und Niederlagen, oder Zeiten, in denen es zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurückgeht –, dann erfordert es auch Buße. In der ersten der 95 Thesen Martin Luthers heißt es: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Heiligung besteht also mehr aus Buße als aus Vollkommenheit. Natürlich ist Vollkommenheit nichts Schlechtes. Das griechische Wort, das manchmal mit „vollkommen“ (teleios oder teleioō) übersetzt wird, bedeutet im Grunde „qualifiziert“, „reif“ oder „erfüllt“ (Vgl. Kol 1,28; 4,12; Hebr 2,10; Jak 1,4). In einem Sinne sollen Gläubige also „vollkommen“ sein. In biblischer Hinsicht bedeutet dies jedoch niemals völlige Sündlosigkeit in Gedanken oder Taten. Was auch immer man von Römer 7 halten mag (wo es meiner Ansicht nach um Paulus’ eigenen Kampf mit der Sünde geht), es ist unbestreitbar, dass selbst die stärksten Gläubigen manchmal Dinge tun, die sie nicht tun wollen, und dass sie versäumen, das zu tun, was sie tun wollen. Die Bibel ist eindeutig – außer Jesus wird niemand in diesem Leben ohne Sünde sein (Vgl. Hebr 4,15). „Es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt“ (1Kön 8,46). Es ist „kein Mensch auf Erden so gerecht ..., dass er Gutes tut, ohne zu sündigen“ (Pred 7,20). „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1Joh 1,8). Angesichts dieser Tatsachen müssen wir erkennen, dass Heiligkeit hier auf der Erde Buße beinhalten muss.

Das gilt insbesondere, weil diejenigen, die am eifrigsten danach streben, heilig zu sein, oft am anfälligsten für Urteilsdenken und Arroganz sind. Jeder, der die Vorstellung von persönlicher Heiligkeit schätzt (ganz zu schweigen von denen, die Bücher darüber schreiben), sollte die Worte von Andrew Murray beachten: „Es gibt keinen Stolz, der so gefährlich ist, keinen, der so subtil und heimtückisch ist, wie der Stolz auf die eigene Heiligkeit.“[1] Es ist nicht so, dass man es jemals laut aussprechen würde, aber in manchen Christen wächst ein Überlegenheitsgefühl im Gedanken daran, wie weit sie im Vergleich zu anderen fortgeschritten sind. Man kann auch aus Stolz nach Heiligkeit streben – oder aus Demut, um dann aber bei Erfolg stolz zu werden. Nicht umsonst erwartet Jesus von seinen Nachfolgern, dass sie in ihren Gebeten regelmäßig um Vergebung bitten (vgl. Mt 6,12). Buße ist ein Lebensstil für heilige Kinder Gottes.

Es mag nicht intuitiv erscheinen, einen Text über Heiligkeit mit einem Abschnitt über Buße abzuschließen. Das wirkt schwach und verzagt – als würde man einem trockenen Alkoholiker sagen, was er gegen seinen nächsten Kater tun soll. Doch wenn Buße für uns eher nach Eingeständnis von Sündhaftigkeit klingt als nach einem Merkmal von Heiligkeit, dann haben wir Buße nicht ausreichend verstanden. Es ist eine Sache, sich die Seele aus dem Leib zu sündigen, eine Entschuldigung zu murmeln und weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Eine ganz andere Sache ist es, seine Sünde zu hassen, zu Gott zu schreien und eine geistliche Kehrtwende zu vollziehen. Echte Reue ist harte, schmerzhafte Arbeit. Wie Thomas Brooks es anschaulich formulierte: „Buße ist das Erbrechen der Seele.“[2] Es ist nichts Angenehmes dabei. Ich kann mir keine körperliche Empfindung vorstellen, die ich unangenehmer finde. Erbrechen ist kein Plan B, kein Mittel, auf das ich mich später immer verlassen kann. Wenn ich mich übergebe, weiß ich, dass ich eine Grippe oder Migräne habe oder dass ich zu viel Fast Food gegessen habe. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.

Echte Buße ist ähnlich. Sie ist keine bequeme Fluchtmöglichkeit nach einem Wochenende (oder einem Leben) voller Sünde. Buße bedeutet, konkrete Fehltritte zuzugeben, zu erkennen, dass man Gott beleidigt hat, seinen Kurs zu ändern, sich Christus zuzuwenden und von ganzem Herzen zu wünschen, dass man die Sünde, die man jetzt verachtet, nie begangen hätte. Oder wie Calvin es ausdrückt:

„Buße ist die wahre Hinkehr unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfaßt einerseits das Absterben unseres Fleisches und des alten Menschen, anderseits die Lebendigmachung im Geiste.“[3]

Sich zu übergeben ist nicht angenehm. Genauso wenig wie Buße. Aber das eine ist viel fruchtbarer als das andere.

Zur Schönheit heranwachsen

Während meines Studiums sprach ich einmal mit einem älteren christlichen Mann über meine Pläne, in den Gemeindedienst zu treten. Im Laufe unseres Gesprächs zitierte er einen Satz, den ich nie vergessen habe. Er stammt von Robert Murray M’Cheyne, einem schottischen Prediger aus dem neunzehnten Jahrhundert, der im Alter von neunundzwanzig Jahren starb. Diesen Satz habe ich wahrscheinlich öfter wiederholt als jeden anderen (außerhalb der Bibel): „Der große Bedarf meines Volkes ist meine eigene Heiligkeit.“ In vieler Hinsicht ist das Evangelium wichtiger als Heiligkeit, denn die Gute Nachricht von Christi Tod und Auferstehung ist auch dann gut, wenn die Person, die sie verkündet, ein Schuft ist. Vielleicht hätte M’Cheyne also sagen sollen: „der zweitgrößte Bedarf“. Aber er hat absolut recht, was die Bedeutung der Heiligkeit angeht. Er verstand ihre Unverzichtbarkeit. Wir mögen vielleicht denken, Relevanz und Beziehungsfähigkeit seien die Geheimnisse von geistlichem Erfolg, doch in Wahrheit hat es unsere sterbende Welt viel nötiger, dass wir nahe bei Gott sind, als dass wir ihr selbst nahe sind. Das gilt für die Pastoren oder Prediger unter uns, aber auch für Mütter, Väter, Geschwister, Kinder, Großeltern, Freunde, Leiter von Kleingruppen, Informatiker, Bankangestellte, Baristas oder Geschäftsführer. Deine Freunde und Familie, deine Kollegen und Kinder – sie brauchen nicht, dass du Wunder vollbringst oder unsere Zivilisation veränderst. Sie brauchen es, dass du heilig bist.

Horatius Bonar (ein anderer schottischer Prediger und ein Freund von M’Cheyne) erinnert uns daran, dass Heiligkeit nicht an „einer großen Heldentat oder einem mächtigen Martyrium“ gemessen wird. „Es sind die kleinen Dinge, aus denen ein großes Leben besteht.“[4]

Heiligkeit ist die Summe von Millionen kleiner Dinge – das Vermeiden von kleinen Übeln und Schwächen, das Ablegen von kleinen weltlichen Neigungen und Kompromissen, das Ablegen von kleinen Ungereimtheiten und Indiskretionen, die Aufmerksamkeit auf kleine Pflichten und Handlungen, die harte Arbeit an kleinen Selbstverleugnungen und Selbstbeschränkungen sowie die Pflege von kleinen Wohltaten und Nachsichtigkeiten. Kann man sich auf dich verlassen? Bist du gütig? Bist du geduldig? Fröhlich? Liebst du? Diese Eigenschaften, die in all den kleinen Dingen des Lebens zum Tragen kommen, bestimmen, ob du für alle um dich herum ein Schandfleck oder ein Segen bist, ob du wie ein hässlicher geistlicher Makel aussiehst oder zu einem schön aussehenden Christen heranwächst.

Wir leben in einer Welt, die von oberflächlicher Schönheit besessen ist. Ob in den Nachrichten oder auf dem Wetterkanal, die Welt erwartet ein bestimmtes Aussehen. Die Botschaft, die uns überall umgibt, lautet, dass man nicht gut genug ist, wenn man nicht gut aussieht. Und so streben wir alle nach Schönheit – von geschminkten Zehnjährigen über Abiturienten in Hipster-Klamotten, Müttern, die zu Hause bleiben und eine neue Diät probieren, bis hin zu Vätern mittleren Alters, die wieder ins Fitnessstudio gehen, und alten Babyboomern, die sich Botox spritzen lassen. Aber was ist wahre Schönheit? Was ist es wirklich wert, betrachtet zu werden? Wer hat ein Aussehen, das wirklich nachahmenswert ist? Paulus sagt: „Werdet meine Nachahmer, ihr Brüder, und seht auf diejenigen, die so wandeln, wie ihr uns zum Vorbild habt“ (Phil 3,17). Gott will Gottesfurcht sehen. Der bestaussehende Christ ist derjenige, der durch den Geist Christus ähnlich wird. Es ist allzu üblich, Heiligkeit als eine Art hochnäsigen Gutmenschentums, prüden Moralismus oder hässlicher Gesetzlichkeit zu betrachten. Doch all dies sind unglückliche Karikaturen, die unseren Sünden, unserem Misstrauen und den Lügen des Teufels geschuldet sind. Wahre Heiligkeit „ist die schönste Zierde und die herrlichste Schönheit, die man im Menschen finden kann“.[5] Lasst uns dies in Christus sehen und ihm gleich in der Herrlichkeit werden (vgl. 2Kor 3,18).

Gott möchte, dass du heilig bist. Durch den Glauben sieht er dich bereits als heilig in Christus an. Jetzt will er dich mit Christus heilig machen. Das ist keine Option, keine Nebensache. Gott hat dich gerettet, um dich zu heiligen. Gott ist dabei, dich schöner zu machen, Flecken abzuwaschen und Falten zu glätten. Er wird eine makellose Braut haben. Er verspricht, in dir zu wirken, und ruft dich auf, auch selbst daran zu arbeiten. Die heilige Schönheit gehört in erster Linie dem Herrn (vgl. Ps 29,2). Doch durch seine Gnade kann sie auch dir gehören.


1 Andrew Murray, Humility, New Kensington: Whitaker, 1982, S. 56.

2 Thomas Brooks, Precious Remedies against Satan’s Devices, Edinburgh: Banner of Truth, 1997 [1652], S. 63.

3 Johannes Calvin, Institutio 3.3.5.

4 Horatius Bonar, God’s Way of Holiness, Lexington: Legacy Publications, S. 82–83. Der folgende Absatz ist eine Zusammenfassung von Bonars Beschreibung der „Heiligkeit in kleinen Dingen“.

5 Wilhelmus A. Brakel, The Christian’s Reasonable Service, Grand Rapids: Reformation Heritage Books, 1994, Bd. 3, S. 17.